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E-Book

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit?

Die Rolle der internationalen Strafjustiz

AutorWilliam A. Schabas
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl104 Seiten
ISBN9783868545715
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Seit 2002 existiert der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, zuständig für Delikte des Völkerstrafrechts. Eine Errungenschaft zweifellos, gleichzeitig eine ständige Herausforderung an Recht, Gesetz und Politik. Kann der Gerichtshof die Anforderung an die Neutralität internationaler Rechtsprechung erfüllen, oder wie groß ist der Einfluss der Politik auf die Verfahren? Welche Rolle spielen Überlegungen zur Amnestie? Und wie agieren die internationalen Gerichte im Spannungsfeld zwischen Friedenssicherung und Gerechtigkeit?

William A. Schabas ist Professor für internationales Recht an der Middlesex University in London und Professor für Menschenrechte am Irish Centre for Human Rights der Irish National University in Galway. Von 2002 bis 2004 war er einer von drei Mitgliedern der internationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung von Sierra Leone.

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Leseprobe

Geschichte, internationale Gerichtsbarkeit und das Recht auf Wahrheit


Wenige Wochen nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen im September 1939 besetzte die Sowjetunion den östlichen Teil des Landes. Bald schon hatte Moskau diese polnischen Gebiete in die Sowjetrepubliken Weißrussland und Ukraine eingegliedert und Polen damit von der Landkarte getilgt. Tausende hohe polnische Militärs, Fachkräfte und Intellektuelle wurden von den Sowjets gefangen genommen. Am 5. März 1940 teilte Lawrenti Berija, der Chef der Geheimpolizei, Stalin mit, die Gefangenen seien »verstockte Feinde der Sowjetmacht, die keine Besserung erhoffen« ließen und die härteste Strafe verdient hätten, die Erschießung. Mit Zustimmung des Politbüros wurden die Gefangenen dann im Wald von Katyn ermordet, wenige Kilometer von Smolensk, auf russischem Territorium. Die Leichen warf man in Massengräber und pflanzte junge Bäume darauf, um das Verbrechen zu verschleiern.

Drei Jahre später, als der Westen Russlands zum Teil noch von den Deutschen besetzt war, wurden die Gräber entdeckt. Das NS-Regime beauftragte eine internationale Kommission forensischer Experten mit der Untersuchung des Massakers. Außer François Naville, dem Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Genf, hatten die meisten Mitglieder der Kommission Verbindungen zu NS-Einrichtungen und waren deshalb wenig glaubwürdig. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz weigerte sich, an der Untersuchung mitzuwirken. Als Naville selbst nach Smolensk reiste, um die Gräber der etwa 10000 Opfer in Augenschein zu nehmen, sah er offensichtlich beim Flug über Warschau, dass dort ein ganzer Stadtteil in Flammen stand. Auf seine Frage, was da unten vorgehe, wurde ihm gesagt, da sei irgendetwas im Ghetto passiert.18 Dort fand gerade die Vernichtung einer halben Million Juden statt. Vielleicht sah Professor Naville die Bäume von Katyn, nicht aber den Wald von Warschau. Als die Kommission zu dem Schluss gelangte, dass die Sowjets für das Massaker verantwortlich seien, war NS-Propaganda-minister Joseph Goebbels begeistert. Nach dem Fall von Stalingrad sah er darin eine willkommene Gelegenheit, die Alliierten zu spalten.

Nach der Vertreibung der deutschen Truppen von russischem Gebiet richteten die Sowjets eine eigene Untersuchungskommission ein, die zu dem Ergebnis gelangte, nicht der sowjetische Geheimdienst, sondern die Nazis seien für den Massenmord in Katyn verantwortlich. In Nürnberg bestand die sowjetische Seite darauf, den deutschen Angeklagten auch dieses Verbrechen zur Last zu legen. Der britische und der amerikanische Ankläger lehnten das ab, doch es ist unklar, ob es daran lag, dass sie vermuteten, die Russen selbst seien dafür verantwortlich. Möglicherweise hielten sie es angesichts der verschiedenen kursierenden Versionen schlicht für schwierig, den Nachweis für dieses Verbrechen ohne umfangreiche Zeugenaussagen zu erbringen, und fanden, dass die Nazi-Barbarei auch an viel klareren Beispielen mit einer viel größeren Zahl von Opfern aufzuzeigen sei. Die sowjetischen Ankläger, die wohl in gutem Glauben die unwahre offizielle Version ihrer Regierung akzeptierten, schienen ebenfalls kein gesteigertes Interesse an einer Klärung des Verbrechens zu haben. Sie beschränkten die Beweisvorlage auf die formelle Übergabe des sowjetischen Untersuchungskommissionsberichts.

Diese Eröffnung war für die NS-Angeklagten ein gefundenes Fressen. Hermann Göring, der prominenteste Angeklagte, soll gesagt haben: »Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schamlos sind und Polen erwähnen.« Baldur von Schirach meinte angeblich: »Als sie Polen erwähnten, dachte ich, ich würde sterben.« Görings Anwalt Otto Stahmer kündigte seine Absicht an, Gegenbeweise vorzulegen. Die Richter gestatteten den Angeklagten, drei Zeugen der Verteidigung zu benennen, dem sowjetischen Ankläger wurden drei Gegenzeugen zugestanden. Die unvoreingenommene Lektüre der Transkripte legt nahe, dass das Ergebnis nicht eindeutig war. Die damaligen Beobachter hatten wohl allenfalls den Eindruck gehabt, dass die Sowjets sich gut verkauft hatten und dass die Deutschen mit ihren Zeugen, die die Verantwortung der Sowjets für Katyn belegen sollten, nicht sehr erfolgreich waren. Im Urteil wurde Katyn überhaupt nicht erwähnt. Selbst der sowjetische Richter Nikitschenko vermied in seiner abweichenden Stellungnahme das Thema. Dieses Schweigen spricht Bände. Nikitschenko gilt gewöhnlich als der am wenigsten unparteiische Richter, doch in der Frage Katyn glänzte er durch Aufrichtigkeit.

Das Massaker im Wald von Katyn wird oft zusammen mit der Bombardierung deutscher Städte und der atomaren Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki angeführt, um die Nürnberger Prozesse, wie im ersten Kapital dargestellt, als Beispiel für Siegerjustiz zu kritisieren. Natürlich konnte das Internationale Militärtribunal wegen Katyn keinen Schuldspruch gegen die Sowjets verhängen. Seine Zuständigkeit ratione personae war auf die »Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achsenmächte« begrenzt. Der Hinweis, dass die Sowjets für Katyn verantwortlich waren, wäre selbst dann unangebracht gewesen, wenn den Richtern schlüssige Beweise vorgelegen hätten, was ja nicht der Fall war. Dass die Sowjets die Verantwortung dafür trugen, war zwar durchaus plausibel, doch angesichts des Umfangs der Nazi-Gräuel und der Manipulation des Sachverhalts zu Propagandazwecken durch Goebbels und andere ließ sich der Vorwurf, es sei ein deutsches Verbrechen, nicht einfach als absurd abtun.

Es brauchte ein halbes Jahrhundert, um den Nebel des Krieges aufzulösen, der den Wald von Katyn einhüllte. Anfang der 1950er Jahre befasste sich ein Sonderausschuss des US-Repräsentantenhauses eingehend mit dem Massaker und gelangte zu dem Schluss, dass tatsächlich die Sowjets die Verantwortung dafür trugen. Doch obwohl der Ausschuss sehr sorgfältig gearbeitet hatte, wurde ihm vorgeworfen, er sei Teil einer antikommunistischen Hexenjagd, die nicht nur auf die sowjetische Führung abziele, sondern auch auf Linkssympathisanten im US-Außenministerium und im Anklägerteam von Nürnberg. Erst 1990 enthüllte Boris Jelzin die Wahrheit, die der sowjetischen Führung über Generationen hinweg bekannt gewesen war. Er sah darin wohl eher eine Gelegenheit, Michael Gorbatschow zu diskreditieren, als eine Verpflichtung zur Suche nach der historischen Wahrheit.

Die Folgen des sowjetischen Eingeständnisses sind auch zwei Jahrzehnte später noch nicht vollständig aufgearbeitet. Die Russen verweigern sich noch immer allen Bemühungen der Opfer und der gesamten polnischen Nation um Gerechtigkeit und Übernahme der Verantwortung. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind die Klagen einiger Nachkommen von Opfern des Massakers von Katyn anhängig. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Verurteilung Russlands durch den Gerichtshof sicher ist. Zu den schwierigen Aspekten des Falls gehört die rückwirkende Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Kläger betonen, dass es ihnen nicht um die Ereignisse von 1940 geht, sondern vielmehr um den Schaden, der den noch lebenden Angehörigen der Opfer dadurch zugefügt wurde, dass Russland auch in den letzten Jahren keine ernsthafte Untersuchung der Verbrechen durchgeführt hat.

Es herrscht der verbreitete Eindruck, der Nürnberger Prozess sei vom Makel des Massakers im Wald von Katyn befleckt. Doch die vier Richter waren so klug, nichts zu tun, was zur Verzerrung der geschichtlichen Wahrheit geführt hätte, ganz im Gegenteil. Natürlich war es ihnen aufgrund ihrer begrenzten Zuständigkeit nicht möglich, umfassende Ermittlungen zur Verantwortlichkeit für das Massaker durchzuführen. Doch sie setzten die Glaubwürdigkeit ihres Urteils nicht dadurch herab, dass sie aus politischer Zweckmäßigkeit einer Lüge Vorschub leisteten oder einfach die Wahrheit verschleierten. Es erscheint schlüssiger, den Umgang mit Katyn im Nürnberger Prozess als Bestätigung sowohl der Integrität des Verfahrens zu sehen als auch der Fähigkeit der Strafjustiz, aus historischen Tatsachen präzise Schlussfolgerungen zu ziehen. Im Urteil von Nürnberg, das kaum mehr als 200 Seiten umfasst, konnten weder die Nazi-Gräuel umfassend dargestellt noch die über die Zuständigkeit des Gerichts hinausgehenden Aspekte des Konflikts, wie zum Beispiel die tatsächliche Verantwortlichkeit für Katyn, adäquat behandelt werden. Aber das Urteil trug auch nicht aktiv zur Verzerrung der historischen Tatsachen bei. Es ist ein wichtiger Bezugspunkt und überzeugender Ausdruck einer klaren Vorstellung vom NS-Regime, dessen Details und Nuancen aus anderen Quellen erschlossen werden müssen. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass das Urteil von Nürnberg so viel Hass vonseiten der unverbesserlichen Holocaust-Leugner auf sich zieht, die gelegentlich auf den Umgang mit Katyn als Begründung für ihre Attacken verweisen.

Bilanzierung der Geschehnisse


Im Jahr 2004 übermittelte der Generalsekretär der Vereinten Nationen dem Sicherheitsrat einen Bericht über die Initiativen zur...

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