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E-Book

Fliegende Hunde

Begegnungen mit Australien

AutorFelicitas Mayall
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644309814
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ein sehr persönlicher Reisebericht, der auf die andere Seite der Welt entführt. Zwei Jahrzehnte lang bereiste Felicitas Mayall mit ihrem Mann, dem australischen Fotografen Paul Mayall, immer wieder den fünften Kontinent. Eine persönliche Leidenschaft verband die Autorin mit diesem Land der Extreme. Auf dieser Reise erkunden Felicitas und Paul Mayall den entlegenen Westen Australiens. Sie begegnen besonderen Menschen, erstmals und erneut, und entdecken Paradiesorte, die vom schnellen Wandel bedroht sind. Der Westen Australiens hat die Fähigkeit, das Nomadengen auch in Menschen wachzurufen, die nicht einmal ahnen, dass unsere Urahnen Nomaden waren. Er verführt zu Lebensreisen, Lust am Ausgesetztsein, zum Verschmelzen mit Traumlandschaften.

Bevor Felicitas Mayall sich ganz der Schriftstellerei widmete, arbeitete sie als Journalistin bei der 'Süddeutschen Zeitung'. Die Wahl-Münchnerin veröffentlichte unter ihrem Klarnamen Barbara Veit Kinder- und Sachbücher, bevor sie sich mit ihrer erfolgreichen Krimiserie um die Münchner Kommissarin Laura Gottberg in die Herzen vieler Leser schrieb. Bis zu ihrem Tod lebte die Mutter zweier Söhne mit ihrem australischen Ehemann am Chiemsee und reiste von dort oft nach Italien und Australien.

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Leseprobe

Crocodile Roll


«Komm sofort zurück!» Die Stimme meines Gefährten war ein schneidender Alarmruf. «Zurück! Sofort! Bist du lebensmüde?»

Zwischen hohen Schilfhalmen stand ich am Ufer des Victoria River und schaute über die träge braune Wasserfläche, die kaum zu fließen schien. Neugierig war ich einem schmalen Trampelpfad von der Straße zum Fluss hinab gefolgt und hatte alle Warnungen vergessen, die Paul mir einbläute, seit wir einen gewissen Breitengrad im Norden überschritten hatten. Den Breitengrad der Salzwasserkrokodile.

Ausführlich hatte er mir die Gefährlichkeit dieser Urweltmonster geschildert, ihre trügerische Bewegungslosigkeit, die innerhalb von Zehntelsekunden in einem Blitzangriff explodieren kann. Fünf, sechs Meter lang könnten die salties werden und gewaltige Kräfte entwickeln. Niemals würden sie ein Opfer wieder freigeben, nachdem sie es einmal zu fassen bekommen hatten. Geradezu genüsslich hatte er beschrieben, was geschah, wenn das Maul zuschnappte.

«Die fressen dich nicht sofort. Sie ziehen dich unter Wasser und rollen sich mit dir herum, bis du ertrunken bist. Dann verstauen sie dich in einer ihrer Vorratskammern unter Wurzeln und warten, bis du schön mürbe geworden bist.»

Auf der Fahrt hatte er mir das lustige Lied des australischen Countrysängers John Williamson über diese gar nicht lustige Mordmethode vorgespielt. «Crocodile Roll» hieß es, und wir hatten laut mitgesungen.

Rückwärts gehend entfernte ich mich vom Flussufer, fluchtbereit, mit klopfendem Herzen, das schlammige Wasser nicht aus den Augen lassend.

Nichts geschah, kein aufgerissener, zahnbewehrter Rachen verfolgte mich. Paul lehnte an unserem etwas klapprigen Hilux und sah mir düster entgegen.

«Folge hier im Norden nie einem Pfad ans Wasser», sagte er. «Vielleicht kommen Tiere regelmäßig an den Fluss, um zu trinken. Krokodile beobachten das und warten. Sie sind verdammt geduldig, und es ist ihnen völlig egal, ob sie ein Känguru, ein Kalb oder einen Touristen erwischen.»

«Ich hab’s kapiert.»

Es ist nicht angenehm, als Greenhorn dazustehen, aber in Australien hört man besser auf einen Einheimischen – selbst wenn man mit ihm verheiratet ist. Denn der Fünfte Kontinent ist samt seiner phantastischen Landschaften, roten Wüsten, geheimnisvollen Felsformationen, endlosen wilden Küsten, seinen Traumstränden, Regenwäldern und Korallenriffen kein schlichter Ableger südlicher europäischer Länder, in dem man sich bewegen könnte wie an den Stränden des Mittelmeers. Der Sehnsuchtsort Australien ist ein Kontinent, auf dessen roter Erde der Mensch sich achtsam bewegen sollte. Wachsam und mit sehr lebendigen Sinnen.

Wer nicht bereit ist, sich mit den Überlebensregeln im Outback zu befassen, sollte lieber in den Städten bleiben, die Weine im Barossa Valley probieren oder sich an der Goldcoast fühlen wie an der Costa Brava. Dort also, wo die Natur einigermaßen gezähmt wurde. Doch selbst die Millionenstadt Sydney beherbergt ein Wesen namens Trichterspinne, das mitunter tödlich sein kann, obwohl Menschen eigentlich nicht zu seinen Beutetieren gehören. Auch am berühmten Bondi Beach kommen ab und zu Haie vorbei, in letzter Zeit immer häufiger. Tröstlicherweise werden trotz allem aber auch in Australien mehr Menschen von Autos überfahren als von Spinnen, Schlangen oder Haien umgebracht – und es ertrinken auch mehr.

Das Land ist voll von absurden Geschichten, die in den Trinkhallen der Hotels die Runde machen. In diesen Hotels kann man zwar auch Zimmer mieten, doch in erster Linie sind sie Kneipen. Im Outback gibt es noch immer uralte Pubs in angestaubten viktorianischen Häusern, die den Anbruch der modernen Zeit überstanden haben. Man müsste sie alle unter Denkmalschutz stellen und ihre Gäste gleich mit.

Als Paul mich so eindringlich vor den Krokodilen warnte, waren wir im nördlichsten Teil Westaustraliens unterwegs, und im einzigen Pub der kleinen Stadt Wyndham erzählte uns ein fröhlicher Alter namens Steve, dass kürzlich eine Frau des Nachts ihren Hund am Fluss spazieren führte. Irgendwann habe sie einen Ruck gespürt und nur noch die abgebissene Leine in der Hand gehabt.

«Crocodiles», sagte er, «salties!», und riss bedeutungsvoll die Augen auf. Sehr hellblaue Augen unter weißen Brauen, die aussahen, als hätte die Sonne sie gebleicht und borstig gemacht. «Hier geht man nachts nicht am Fluss entlang, wenn man ein bisschen was im Hirn hat. Ist noch nicht lange her, da hat ein Truckie hier im Pub zu viel getrunken und wollte wohl unten am Anleger seinen Rausch ausschlafen. Am nächsten Morgen war nur noch sein Hut da.» Er warf mir einen schnellen Blick zu, um die Wirkung seiner Geschichte zu prüfen, lachte ziemlich dreckig, bestellte ein neues Bier und ging damit in den Wettsalon hinüber, wo schwarze, weiße und gelbe Stadtbewohner einträchtig dabei waren, ihr Geld zu verspielen.

Das Wyndham Hotel war ausgebucht – es gab ohnehin nur fünf Zimmer –, und so fuhren wir mit unserem Wagen auf den Mount Bastion am Stadtrand. Dort oben, auf dem Parkplatz vor der Aussichtsplattform, verbrachten wir die Nacht, umbraust von Schwärmen winziger Mücken, deren Sirren selbst durch die geschlossenen Scheiben drang. Aber wir befanden uns weit weg von jeder Art Gewässer und waren damit jedenfalls vor salties sicher.

Am Morgen weckte uns ein wildes Kreischen, als hätten Dämonen oder Kobolde unseren Wagen umzingelt. Erschrocken fuhren wir von unseren Sitzen auf und starrten auf eine Wolke überdimensionaler Fledermäuse, die über uns kreiste. Endlich landete eine nach der anderen in den Eukalyptusbäumen, unter denen wir genächtigt hatten, und hängte sich kopfüber an einen Ast. Erst jetzt konnte ich erkennen, dass die Fledermäuse Hundeköpfe hatten. Hundeköpfe mit spitzen Schnauzen und rötlichem Fell.

«Flying Foxes», sagte Paul sachlich. «Die veranstalten immer so einen Aufruhr, wenn sie schlafen gehen.»

Aufruhr war das richtige Wort, denn sobald einer dieser schwarzen Segelflieger mit Hundekopf sich an einen Ast gehängt hatte, begann sein Nachbar zur Rechten oder Linken ein Riesengeschrei, fing an zu schubsen und mit dem Greifhaken am Flügel zu attackieren. Dazu bleckte er seine spitzen Zähnchen. Der ganze Schlafbaum, dieser majestätische alte Eukalyptus, verwandelte sich in einen Kampfplatz hängender, kreischender, schwarzer Lappen. Irgendwie passten die Köpfe nicht zum Körper, zu den großen Flügeln – als hätte sich die Evolution einen schlechten Scherz erlaubt und eine Art Wolpertinger zusammengebaut.

Fast eine Stunde lang schauten wir ihnen zu, immer wieder in Gelächter ausbrechend. Dann ging die Sonne auf, und sie verstummten, die fliegenden Hunde, falteten sich zusammen und wurden zu friedlich schlafenden, schwarzen Ledersäcken. Ende des Nachbarschaftsstreits in der Baumhaussiedlung.

Wir dagegen bemerkten erst jetzt unsere Kopfschmerzen, die steifen Glieder, die wir jedoch sofort vergaßen, als wir auf das Reich der Krokodile blickten, das sich bis zum Horizont erstreckte. Ganz nah bei Wyndham vereinigen sich fünf Flüsse, die wie silberglänzende Schlangenkörper aus den blaugrünen Bergen des Kimberley Plateaus durch das flache Sumpfland herangekrochen kommen: Der King, der Pentecost, der Durack, der Forrest und der Ord enden hier im Cambridge Golf, der wiederum in den Joseph Bonaparte Golf in der Timorsee mündet. Seltsame Namen, koloniale Stempel auf der Landkarte.

Sedimente aus den Kimberleys färben die Schlammbänke der Ufer und Sumpflagunen rotbraun, lila und ocker, herausgefiltert und festgehalten von den Wurzeln der Mangrovenbüsche. Vogelscharen bilden im flachen Wasser winzige Ornamente. Watvögel, weiße Reiher und storchenähnliche Jabirus. Feuchtwarm und schwer die Luft.

Wyndham entstand während des Goldrauschs Ende des 19. Jahrhunderts. Im eigentlichen Sinne «gegründet» wurden die Outback-Siedlungen nicht, sie bildeten sich eben dort, wo irgendetwas von Wert gefunden wurde. Wenn es nichts mehr zu holen gab, dann verließ man sie wieder, und sie wurden zu Geisterstädten. Die Natur nahm sich ihrer an und zerlegte sie nach und nach.

Wyndham blieb dieses Schicksal erspart, weil dort eine große Fleischfabrik gebaut wurde, in der die Rinder der Viehzüchter geschlachtet und verarbeitet wurden, die sich in den Savannen der Kimberleys ausbreiteten. Heute ist Wyndham ein stiller Ort für Angler und Pensionäre, der im Zentrum eine Überraschung bereithält, die uns staunen ließ: Aus einem verwilderten Park erheben sich dunkle Riesen, Statuen aus Bronze und Draht. Eine Traumzeitfamilie, königlich, stolz, unbesiegbar. Der Mann steht aufrecht, in der Hand seinen Speer. Er schaut über die Häuser der Stadt hinweg in die Ferne. Frau und Kind ruhen im Gras. Dingo und Känguru scheinen Teil der Familie zu sein. Alle monumental und kraftvoll. Die ersten Australier.

Ich habe sie mehrmals umkreist, fühlte mich klein neben der Hoheit, die sie verkörperten, und fragte mich, woher die Kolonialherren ihre Überheblichkeit gegenüber diesen freien Menschen genommen haben. Wie war es möglich, Australien zur terra nullius, zum unbewohnten Land, zu erklären? Der große südliche Kontinent war bewohnt. Über 300 kleine Völker lebten hier, sprachen ebenso viele Sprachen und Dialekte. Die meisten waren Nomaden, aber durchaus nicht alle. Im Norden und Südwesten mussten sie nicht permanent wandern, denn es gab Nahrung im Überfluss. Ihre Spiritualität und Philosophie war hochkomplex, ebenso die Regeln des Zusammenlebens. Sie waren Meister des Überlebens in einer erbarmungslosen Umwelt. Aber als Menschen und Bewohner...

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