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E-Book

Grundlagen systemischer Therapie und Beratung

Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen

AutorBrigitte Kravanja, Günter Schiepek, Heiko Eckert
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl116 Seiten
ISBN9783840924750
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Das Buch gibt eine gut verständliche Einführung in die Grundlagen systemischer Therapie und Beratung. Systemisches Arbeiten wird in diesem Buch als ein Schaffen von Bedingungen für Selbstorganisationsprozesse verstanden, wie sie in psychischen, interpersonellen und biologischen Systemen ablaufen. Da solche Systeme aufgrund ihrer Nichtlinearität und Komplexität zu spontaner Musterbildung und zu chaotischen Dynamiken fähig sind, läuft diese Dynamik in manchen Fällen in unerwünschte oder 'pathologische' Zustände hinein. Therapie besteht dann darin, die Selbstorganisationsfähigkeit der Systeme zu nutzen, um Musterwandel, Ordnungsübergänge und Lernprozesse anzuregen. Wie mit der Dynamik solcher Ordnungsübergänge im klinischen Alltag gearbeitet werden kann, wird anhand eines ausführlichen Fallbeispiels illustriert. Neben einem prozessadäquaten Einsatz von Therapietechniken kommt es dabei auf die Modellierung und Beschreibung der Systeme und Muster an, deren Entwicklung in der Therapie gefördert werden soll. Zur Erfassung der dynamischen Prozesse werden in der systemischen Praxis internetbasierte Monitoring-Verfahren genutzt, die ebenfalls praxisorientiert vorgestellt werden. Ausgehend von der Synergetik als Theorie selbstorganisierender Systeme stellt der Band eine neue Konzeption für eine schulenübergreifende, integrative systemische Therapie und Beratung vor.

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Kapitelübersicht
  1. Vorwort der Herausgeber
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. 1 Was ist Systemische Therapie?
  4. 2 Am Ende der Therapieschulen
  5. 3 Psychotherapie als Schaffen von Bedingungen fu¨r Selbstorganisation
  6. 4 Bedingungen fu¨r die Förderung von Selbstorganisation: Die generischen Prinzipien
  7. 5 Synergetisches Prozessmanagement
  8. 6 Das Synergetische Navigationssystem (SNS)
  9. 7 Fallbeispiel
  10. 8 Die Verschränkung von Monitoring und Therapie
  11. 9 Konzeptionelle Entwicklungen
  12. 10 Was sind systemische Therapien?
  13. Literatur
  14. Sachregister
Leseprobe
Dies entspricht der Erwartung des „Dodo bird“-Effekts. Um die Hypothese zu widerlegen, hätte eine wesentlich breitere und flachere Verteilung um Null erkennbar sein müssen (im eindeutigen Fall sogar eine zweigipflige Verteilung), die durch eine größere Zahl ausgeprägter Effektstärken, d. h. Wirksamkeitsunterschiede zwischen Treatments zustande gekommen wäre. Keine Unterschiede ergaben sich, wenn man die verglichenen Treatments nach Ähnlichkeitsklassen einteilte. Deutlich unähnliche Behandlungsformen wiesen keine ausgeprägteren Wirksamkeitsunterschiede auf als ähnliche Behandlungsformen. Auch das Publikationsjahr, das mit der methodischen Qualität der untersuchten Studien korreliert sein könnte (neuere Studien sind vielleicht methodisch besser), hatte keinen Einfluss auf die Treatmentunterschiede.

Der „Dodo Bird“-Effekt bleibt bis auf weiteres ein starkes Argument. In seiner Übersichtsarbeit von 2010 zieht Bruce Wampold den lapidaren Schluss: „Clinical trials comparing two treatments should be discontinued“ (S. 71). In freier Übersetzung: Weitere Investitionen in kompetitive Therapievergleiche lohnen sich nicht mehr, die Ressourcen sollten in andere Entwicklungen der Therapieforschung investiert werden.

2.4 Allegiance: Die Identifiziertheit mit dem eigenen Ansatz

Mögliche Unterschiede in der Wirksamkeit einzelner Ansätze relativieren sich einmal mehr, wenn man eine wichtige konfundierende Variable berücksichtigt und die daraus resultierenden Biases kontrolliert, nämlich die selektive Identifiziertheit der beteiligten Forscher und Therapeuten mit den untersuchten Ansätzen (sog. „allegiance“, z. B. Wampold, 2001, 2010). Dass Forscher und Therapeuten eine emotionale Bindung, Identifikation und Überzeugtheit von und mit ihren Konzepten und Vorgehensweisen an den Tag legen und in mehr oder weniger subtiler Weise an ihre Klienten kommunizieren, ist menschlich. In der Praxis macht dies wohl einen Teil der Glaubwürdigkeit und der fachlichen Autorität des Therapeuten, aber auch der Vermittlung von Hoffnung und Zuversicht an den Klienten aus.

In verschiedenen Metaanalysen wurde versucht, die Effektstärken der Allegiance abzuschätzen. Dush et al. (1983) kommen dabei auf Werte zwischen .60 und .70 (bezogen auf unterschiedliche Ansätze kognitiver Therapien), Berman et al. (1985) im Rahmen eines Vergleichs von Studien zu kognitiver Therapie und systematischer Desensibilisierung auf eine Effektstärke von .65, und Robinson et al. (1990) bei einer Untersuchung von Studien zur Depressionsbehandlung auf eine durchschnittliche Korrelation von .58 zwischen Methodenidentifikation und Therapieeffekt, was einer Determination von 34 % der Ergebnisvarianz entspricht. Gaffan et al. (1995) stellten dagegen fest, dass bei einem Vergleich von früher und später durchgeführten Studien zur kognitiven Therapie der Zusammenhang zwischen Allegiance und Behandlungsergebnis verschwand. Mit Ausnahme dieser Studie, so resümiert Wampold (2001, S. 168), erreichen die Effekte der Methodenidentifikation ES-Werte um .65, was weit über die in Metaanalysen abgeschätzte Obergrenze für die differenzielle Effektstärke von Behandlungstechniken hinausgeht. Wie bereits erwähnt, liegt diese Obergrenze nach Wampold bei .20, was bedeutet, dass der Beitrag der Technik-Komponente zum Gesamtergebnis von Psychotherapien geringer ist als der Beitrag von Allegiance und anderer Komponenten (z. B. Beziehungsqualität, Motivation und andere Klientenmerkmale, Therapeutenmerkmale, oder eben Methodenidentifikation; vgl. die Übersichtsarbeiten von Lambert, 1992; Miller et al., 1997; Orlinsky et al., 1994; Shapiro et al., 1994; Stiles et al., 1994).

2.5 Sudden Changes

In den letzten Jahren konnte eine wachsende Anzahl von Studien diskontinuierliche, sprunghafte Veränderungen in der Entwicklung der Klienten nachweisen (die erste Publikation hierzu wurde von Ilardi und Craighead 1994 vorgelegt, vgl. Abb. 2). Solche Veränderungsmuster werden als „early sudden changes“ oder „sudden gains“ bezeichnet (bei plötzlichen Verschlechterungen im Verlauf spricht man von „sudden losses“). Eine Definition von Tang und DeRubeis (1999a) fordert für solche Phänomene, dass sie
a) eine erkennbare absolute Größe aufweisen,
b) eine deutliche relative Größe zur Symptomausprägung vor dem Veränderungssprung haben und
c) auch in Relation zu Symptomfluktuationen vor dem Veränderungssprung deutlich sind.

Wurden zunächst diskontinuierliche Veränderungen vor allem in der Behandlung von Depressionen festgestellt (z. B. Busch et al., 2006; Hayes et al., 2007a,b; Ilardi & Craighead, 1994, 1999; Kelly et al., 2005, 2007a; Tang & DeRubeis, 1999a,b; Tang et al., 2005, 2007; Vittengl et al., 2005), zeigte sich, dass das Phänomen keineswegs eine Therapiebesonderheit depressiver Klienten ist, sondern auch bei anderen Störungsbildern wie Bulimie, Alkoholmissbrauch oder Zwangsstörungen auftritt (Heinzel et al., 2011; Schiepek et al., 2009; Stiles et al., 2003; Wilson, 1999).

In einer eigenen Studie (Schiepek et al., 2009) konnten wir eine zeitliche Koinzidenz zwischen der diskontinuierlichen Symptomreduktion einer Zwangspatientin (erfasst im wöchentlichen Rhythmus mit der Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale [Y-BOCS], Goodman et al., 1989) und deutlichen Veränderungen der neuronalen Aktivität feststellen, wobei letztere mit wiederholt durchgeführter funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) im Therapieverlauf erfasst wurde (individualisiertes Stimulationsparadigma mit symptomprovokativen Bildern im Kontrast zu Ekelbildern und neutralen Bildern). Der steilste Veränderungsgradient von Zwangshandlungen und Zwangsgedanken sowie der neuronalen Aktivitätsmuster trat bemerkenswerter Weise zeitlich vor der zentralen Intervention, nämlich einer massierten Reizkonfrontation (exposure with response prevention) auf (vgl. auch Kapitel 9.3, Abb. 32).

Diskontinuierliche Veränderungen können mit ganz unterschiedlichen Outcome-Maßen und Symptomskalen abgebildet werden und sind weder auf manualisierte kognitive Therapien noch auf das standardisierte Setting randomisierter Vergleichsstudien beschränkt (Tang et al., 2002). Stiles et al. (2003) fanden „sudden gains“ bei unterschiedlichen Diagnosegruppen und Behandlungsansätzen in der therapeutischen Routineversorgung, Stulz et al. (2007) dokumentierten „sudden changes“ in der ambulanten Alltagspraxis, und Kelly et al. (2005) in Gruppentherapien. Spontane Symptomveränderungen treten offenbar auch ohne Interventionen und außerhalb von Therapien auf (Kelly et al., 2007b). Auch die vielzitierten pre-session changes, also Veränderungen zwischen dem Entschluss zur Therapieaufnahme oder verbindlicher Anmeldung und erster Sitzung oder Klinikaufnahme passen in dieses Bild (Lawson, 1994; Weiner-Davies et al., 1987), sowie Berichte über quantum changes, also spontane persönliche Veränderungen mit und ohne Therapie (Miller & C’de Baca, 2001). Es handelt sich offenbar um ein sehr universelles und robustes Phänomen, das in deutlichem Kontrast zu klassischen Vorstellungen einer kontinuierlichen und stetigen Veränderung steht (vgl. Abb. 3).

Diskontinuierliche Verlaufsmuster scheinen die Regel und nicht die Ausnahme zu sein, wobei spontane, substanzielle Verbesserungen häufig bereits früh im Verlauf eintreten und charakteristisch für langfristig positive Entwicklungen sind. Mehrere Autoren sehen darin .
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Herausgeber7
Inhaltsverzeichnis9
1 Was ist Systemische Therapie?11
2 Am Ende der Therapieschulen17
2.1 Welchen Beitrag leisten Interventionen und Behandlungstechniken?18
2.2 Laien in der Psychotherapie18
2.3 Der „Dodo-Bird“-Effekt19
2.4 Allegiance: Die Identifiziertheit mit dem eigenen Ansatz20
2.5 Sudden Changes21
2.6 The Heroic Client23
2.7 Sollen wir uns an Manualen orientieren?25
2.8 Die Therapeutin26
2.9 Die therapeutische Beziehung26
2.10 Psychotherapie als komplexes System27
3 Psychotherapie als Schaffen von Bedingungen fu¨r Selbstorganisation31
3.1 Was ist Synergetik?31
3.2 Wie funktioniert Selbstorganisation?35
3.3 Neuronale und psychische Selbstorganisation37
4 Bedingungen fu¨r die Förderung von Selbstorganisation: Die generischen Prinzipien41
4.1 Stabilitätsbedingungen41
4.2 Identifikation von Mustern des relevanten Systems42
4.3 Sinnbezug42
4.4 Kontrollparameter und Veränderungsmotivation44
4.5 Destabilisierung und Fluktuationsverstärkung44
4.6 Kairos, Resonanz und Synchronisation47
4.7 Gezielte Symmetriebrechung48
4.8 Stabilisierung neuer Muster49
5 Synergetisches Prozessmanagement53
6 Das Synergetische Navigationssystem (SNS)57
6.1 Ambulatory Assessment und Real-Time-Monitoring in der Psychotherapie57
6.2 Funktionalitäten des SNS59
7 Fallbeispiel65
7.1 Probleme und Ressourcen65
7.2 Therapieverlauf mit Ordnungsu¨bergang67
7.3 Systemmodellierung75
8 Die Verschränkung von Monitoring und Therapie79
8.1 Therapeutische Effekte von Feedbacksystemen79
8.2 SNS-basierte Therapiegespräche82
8.3 Reaktive Messungen86
9 Konzeptionelle Entwicklungen87
9.1 Dynamische Mustererkennung und Prozesssteuerung als Komponenten therapeutischer Praxis87
9.2 Evidenzbasierung und relativ rationale Begru¨ndung des Vorgehens88
9.3 Das Verhältnis von common factors und generischen Prinzipien90
9.4 Das Selbstorganisationsmodell als mögliche Synthese von medizinischem Modell und dem Modellunspezifischer Wirkfaktoren92
10 Was sind systemische Therapien?94
10.1 Systemische Neurotherapien94
10.2 Systemische Therapien97
Literatur99
Sachregister113

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