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Christian Morgenstern

Eine Biografie

AutorJochen Schimmang
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783701743681
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Seine Lyrik war subversiv, seine Übersetzungen werden bis heute gerühmt, seine 'Galgenlieder'zählen zu den populärsten deutschen Gedichten. Christian Morgenstern war einer der interessantesten Autoren seiner Zeit. Geboren im Jahr 1871, erlebte er eine Epoche der radikalen geistigen, technischen und kulturellen Umbrüche: den Eintritt in die Moderne. Zu seinen Generationsgenossen zählen Rilke, Hofmannsthal und Robert Walser. Morgensterns Werk reagierte in seiner Vielfalt und seiner Zerrissenheit auf eine Ära, die im raschen Wandel begriffen war. Jochen Schimmang wirft in seiner Biografie ein neues Licht auf Leben und Werk dieses bedeutenden Dichters.

Jochen Schimmang geboren 1948, lebt heute in Oldenburg. Er ist Autor zahlreicher Romane und unterrichtete am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Zuletzt erschienen: 'Das Beste, was wir hatten' (2009, Rheingau-Literatur-Preis 2010) und 'Neue Mitte' (2011, Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar 2012).

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Leseprobe

Prolog
»Meine Harmonie ist nur Balance«


Wer war Christian Morgenstern? Eben das wissen wir nicht. Der Mann, von dem manche Zeilen gleichsam kulturelles Gemeineigentum geworden sind – allen voran die, dass »nicht sein kann, was nicht sein darf« und dass die Möwen alle aussehen, »als ob sie Emma hießen« – und dessen Nasobēm es bis ins Lexikon geschafft hat und in der Folge die Zoologie sogar zur Kreation einer neuen Gattung anregte (Bau und Leben der Rhinogradentia von »Professor Harald Stümpke«1), ist merkwürdig schwer zu fassen. Von seinem engsten Freund Friedrich Kayssler haben wir eine recht plastische Beschreibung, wie er sich bewegte, dass er groß war, sportlich wirkte und den Kopf hoch trug (im buchstäblichen, nicht im übertragenen Sinne), sonst aber erscheint Morgenstern oft als hochvergeistigtes, fast ätherisches Wesen, auch wenn Kayssler sich in seinen Erinnerungen ausdrücklich gegen dieses Adjektiv verwahrt. Von Morgensterns Sexualität etwa wissen wir wenig und nichts Genaues. Über seine späte Ehe mit Margareta Gosebruch von Liechtenstern heißt es, sie sei »eine Geistesfreundschaft vor allem anderen« gewesen, wobei wir über »alles andere« im Unklaren gelassen werden. Natürlich kommt die Tatsache, dass er seit dem 23. Lebensjahr an der klassischen Künstlerkrankheit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts litt, der Tuberkulose, dem ätherischen Bild entgegen. Viele Fotos, die wir von ihm haben, zeigen schon einen Kranken.

Zur ätherisch-ästhetischen Stilisierung der Person trägt sicher auch bei, dass Christian Morgenstern einer Künstlerfamilie entstammte, ja, geradezu einer Dynastie von Landschaftsmalern, und als Kind selber ebenfalls Landschaftsmaler werden wollte. »Christian Morgenstern, zukünftiger Landschafts-Maler«, ist der erste Brief des Siebenjährigen unterschrieben. Diese kindliche Vorstellung fiel jedoch in eine Zeit, in der gewissermaßen das Ende der Landschaftsmalerei schon eingeleitet worden war. Denn die Eckdaten von Morgensterns Leben sind so symbolisch aufgeladen wie bei vermutlich niemand anderem seiner Generation. Geboren im Jahr 1871, also im Jahr der Gründung des Deutschen Reiches, gestorben 1914, wenige Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs und dem Anfang vom Ende des Kaiserreichs. Demnach lebte er einerseits in einer der bis dahin längsten europäischen Friedensperioden, andererseits war er Zeitzeuge und Betroffener einer Ära des Aufbruchs, des rasanten technischen Wandels, der Industrialisierung, des Fortschrittsoptimismus und der Erstarkung des Bürgertums selbst in deutschen Landen, trotz der herausragenden Rolle, die das ostelbische Junkertum und das Militär im wilhelminischen Deutschland bis zum bitteren Ende spielten.

Es war also nicht mehr die Zeit der Landschaftsmalerei. Sie hatte aufgrund der Urbanisierung ihren Stellenwert verloren. Und Christian Morgenstern, im noch eher beschaulichen, aber durchaus schon großstädtischen München geboren, ging schon mit 23 Jahren nach Berlin, wo ihm die Folgen dieser Urbanisierung nicht verborgen blieben. Dessen Einwohnerzahl hatte sich zwischen dem Jahr von Morgensterns Geburt und dem seines Zuzugs etwas mehr als verdoppelt und strebte langsam auf die Zweimillionengrenze zu. Die Folgen von Urbanisierung und Industrialisierung waren dem ehemals zukünftigen Landschaftsmaler keineswegs gleichgültig, wie wir aus einigen seiner Briefe wissen. Zu einer Identifikation mit einer der Spielarten des Sozialismus mochte er sich allerdings doch nicht durchringen.

In Berlin machte er zugleich Bekanntschaft mit der künstlerischen Moderne, die im kulturellen Geschehen eine immer größere Rolle spielte. Schließlich hat sich in der kulturgeschichtlichen Forschung für die Zeit um 1900 der Begriff vom »Epochenumbruch« in Europa durchgesetzt, mit den drei mitteleuropäischen Zentren Berlin, Wien und Prag. Ob Christian Morgenstern selbst zur Moderne gehört oder ob er gleichsam etwas ängstlich an ihrer Schwelle stehen geblieben ist, ist eine der Fragen, die diese Biographie stellen möchte, ohne sich sicher zu sein, sie wirklich beantworten zu können. Zu Morgensterns Generationsgenossen, um nur einige Namen zu nennen, gehören George, Rilke, Hofmannsthal, Thomas Mann, Robert Walser, Paul Valéry und Marcel Proust, aber auch zum Beispiel C. G. Jung und Rosa Luxemburg. In den Jahren seiner Jugend erschienen Nietzsches Genealogie der Moral und die Götzen-Dämmerung, im Jahr 1900 Freuds Traumdeutung. Epochenumbrüche reißen mit und machen Angst; das durchaus stolze Bewusstsein, Zeitgenosse rasanter Veränderungen zu sein, kann mit der Furcht vor ihnen einhergehen und die Sehnsucht nach einer untergegangenen Welt und nach alten Werten befördern. Die überladenen Wohnstuben der damaligen Zeit mit ihrem Plüsch und mit den gestickten Sinnsprüchen an den Wänden zeugen ebenso davon wie die steife Herrenmode. Morgensterns Werk reagiert in seiner merkwürdigen Vielfalt und Zerrissenheit auf diese Ambivalenz und ist ihr Ausdruck.

Solche Ambivalenz ist jedoch ebenso in der Person Morgensterns selbst zu finden, der lebensgeschichtlich ein früh Entwurzelter und Spross eines Phänomens war, das es massenhaft erst sehr viel später gab: der Patchworkfamilie. Da war zum einen der frühe Tod der Mutter, zum anderen die Tatsache, dass sein Vater ihn anschließend praktisch abgeschoben und verlassen, ihm dabei aber später auch noch Steine in den Weg gelegt hat, was in den wenigen vorliegenden Biographien eher verschämt erwähnt wird, als sei das in Künstlerfamilien nichts Außergewöhnliches und habe nur eine untergeordnete Bedeutung. Stattdessen ist sogar hier und da von einem »guten« Verhältnis zum Vater die Rede, wo es sich doch schon sehr früh eher um ein Nichtverhältnis handelte, mit einzelnen hilflosen Versuchen des Vaters, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. Zur Legende vom guten Verhältnis hat der Sohn allerdings in manchen brieflichen Äußerungen auch selbst beigetragen.

Es ist deshalb nicht abwegig, wenn man davon ausgeht, dass Morgenstern von früh an immer auch auf der Suche nach einem Ersatzvater war, nach einem Leitstern. Er war der prädestinierte Schwärmer und Jünger, worauf bereits Ernst Kretschmer hingewiesen hat. Das begann für kurze Zeit schon mit Werner Sombart, dann aber vor allem – bis zum Epigonalen, was in diesem Lebensalter häufig vorkommt – mit Nietzsche, dem er seinen ersten Gedichtband widmete, sieben Jahre nach dem Turiner Zusammenbruch des Verehrten. Es folgte der imperialistisch-antisemitische Kulturphilosoph Paul de Lagarde alias Paul Anton Bötticher (1827–1891), Ordinarius für Orientalistik in Göttingen, dessen wirres, zusammengestoppeltes Weltbild auch heute noch eine wahre Fundgrube für deutsche und pangermanische Rechtspopulisten wäre. Noch 1912 hat sich Morgenstern zu dem entschiedenen Antimodernisten Lagarde bekannt, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt schon seit mehreren Jahren einen neuen Leitstern in der Person Rudolf Steiners gefunden hatte, mit dem ihn im Gegensatz zu den beiden Vorgenannten ab 1908 auch persönliche Bekanntschaft verband und dem er trotz des fortgeschrittenen Stadiums seiner Krankheit auf der Spur seiner Vorträge durch halb Europa folgte, wie Jünger das zu tun pflegen.

Dieser ausgeprägte Hang zur Schwärmerei, dieser Wille zur Verehrung lässt sich nun nicht ohne Weiteres mit jenem Morgenstern in Zusammenhang bringen, der der Berliner Boheme angehörte und über Jahre, auch nach seiner Hinwendung zur Anthroposophie noch, die Galgenlieder und die absurd-subversive Poesie um Palmström, Korf, Palma Kunkel und den Gingganz schuf. Entspringt Morgensterns Jüngertum der Sehnsucht nach einem wie auch immer gearteten runden Weltbild und nach einer Harmonie, die er spätestens seit dem Tod der Mutter lebensgeschichtlich nicht mehr erfahren hat, dann ist derjenige Teil seines Werkes, der bis heute lebendig geblieben ist, Ausdruck der »ganz normalen« realen Zerrissenheit seines Lebens, dessen Kennzeichen die durch die Krankheit bedingte Ruhelosigkeit einerseits und die lebenslange wirtschaftliche Unsicherheit andererseits waren. Während man den Großvater väterlicherseits noch beinahe als Malerfürsten bezeichnen kann und der Vater später eine Professur in Breslau innehatte, war Morgenstern zumindest in seiner Eigenschaft als freier Literaturproduzent ganz und gar in der Moderne angekommen. Er übernahm alle möglichen Aufträge, gab Zeitschriften heraus, die kurz danach eingestellt wurden, übte freie Lektorentätigkeiten aus und glänzte als Übersetzer Ibsens aus dem Norwegischen – einer Sprache, die er, nachdem er den Auftrag angenommen hatte, erst lernen musste! Morgenstern ist ein Paradebeispiel dafür, wie kontingent der Hintergrund der Arbeiten und Publikationen moderner Autoren ist, die später in der Rezeption und der Literaturwissenschaft dann zu einem runden »Werk« zurechtgebogen und zurechtgelogen werden. Denn nur wenige Autoren haben ja das Glück, eine Katia Pringsheim heiraten zu können. Und die heutige Ochsentour, in der pro Generation eine auserwählte Schar von Autoren und Autorinnen von Preis zu...

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