Kapitel 1b: Von der Umwertung aller Werte
Über Werte und Werteverlust wird seit mehr als 100 Jahren raisoniert, insbesondere dann, wenn von der Jugend die Rede ist. Wie ungerecht es ist, den Werteverlust gerade mit Blickrichtung auf die Jugend zu beklagen, hat schon in den 1970er-Jahren der österreichische Austropop kritisiert, als Wolfgang Ambros davon sang, dass die Erwachsenen eine Jugend ohne Ideale und Werte bejammern, gleichzeitig aber sie selbst es sind, die »immer nur kuschen, geldgierig, bestechlich san« (Wolfgang Ambros – »Zwickts mi«, 1974) Was dieser Liedtext wenig subtil als zentrales Argument ins Treffen führt: Dass die Erwachsenen durch ihr Beispiel selbst zu verantworten haben, wie sich die Jugend entwickelt. Denn Werte und Werteverlust kommen nicht aus den Nichts. Tugenden und Untugenden, so wissen wir seit Aristoteles, entstehen aus dem gelebten Beispiel. Wenn die Jugend tatsächlich keine Werte mehr hätte, dann wäre dies das Verdienst der Erwachsenen und ihres vorgelebten Beispiels.
Ein genereller Werteverlust der Jugend scheint unmöglich, würde das doch bedeuten, dass wir eine Generation vor uns haben, die völlig ohne Gewissen und Moral leben und handeln würde. Doch solche coolen Monster sind nicht einmal in der Postmoderne möglich. Selbst im abgeklärtesten Pragmatiker finden sich Restbestände von moralischen Werten.
Die jungen Leute leben heute nicht, wie es so oft suggeriert wird, in einem Wertevakuum, also völlig ohne Werte, sondern sie haben andere, neue Werte angenommen. Die Werte haben sich gewandelt, wurden umgewertet. Der Wertewandel ist der Sachverhalt, über den wir reden müssen und nicht über den Werteverlust.
»Daß die Welt im Argen liegt, ist eine Klage, die so alt wie die Geschichte ist.« Dieser Aphorismus geht auf Immanuel Kant zurück, einen Philosophen der deutschen Aufklärung, der von 1724 bis 1804 in Königsberg gelebt hat, einer relativ kleinen Stadt, aus der er sein Leben nicht hinausgekommen ist, wahrscheinlich deshalb, weil er das nicht wollte. Wie wir an diesem Zitat sehen können, sind Weltklage, Zeitkritik und Pessimismus keine modernen Phänomene. Vielmehr scheinen sie die ganze Menschheitsgeschichte zu durchziehen. Aber warum wird, um den Verfall der Welt zu beschreiben, immer exemplarisch die Jugend herangezogen? Weil sie notwendigerweise vieles anders macht als die Erwachsenen und damit die Welt der alten, sich im Abtreten befindlichen Generation nicht nur anders interpretiert, sondern auch tief greifend verändert. Das kränkt die Alten, weil ihr ganzes Herzblut in der alten Welt steckt, die jetzt vor ihren Augen umgekrempelt wird. Und so stellt das Lamento über die Jugend vielfach ein Bewältigungsritual der Alten dar, das diesen dabei hilft, das Verschwinden ihrer, der von ihnen hervorgebrachten Welt, besser auszuhalten. Es ist aus noch einem Grund nicht einfach für sie, die durch die Jugend initiierten Veränderungen zu verkraften, denn das langsame Verschwinden der alten Welt geht ihrem eigenen existenziellen Verschwinden nur ein kleines Stück voraus. Der Untergang der alten Welt ist die symbolische Vorwegnahme ihres eigenen Todes und deshalb emotional hoch aufgeladen.
Trotz aller individuellen oder gesellschaftlichen Krisen und aller Jugendkritik, gibt es in unserer Zeit die Pflicht zum positiven Denken. Der Pessimismus ist wohl eines der größten Tabus der Postmoderne. Dementsprechend wird der Jugend vieles verziehen, nur nicht, wenn sie nicht voller Hoffnung und positiver Erwartungen in die Zukunft blickt. Den Menschen der Gegenwart ist der Pessimismus von höchster Stelle, vom Zeitgeist, der Motivationspsychologie, der Zukunftsforschung und der Politik quasi verboten. Sie haben zukunftsfroh und optimistisch zu sein. Nicht nur die Jugend, die ganze Gesellschaft unterliegt nahezu einer Pflicht zum Optimismus. Wer ihn nicht tagtäglich zeigt, hat mit gesellschaftlichen und beruflichen Nachteilen zu rechnen, wenn ihm nicht mit Psychotherapie, Psychopharmaka oder gar der Psychiatrie gedroht wird. Dabei wird vielfach verkannt, dass der schrankenlose Optimismus eigentlich das weit bedrohlichere Phänomen ist, tendiert dieser doch dazu, alles und jedes, was sich in Staat und Gesellschaft ereignet, zu affirmieren.
Im Gegensatz dazu scheint der Pessimist jener Typ zu sein, der nicht so leicht zum Opfer von Manipulationsversuchen wird. Skeptisch gestimmt, fällt sein kritischer Blick auf praktische Widersprüche und argumentative Tricks, auf ideologische Muster, mit denen Interessensgruppen aus Staat und Wirtschaft eigene Agenden, die den Interessen der Mehrheit entgegenstehen, durchzusetzen versuchen. Wenn man das Loblied des Pessimismus singt, muss man gleichzeitig auf die Möglichkeit der Entartung des Pessimismus zum totalen Pessimismus hinweisen, der darin gipfelt, hinter jeder Alltagserscheinung ein strategisches Konzept der Macht zu vermuten, die uns durch Manipulation geschickt lenkt und leitet. In einer solchen Form lähmt sich der Pessimismus selbst. Er kann sein emanzipatorisches und kritisches Potenzial dann nicht mehr praktisch entfalten und es entsteht eine Tendenz zur depressiven Zurückgezogenheit.
Im Kern betrifft der Rückgang der Werte die traditionelle bürgerliche Kultur. Vor den Augen der älteren Menschen verschwinden die moralischen Stützpfeiler ihres konservativ-bürgerlichen Ideals, die tragenden Säulen, wie Ordnung, Respekt vor Traditionen, Bildung, manierliches Verhalten aber auch Religion.
Weitgehend und tief greifend passiert dabei die Veränderung der Bildung. Die klassische bürgerliche Bildung befindet sich auf dem Rückzug. Bestes Symptom dafür sind wohl die Klassikerreihen, mit denen große Tages- und Wochenzeitungen den Bildungs- und Traditionsverlust entgegenzuwirken versuchen und die unter dem Motto »Was der gebildete Bürger kennen und wissen muss« verbreitet werden. (vgl. Kaufhold 2013) Es wird ein Kanon aus Texten, Musikstücken und Filmen angeboten, der wohl die Grundsubstanz unserer ästhetischen Kultur darstellen soll, das notwendige kulturelle Erbe, das trotz gegenwartsbezogenem Pragmatismus und Fortschrittseuphorie nicht verloren gehen darf. Ganz treffend stellt Martin Kaufhold mit Bezug auf diese Tendenzen, die Besitzstände der alten bürgerlichen Kultur zu kanonisieren, fest, dass »Kanonbildungen (…) das Zeichen einer ermatteten kulturellen Dynamik« sind. (Kaufhold 2013:12) Wir mühen uns gerade deshalb gerade so damit ab, unser kulturelles Erbe zu sammeln und festzuhalten, weil wir uns längst darüber im Klaren sind, dass es uns zwischen den Fingern zerrinnt, dass es nach und nach aus unserem kulturellen Alltag verschwindet. Um ihn nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, stellen wir uns den Kulturkanon in den Bücherschrank, möglichst hinter Glas, damit er nicht verstaubt, damit wir uns ab und an durch einen Blick dorthin versichern können, dass unser kulturelles Erbe noch existiert.
Bevor wir aber nun über Werte, Wertewandel und Umwertung der Werte weiterreden, vielleicht der Versuch einer ersten Begriffsklärung. Was sind Werte überhaupt? Was bezeichnet der Signifikant Werte eigentlich? Ganz allgemein gesprochen geht es, wenn wir von Werten sprechen, um das richtige, das gute Leben oder wie Hans Joas es formuliert, um attraktiv-motivierende Begriffe allgemeinster Natur, die uns dabei helfen sollen, den moralisch richtigen Weg durchs Leben zu finden. (vgl. Joas 1997: 288)
Bei genauerem Hinsehen werden wir jedoch bald erkennen, dass hier nur ein Aspekt des gesamten Werteuniversums reflektiert wird, nämlich die Werte im Sinne eines soziologisch-philosophischen Verständnisses. David Graeber, amerikanischer Ethnologe, Anarchist und intellektueller Mastermind der Occupy-Bewegung, verweist darauf, dass es mindestens drei verschiedene Wertetheorien gibt. Einerseits die eben bereits erwähnte soziologisch-philosophische Wertetheorie, auf die Hans Joas sich bezieht. In ihr geht es um die Diskussion von Auffassungen darüber, was im Leben der Menschen gut, richtig, wünschens- und begehrenswert ist. Dieser hinzuzufügen hat man aber, folgt man David Graeber, die ökonomische Wertetheorie, in der es um das Maß geht, in dem die Dinge erwünscht oder begehrt werden. Und am Ende bringt Graeber noch die linguistische Wertetheorie ins Spiel, die sich auf Ferdinand Saussure stützt. Nach Saussure ist der linguistische Wert eines Wortes dessen Bedeutung. Somit sind Werte in Wörtern verkörpert. Durch den Gebrauch der Sprache werden wir in unserem Denken und Handeln moralisch beeinflusst. Ohne dass es uns bewusst ist, prägen sich uns Werthaltungen und Einstellungen mittels der Sprache ein. (vgl. Graeber 2012:17ff.)
Die linguistische Wertetheorie von Saussure soll hier nur am Rande gestreift werden. Sie enthält aber einen Grundgedanken, der auch für unsere gegenwärtige Wertediskussion von größter Relevanz ist, nämlich, dass man den Wert, also die Bedeutung eines Begriffs, nur dann richtig verstehen kann, wenn man das Gesamtsystem, in dem dieser Begriff eingebunden ist, durchschaut. Für Saussure ergibt sich die Bedeutsamkeit eines Elements eines Systems aus dessen Differenz zu den anderen Elementen in demselben System. Seine strukturale Linguistik zeigt uns, dass wir die Werte und Bedeutungen immer im Kontext eines großen Ganzen sehen müssen. Die Bedeutung unserer gegenwärtigen Werte können wir also nur verstehen, wenn wir das gesamte kulturelle, soziale, ökonomische und politische System begreifen. Denn Werte kommen nicht von außen in unser Leben, sind nicht aus der Natur hervorgegangen oder von einem übermächtigen Gott in die Welt gesetzt. Vielmehr sind sie Produkte der Menschen und der Umstände und Verhältnisse ihres Zusammenlebens.
Wichtiger als die linguistische Wertetheorie ist für unsere...