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Ritzen als Problem selbstverletzenden Verhaltens bei Mädchen in der Adoleszenz. Grenzen und Möglichkeiten schulischer Intervention

Grenzen und Möglichkeiten schulischer Intervention

AutorKathleen Seifert
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl136 Seiten
ISBN9783638338721
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1, Justus-Liebig-Universität Gießen (Heil- und Sonderpädagogik), 76 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Selbstverletzendes Verhalten (im Folgenden SVV) ist längst kein unbekanntes Problem für Psychologen und Psychotherapeuten. Auch in den öffentlichen Medien liest oder hört man gelegentlich etwas über bestimmte Formen SVVs. Die Verletzung der Haut mit scharfen oder spitzen Gegenständen, auch Ritzen genannt, scheint aber immer noch ein Tabuthema zu sein, auch wenn dieses Verhalten keinesfalls ein seltenes Problem darstellt. Bei den Vorbereitungen zu dieser Arbeit ist mir aufgefallen, dass fast jeder meiner Bekannten, der mich nach meinem Thema fragte, meinte: 'Oh, da kenne ich auch jemanden.' oder 'Ja, damals in der Schule hatten wir auch eine, die das tat.' Nahezu jeder scheint, mit dem Wort 'Ritzen' etwas anfangen zu können und zu wissen, worum es sich handelt: Eben um Leute, die Narben an Handgelenken oder Unterarmen haben, vermutlich von Schnitten, die sie sich selbst zufügten, vielleicht um Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht! Fragt man aber genauer nach, merkt man schnell, dass sich kaum jemand ernsthafte Gedanken darüber macht, warum diese Personen so etwas tun. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass jemand sich selbst Verletzungen zufügt. Mein Eindruck in Gesprächen mit einigen Lehrern aus meinem Bekanntenkreis war, dass auch sie, selbst wenn sie eine Schülerin, die sich ritzte in der Klasse haben, sich wenig Gedanken um die Gründe des Verhaltens machen und sich eher unverantwortlich oder überfordert fühlen und nicht eingreifen. Ich selbst habe eine Ritzerin getroffen als ich nach meinem Abitur aushilfsweise in einem Kindergarten arbeitete. Sie war dort für einige Wochen meine Kollegin. Wir verstanden uns recht gut, und sie machte sich keine Mühe, ihre verschorften Einschnitte am Unterarm mir gegenüber zu verbergen. Auch ich habe damals nicht viel darüber nachgedacht. Für mich war klar, dass ihr Verhalten etwas mit der Suche nach Aufmerksamkeit zu tun haben muss. Ich habe dies aber nicht ernst genommen und nicht gesehen, dass vielleicht ein größeres Problem hinter der Selbstverletzung steht. Viele Pädagogen sind meiner Meinung nach zu wenig über das Thema SVV aufgeklärt, sie wissen zu wenig über psychische Probleme und Belastungen ihrer Schüler, und so denken sie vielleicht oft genauso wie ich damals.

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Leseprobe

verunsichern (vgl. ENGEL/HURRELMANN 1989, 5ff). Viele Jugendliche bezweifeln, dass die Schule tatsächlich aufs Leben vorbereiten kann, denn die Berufseinmündung ist äußerst schwierig, und die Zukunftsperspektive enthält viele Risiken (vgl. BÄRSCH 1989, 21).

Im Jugendalter hat auch die Gleichaltrigengruppe und die mit ihr verbundene Jugend- und Freizeitkultur eine große Bedeutung. Diese erscheint heute äußert vielseitig und unübersichtlich. Heutige Lebensäußerungen und -stile der Jugendlichen zeigen eine „Aktionssprache“ und Visualisierung, die im Vergleich zu früheren Jugendkulturen undeutlicher erscheint. Damals bot die Bindekraft aus sozialen Milieus oder religiösen Gemeinschaften die Basis für Gemeinsamkeiten. KOCH und RESCH (2002, 160f) sprechen von einer damaligen „kollektiven Symbolsprache“, die von einer „individuellen Aktionssprache“ abgelöst wurde. Durchaus finden Jugendliche auch heute noch Gemeinschaften in Einrichtungen der Kirche oder in Sportvereinen etc. vor. Auch besteht heute meiner Meinung nach noch eine kollektive Symbolsprache unter Jugendlichen. Jedoch bezieht sich diese meist auf Gruppen außerhalb dieser Gemeinschaften, auf sogenannte Cliquen oder den engeren Freundeskreis, mit dem Jugendliche ihre übrige Freizeit verbringen. Es existieren heute viele verschiedene Trends und Jugendkulturen parallel. Viele Jugendliche schließen sich mehreren Jugendkulturen an, probieren aus, wo sie dazu gehören wollen, und welche Trends ihnen gefallen könnten. Auch mir erscheint es so, dass es heute schwieriger für Heranwachsende ist, eine eigene Identität zu finden, da sie aus einer Vielzahl von Gruppen bzw. Kollektiven auswählen können.

Mit der einsetzenden Pubertät fühlen sich die Jugendlichen genötigt, den emotional vertrauten Kreis der Familie zu verlassen, um zu lernen auf eigenen Füßen durch das Leben zu gehen. Sie dürfen und müssen zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Lebensbewältigung auswählen. Dabei können sie sich nicht auf eine sozial abgesicherte Orientierung verlassen. „In einer Gesellschaft, die keine allegemeinverpflichtenden Rituale für den Übergang von Kindheit ins Erwachsenenalter kennt, ist jeder vermehrt darauf angewiesen, individuell seinen Weg zu finden“ (SCHRÖDER 1996, 37f). Die Adoleszenzphase ist heute entritualisiert, auch wenn sie in vielen neuen „Teilkulturen“ und Milieus sehr wohl wieder eigene Rituale hervorbringt (SCHRÖDER 1996, 37f).

BÄRSCH (1989) vertritt die These, dass die familiären, schulischen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen gemeinsam das Verhalten von Kindern und Jugendlichen bestimmen. Er ist der Meinung, dass die Lebenssituation der Kinder sehr widersprüchlich ist: Zum einen hat heute jeder Mensch eine große Freiheit darin, wie er sein Leben gestaltet. Es bestehen gute Chancen zur Selbstverwirklichung und zur Gestaltung der Individualität. Zum anderen scheint aber die soziale, psychische und körperliche Lebensqualität für Kinder und Jugendliche nicht ausreichend gesichert zu sein. So ist die körperliche wie die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen nicht befriedigend, was von Ärzten, Mitarbeitern in Beratungsstellen und Lehrern berichtet wird (BÄRSCH 1989, 19ff).

Der Konsum von illegalen und legalen Drogen spielt eine beachtliche Rolle bei den 12- bis 18jährigen (vgl. Ebd., 20). Dabei ist Drogenkonsum in der Jugendphase eine gesellschaftlich und kulturell verankerte Verhaltensweise, die als Kompensation von Konflikten und Belastungssituationen weitgehend akzeptiert scheint. In der Jugendphase tritt der Gebrauch von Drogen als ein Mittel zur Bewältigung von Belastungssituationen erhöht auf (vgl. ENGEL/HURRELMANN 1989, 157f).

Die Suizidrate in diesem Alter ist beunruhigend hoch. Ende der 1980er Jahre versuchten täglich, 40 Kinder sich das Leben zu nehmen, vier davon starben. Jährlich waren es bei den unter 15jährigen ca. 90, bei den 15- bis 20-jährigen ca. 600! (vgl. BÄRSCH 1989, 20). (Dabei ist zu bedenken, dass sich diese Werte aus den 80er Jahren natürlich nur auf die alte Bundesrepublik beziehen.) Die Familien haben sich in den 80er Jahren sehr verändert. Es gibt viele Alleinerziehende, viele Ehen bestehen durch Scheidung oder Getrenntleben nicht mehr. Und die Familie an sich ist nicht unbedingt mehr eine Gemeinschaft, in die man sich zurück zieht und glücklich zu werden hofft, sondern äußerst konfliktanfällig (Ebd.).

Die Bedeutung der Familie als Lebensstil prägende Wohn- und Lebensgemeinschaft hat abgenommen. Trotzdem ist die Familie nach wie vor eine zentrale, wenn nicht die zentralste Bezugsgruppe der Jugendlichen. Streit- und Meinungsverschiedenheiten im Elternhaus sind entscheidend an psychosozialer Belastung im Jugendalter beteiligt. Auseinandersetzungen gibt es zum Beispiel über Schulleistungen, wenn der Heranwachsende die Erwartungen der Eltern nicht

erfüllt oder auch als Folge von Belastungen denen primär die Eltern ausgesetzt sind (vgl. ENGEL/HURRELMANN 1989, 9). Auch wenn Jugendliche sich jetzt mehr an Gleichaltrigen orientieren, bleiben die Eltern doch wichtige Bezugspersonen, von denen Jugendliche zudem sehr lange finanziell abhängig sind. Bei Mädchen ist das Verhältnis zu den Eltern etwas häufiger schwierig als bei Jungen (Ebd., 46ff).

Die Gleichaltrigengruppe ist neben der Familie eine zentrale Bezugsgruppe des Jugendlichen. Sie bietet den Rahmen für sensible soziale Vergleiche und kann entscheidenden emotionalen Rückhalt bieten. Es ist eine schwierige Entwicklungsaufgabe, die Anerkennung dieser Gruppe zu gewinnen und gleichzeitig in der Welt der Gleichaltrigen eine eigene Persönlichkeit auszubilden. Der Jugendliche wird sich um soziales Ansehen innerhalb der Gruppe der Peers bemühen und versuchen, bestimmten Leitbildern, die durch die Massenmedien suggeriert werden, zu entsprechen. Die Vorstellung von Jugendlichsein ist eng an Rollenattribute gekoppelt. Verfügt man über diese nicht, kann es zur Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und zu abweichendem Verhalten kommen (Ebd., 10). Dies wird durch weitere Faktoren bestärkt. Der Freizeitbereich spielt im Jugendalter eine entscheidende Rolle. Freizeit bedeutet auch Freunde zu finden, setzt aber häufig finanzielle Ressourcen voraus. Die meisten Aktivitäten sind heute ohne eigenes Geld kaum ausübbar. Zudem ist die Jugendkultur stark an „marktvermittelten sozialen Stereotypien und demonstrativem Konsum“ orientiert. Jugendliche können in ihrer Gleichaltrigengruppe zum Außenseiter werden und Deprivationserfahrungen machen, die zur Quelle psychosozialer Belastungen werden können. Ein Mangel an Dingen, die sich der Jugendliche gern kaufen möchte, weil sie bei anderen gut ankommen, berührt das Selbstwertgefühl entscheidend (ENGEL/HURRELMANN 1989, 53ff).

Die Gleichaltrigengruppe als zentrale Bezugsgruppe des Jugendlichen ist der Kontext für den Großteil seines sozialen Lebens. Sie eröffnet Chancen, sich kreativ in seiner Persönlichkeit zu entfalten und zu entwickeln, birgt aber auch Risiken in sich. Jedem Jugendlichen wird ein bestimmter marginaler Status im sozialen Geschehen der Gruppe zugewiesen. Die Bewertung durch andere Mitglieder des sozialen Netzwerkes ist soziale Grundlage des Selbstwertgefühles. Im Klassenverband oder in der Gemeinschaft der Peers an der Schule können

soziale Kontakte kaum vermieden werden. Diese Kontakte können Risiken in sich tragen, die das Selbstwertgefühl beeinflussen (Ebd., 106f). Weiterhin kann ein ungünstiges Abschneiden im Vergleich der Schulleistungen in einer Klasse zur Folge haben, dass ein Schüler sozial negativ bewertet wird. Dabei ist aber bedeutsam inwieweit Schulleistungen eine Bewertungsdimension im Klassenverband darstellen (Ebd., 108). Dem schulischen Leistungsstand kommt im Selbstbild der Schüler eine zentrale Bedeutung zu (Ebd., 19). In einer Befragung von 12- bis 16jährigen aus dem Jahr 1986 ging hervor, dass aus der Sicht der Jugendlichen ihre Probleme vor allem schul- und leistungsbezogen sind, sich auf die Gleichaltrigengruppe beziehen oder im Elternhaus liegen. Danach folgen mit großem Abstand Probleme wie Geld, Freizeit, eigenes Aussehen, Gesundheit, Sinn- und Glaubensfragen, Religion und Zukunft und Beruf. Viele Jugendliche gaben auch an, keine Probleme zu haben. Die Jugendphase ist also eine Lebensphase, in der sich Heranwachsende spürbar mit leistungsbezogenen (Rollen-)Erwartungen auseinandersetzen müssen (Ebd., 31).

Dauerhafte Konflikte und damit verbundene Frustration in der Eltern-Kind- oder in der Schule können manchmal - durch plötzliches Auftreten eines an sich belanglosen Ereignisses oder auch ohne erkennbaren Anlass - der Auslöser für Stress-Symptome sein. Das heißt, dass in diesem Fall nicht das plötzliche Ereignis, sondern die lang andauernde Strapazierung des Selbstwertes den Stress-Symptomen den Weg bereitet. In diesem Zusammenhang spielt die Fähigkeit des Individuums, mit der Belastung fertig zu werden, eine Rolle. Die Belastungsfaktoren sind das Resultat der institutionellen und sozialen Gegebenheiten einer Gesellschaft. Das heißt: Ein Verhalten ist nie allein auf das Individuum zurückzuführen (Ebd., 14).

Diese Belastungsfaktoren scheinen im Jugendalter sehr vielfältig zu sein, was bei den Jugendlichen eine aktive Anpassungsleistung in verschiedenen Bereichen erfordert. Unterschiedliche Defizite können über längeren Zeitraum eine chronische Überforderung bewirken (vgl. ENGEL/HURRELMANN 1989, 19).

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