Einleitung
»Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden.« Deshalb sei auch niemand »der Beschäftigung mit seiner trüben Figur enthoben«, schrieb Thomas Mann in seinem 1939 publizierten Essay »Bruder Hitler«.[1] Dennoch hätte man erwarten können, dass mit wachsendem zeitlichem Abstand vom »Dritten Reich« das Interesse an dem großen Unheilbringer der deutschen Geschichte allmählich abflauen würde. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik ist auch eine Geschichte der periodisch wiederkehrenden Hitler-Wellen. Seit der Jahrtausendwende scheint die obsessive Beschäftigung eher noch zugenommen zu haben. »So viel Hitler war nie«, eröffnete der Jenaer Historiker Norbert Frei sein Buch »1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen«, das 2005, im Jahr des 60. Gedenkens an das Ende der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, erschien.[2] Tatsächlich war die mediale Präsenz des Themas ohne Beispiel. Ob im Fernsehen oder im Kino, auf dem Titel illustrierter Magazine oder in historischen Büchern – überall begegnete man der Gestalt des »Führers«. Und nichts spricht dafür, dass dies 2015, anlässlich der 70. Wiederkehr des Kriegsendes, anders sein wird.
Längst hat sich eine weltweite Unterhaltungsindustrie des Gegenstands bemächtigt, hat sich Hitler in eine Art »Pop-Ikone des Grauens« verwandelt, die, marktschreierisch ins Bild gesetzt, die größten Schauereffekte verspricht. Denn nach wie vor ist der »Führer« der Nationalsozialisten, der die Geschicke Deutschlands und der Welt zwölf Jahre lang maßgeblich bestimmt hatte, »die härteste aller Drogen, die Aufmerksamkeit produzieren«.[3] In ihrem Erregungspotential ist seine Schreckensgestalt von keiner anderen historischen Figur, Stalin eingeschlossen, zu übertreffen. Und das hängt natürlich mit der monströsen Dimension der Verbrechen zusammen, die unter seiner Herrschaft nicht »im deutschen Namen«, sondern von Deutschen verübt worden sind.
Parallel zum Unterhaltungsmarkt, und weitgehend davon unberührt, hat die internationale Geschichtswissenschaft die Untersuchungen über Hitler und den Nationalsozialismus vorangetrieben. Kein historischer Gegenstand scheint in allen seinen Winkeln und Verästelungen besser erforscht als dieser; die Literatur darüber füllt inzwischen ganze Bibliotheken. Gleichwohl hält das Interesse auch der Fachhistoriker an der »trüben Figur« unvermindert an. Die Rätselhaftigkeit der Erscheinung Hitlers, die Frage, wie und warum er zur Macht kommen und sie mehr als ein Jahrzehnt lang ausüben konnte – mit den bekannten katastrophalen Folgen –, verlangen stets aufs Neue nach Erklärungen. An Versuchen, sich dem »Phänomen« auf biographischem Wege anzunähern, fehlt es nicht, und doch gibt es unter der Vielzahl der Darstellungen nur wenige, eigentlich nur vier, die als wirklich bedeutend und immer wieder anregend bezeichnet werden können: Konrad Heidens erste, im Schweizer Exil Mitte der dreißiger Jahre entstandene zweibändige Biographie; Alan Bullocks klassische »Studie über Tyrannei« aus den frühen fünfziger Jahren, Joachim Fests großes Porträt Hitlers und seiner Epoche, zuerst veröffentlicht 1973, und schließlich das bislang umfangreichste, maßstabsetzende zweibändige Werk von Ian Kershaw (1998 und 2000).[4]
Konrad Heidens Biographie stellte den Versuch dar, »die geschichtliche Bedeutung des Phänomens Hitler noch mitten in dessen voller Wirksamkeit zu erkennen«.[5] Als Korrespondent der liberalen »Frankfurter Zeitung« in München zwischen 1923 und 1930 hatte der Autor Gelegenheit, den Aufstieg Hitlers zur nationalen Prominenz aus der Nähe zu verfolgen. Sein Buch beruhte neben eigenen Beobachtungen auf Auskünften von Gewährsleuten im Umfeld des Münchner Agitators. Heiden widerstand der Versuchung, Hitler zu mystifizieren oder ihn ins Lächerliche zu ziehen: »Der ›Held‹ dieses Buches ist weder ein Übermensch noch ein Popanz«, betonte er in dem auf August 1935 datierten Vorwort, »sondern ein sehr interessanter Zeitgenosse und, zahlenmäßig betrachtet, der größte Massenerschütterer der Weltgeschichte.«[6] Auch wenn viele biographische Details inzwischen von der Forschung korrigiert worden sind, besticht das Werk immer noch durch eine Fülle an treffenden Urteilen und klugen Analysen, etwa was die Wirkung Hitlers als Redner und das eigentümliche »Doppelwesen« seiner Existenz betrifft.[7]
In Exilkreisen fand das Frühwerk eine begeisterte Aufnahme. »Unablässig über Konrad Heidens fulminanter Hitlerbiographie«, notierte Thea Sternheim, die geschiedene zweite Frau des Dramatikers Carl Sternheim, Ende Oktober 1935. »Scheinwerfer über Deutschland. Man dankt plötzlich Gott für das Vorhandensein dieses schönen Gewissens. Ist dieses Buch nicht die erste entscheidende Bresche in das himmelschreiende Verbrechen, das sich in Deutschland vollzieht?«[8] Und auch Harry Graf Kessler, Kunstmäzen und Diplomat, der sich ebenfalls im Exil in Frankreich aufhielt, lobte: »Ein kluges und aufschlussreiches Buch. ›Ein gescheiterter Mann und ein gescheitertes Volk verbinden sich.‹ Treffend.«[9] Gestapo und SD stellten Nachforschungen nach dem Autor an, doch gelang es diesem, nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich 1940 über Lissabon in die Vereinigten Staaten zu entkommen.[10]
Alan Bullocks fulminantes Debüt von 1952 bildete den Ausgangspunkt für alle wissenschaftliche Beschäftigung mit dem »Phänomen Hitler«. Dabei konnte der britische Historiker auf die beschlagnahmten deutschen Dokumente zurückgreifen, die in den Nürnberger Prozessen als Beweismaterial vorgelegt und schon bald darauf veröffentlicht worden waren.[11] Bullock schilderte den deutschen Diktator als einen »völlig prinzipienlosen Opportunisten«, der allein vom »Willen zur Macht«, und zwar »in seiner rohesten und reinsten Form«, angetrieben worden sei.[12] In seinem Schlusswort berief sich Bullock ausdrücklich auf das Zeugnis des ehemaligen Senatspräsidenten in Danzig, Hermann Rauschning, der mit seinem im Exil 1938 veröffentlichten Buch »Revolution des Nihilismus« zeitweilig einen großen Einfluss auf die Beurteilung Hitlers ausübte. Darin hatte er unter anderem die Behauptung aufgestellt, der Nationalsozialismus sei »Bewegung schlechthin, Dynamik absolut gesetzt, Revolution mit wechselndem Nenner, jederzeit bereit, ihn zu vertauschen«. Eines aber sei er nicht: »Weltanschauung und Doktrin«.[13]
Die These vom opportunistischen Machtpolitiker Hitler ist von der Forschung der folgenden Dekaden revidiert worden. Es war vor allem das Verdienst des Stuttgarter Historikers Eberhard Jäckel, den überzeugenden Nachweis erbracht zu haben, dass Hitler sehr wohl über eine bei allem ideologischen Wahnwitz konsistente »Weltanschauung« verfügt und diese sein Handeln maßgeblich geleitet hatte. Die beiden wichtigsten Elemente dieser Weltanschauung waren, laut Jäckel, die »Entfernung der Juden« und die Eroberung von »Lebensraum im Osten« – axiomatische Fixpunkte, an denen Hitler seit den zwanziger Jahren mit unbeirrbarer Konsequenz festgehalten habe.[14] Diese grundlegende Erkenntnis ist sowohl von Fest als auch von Kershaw aufgenommen worden, und sie wird auch durch die vorliegende Untersuchung bestätigt.
Joachim Fests Hitler-Biographie, über zwanzig Jahre nach Bullock erschienen, beeindruckte nicht nur durch die literarische Qualität der Darstellung – »Niemand hat seit Thomas Mann über Hitler in so gutem Deutsch geschrieben«, lobte Eberhard Jäckel[15] –, sondern auch »durch die Fähigkeit des Autors zu dichter und zugleich weitausgreifender Interpretation«, wie Karl-Dietrich Bracher anmerkte, der durch seine wegweisenden Arbeiten über »Die Auflösung der Weimarer Republik«, »Die nationalsozialistische Machtergreifung« und »Die deutsche Diktatur« in den fünfziger und sechziger Jahren selbst den Boden für eine intensivierte, kritische Betrachtung von Entstehung, Struktur und Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft bereitet hatte.[16] Etwas beschämt fragten sich deutsche Fachhistoriker, warum nicht einer aus ihren Reihen, sondern ein Außenseiter wie der Journalist Fest diese Leistung zustande gebracht hatte.[17]
Fest zeichnete nicht nur ein bis dahin unübertroffenes Psychogramm der Persönlichkeit Hitlers, sondern ordnete ihn auch in den Zusammenhang seiner Epoche ein. Als wichtigste Voraussetzung für Hitlers Aufstieg schilderte er das Zusammentreffen von individuellen und allgemeinen Bedingungen, »die schwer entschlüsselbare Korrespondenz, die der Mann mit dieser Zeit und die Zeit mit diesem Mann eingingen«.[18] Um diesen Zusammenhang plausibel zu machen, schaltete er in die chronologisch fortlaufende Darstellung »Zwischenbetrachtungen« ein, in denen er die individuelle Biographie und überindividuelle Entwicklungsstränge zusammenführte. Daraus leitete er den paradoxen Befund ab, dass Hitler, obwohl er die Revolution verabscheut habe, doch zur »deutschen Erscheinung der Revolution« geworden sei, in der sich moderne und rückwärtsgewandte...