Die letzte Klärung des Charakterproblems läßt sich nur durch das allmächtige Experiment erzielen. Nehmen wir an, irgendein Shakespearescher Gott ließe in einem Anfall von Bosheit Shakespeare ein zweites Mal als Sohn eines englischen Arbeiterführers auf die Welt kommen, oder aber er ließe Napoleon Bonaparte in dem Eiscremehandel von Brooklyn heranwachsen, um dann aufmerksam ein Menschenleben lang ihr Zappeln und Zucken zu verfolgen. Ohne eine derartige Vivisektion lassen sich die durch Erziehung, Umgebung und die Zufälligkeiten der Laufbahn erworbenen Eigenschaften aus dem Kern der eigentlichen Persönlichkeit; dem Ich, dem unsere unstillbare Neugier gilt, unmöglich herausschälen. Trotzdem hat menschliche Anmaßung von jeher versucht, zwischen Helden biographische Parallelen zu ziehen, sich vorzustellen, wie Alexander wohl als Cäsar, oder Casanova als Christoph Columbus gelebt haben würden, oder, was noch näher liegt, zu fragen, was wohl geschehen wäre, hätten sie in unseren und wir in ihren Schuhen gesteckt. Derartige Vergleiche bauen sich auf der unbeweisbaren Hypothese auf, daß des Menschen Verhalten der unmittelbare Ausdruck einer unveränderten Persönlichkeit sei; daß Alexander auch unter anderen Verhältnissen stets der erfolggekrönte Wagehals gewesen wäre, daß Cäsar seinen eisigen Mut auch in ein anderes Leben hinübergenommen hätte. Die Frage muß daher offen bleiben. Weit nutzbringender ist es, unter Ausschaltung des eigenen Ichs zwei Lebensläufe zu vergleichen, die in Umgebung, Lebensumständen und Auswirkungsmöglichkeit so verschieden wie nur möglich sind. Die Rollen zweier militärischer Eroberer, zweier Dichter, Entdecker oder Seeräuber zu vertauschen, hieße sich in einem Labyrinth feinster Abstufungen verlieren. Um glaubhafte oder auch nur interessante Unterschiede und Ähnlichkeiten auszusieben, die zum Verständnis von Persönlichkeit und Leben beitragen, bedarf es der Gegensätze, wie Schwarz und Weiß. Mir liegt daher jede Komik fern, wenn ich den Venetianer Giacomo Casanova dem Mazedonier Alexander an die Seite stelle. Was der keusche, gewissenhaft großartige Halbgott Asiens mit dem ausschweifenden, gewiegten Kartenspieler gemein hat, dessen höchste Leistung in einer Flucht aus dem Gefängnis gipfelt, und dessen ungekürzte Memoiren als nicht zur Veröffentlichung geeignet im Tresor des Leipziger Verlages Brockhaus ruhen müssen, solange es noch den Schatten eines Sittlichkeitszensors gibt, kann sich daher nur auf die Quintessenz des Wesens aller Abenteurer beziehen. Diese Gemeinsamkeit ist nicht nur eine geistige im Sinne einer halbphysikalischen Kraft: der Lebensdynamik, sondern hegt vor allem in der Gleichheit ihrer Flugbahnen. Sie sind Wurfgeschosse, die das organische Gewebe der Gesellschaft durchschlagen; beiden eignet die gleiche erbarmungslose Treffsicherheit, der gleiche unbeirrbare Egoismus, und obwohl die Größe des von ihnen angerichteten Schadens zweifellos erheblich variiert, ist ihre Reichweite doch die gleiche, und dasselbe mysteriös verhängnisvolle Gesetz der Ballistik ließ sie die gleiche persönliche psychologische Tragödie erleben.
Giacomo Casanova war der älteste Sohn eines untüchtigen, aber charmanten Burschen, eines Schauspielers aus Venedig, der eines Kuckucks Auffassung bezüglich der Aufzucht seiner Familie hatte.
Im Familienstammbaum fanden sich entlaufene Nonnen, Glücksritter, Pamphletisten, ein verunglückter Gefährte von Columbus, Kavaliere, die sich ganz der Liebe, dem Krieg oder der Literatur ergeben hatten, leichtsinnige Frauen und altkluge Kinder. Dieser Gaetano, Casanovas Vater, lief aus einem schäbig-vornehmen Vaterhaus davon, einem Dirnchen Fragoletta nach, die in einer wandernden Komödiantentruppe die Soubrettenrollen gab. Hier lernte er kleine Rollen, die er herzlich schlecht spielte. Als Fragoletta seiner überdrüssig war, kehrte er mit einer Schauspielertruppe, die im San Samuele Theater auftrat, nach Venedig zurück. Ihm gegenüber wohnte ein ehrbarer Schuhmacher, Farusi, mit einer theatertollen, lebhaften, fünfzehn bis sechszehnjährigen Tochter, Zanetta. Gaetano überredete sie, mit ihm durchzubrennen. Kurz darauf starb ihr Vater aus Gram.
Jedoch die beiden heirateten, und die Mutter verzieh ihnen. Giacomo, unser Held, war der Erstgeborene. Von seinem Vater, der starb, als er noch ein kleiner Bub war, sah er wenig, von seiner Mutter überhaupt nichts. Zanetta entpuppte sich als weltkluges, intrigantes Frauenzimmerchen und fand schließlich in einer lebenslänglichen Anstellung am Dresdener Hoftheater ihr Glück. So wurde Casanova schmerzlos der frühesten Lebensfessel, seiner Eltern, entbunden. Später bückte er sogar halb vergnügt, halb belustigt auf diese Tatsache zurück. Die blinde Güte seiner Großmutter forderte und erhielt nichts als seine Dankbarkeit. Seine Verwaistheit brachte ihm nur Vorteile, und kaum hatte er das Gehen gelernt, da adoptierten ihn zwei Pflegeeltern: sein Jahrhundert und Venedig.
Diese Stadt war zur Zeit seiner Geburt (1725) der lasterhafteste, bezauberndste Ort der Welt. Ihre prachtvolle Blüte, die sich in den Bildern Gentile Bellinis, Carpaccios und Veroneses widerspiegelt, war vorüber. Sie war nicht länger Mittelpunkt des Weltreichtums und der Weltpolitik, nicht länger eine Weltmacht und der Brückenkopf Asiens. Aber aus ihrer sterbenden Größe keimte gärendes Leben, das sich zu der lasziven Völlerei Altroms und dem triebhaften Überschwang Sodoms und Gomorras etwa so verhält, wie diese selbst sich zu den sehnsüchtigen Banalitäten des modernen Nachtlebens von London, Paris und Berlin verhalten. Möglich, daß auch in Venedig gute, freundliche Menschen wohnten. Casanova hatte sie anscheinend nicht gekannt. Die verblaßte Pracht der Paläste, der untilgbare Schmutz der Lagunen, das Labyrinth' der Riones und Kanäle, der Weihrauch der Kirchen, »üppig wie die Schatzhöhlen der Piraten«, der kranke Duft von Moschus und Zibeth und von faulenden Gewürzen in den Lagerschuppen am Kai, die einst das Monopol des Ostens besaßen, fließen in seinen Memoiren zu einem einheitlich üppigen Gemälde zusammen. Das Gleichnis einer aus einem Düngerhaufen erblühenden, ungesunden exotischen Blume drängt sich uns bei Beschreibungen von Casanovas Venedig fast mit Gewalt auf. Trotzdem brachte der durch ein Zusammenwirken von Geschick und Geschichte herbeigeführte Verfall seiner stolzen Kraft und Macht nichts Unedleres, nichts Verkommeneres als die fetteste Komposterde hervor, auf der die Europa endemischen Pflanzen: Geist, Eleganz, Humanität, üppiger blühten und gediehen als jede Orchidee. In Wahrheit läßt sich weder der tropische Luxus Brasiliens, wo die Erregung der Sonne, nicht der Phantasie entspringt, noch das grämliche Durcheinander der asiatischen Höfe mit dem ureigenen typischen Glanz des sterbenden Venedig vergleichen. Dieser war so einzigartig wie ein französischer Jahrmarkt, ein englischer Sonntag oder ein deutsches philharmonisches Orchester.
Folglich war das Leben, in das Casanova hineingeboren wurde und zu dem seine Erinnerungen unser bester Führer sind, nicht eine zufällige, von fremden Einflüssen geschaffene Erscheinung, sondern ein vollendet schöner Ausdruck der erkrankten Zeit. Folgende Wahrheit trifft auf das vielgestaltige achtzehnte Jahrhundert zu und liegt all seinen zahllosen Einzelwahrheiten zugrunde: Das Gerippe der Gesellschaft war verkalkt und verhärtet, wie die Arterien eines Greises. Politisch und sozial war es daher, außer im weitesten Sinne des Wortes, weder degeneriert noch verkommen, sondern nur versteift, bei einer Entwicklungsstufe angelangt, die jede Veränderung aus dem natürlichen Verlauf der Dinge ausschloß. Alles war in festen Händen, erledigt, vollendet; die menschliche Rasse war in einem Maße, wie das weder früher noch später der Fall gewesen ist, die Gefangene ihrer eigenen Logik, ihrer eigenen gesetzlichen Geometrie, Regeln und Statuten, mit einem Wort ihrer Vergangenheit. Weder Könige noch Völker vermochten das zu ändern; Europa hatte sich eingesperrt und den Schlüssel verloren. In der Mauer, die alle Menschen umschloß, fand sich auch nicht der kleinste Spalt, um einen Abenteurer, mochte er noch so begabt sein, hindurchzulassen. Man stelle sich eine Explosion im geschlossenen Räume vor: so und nicht anders wirkte die Revolution, die dem allen ein Ende machte. Aber Casanova erscheint vor der Revolution: Sein ungeheuer bewegtes Leben verläuft, wie das der anderen, hinter Mauern. Sein Abenteuer spielt sich im Innern des Körpers der Gesellschaft ab; ja man kann ihn als Parasiten bezeichnen, der sich von ihren Eingeweiden nährt.
Der Geist des Zeitalters, will man ihm einen Namen geben, war demnach nicht Fin de siècle, wie die erschöpften Zeiten Maupassants oder Wildes, sondern Fin de monde; alles Optimistische, Vorausschauende war unmodern. Das Geheimnis des venetianischen Karnevals war die Verzweiflung an der Gesellschaft. In diesen, in allen Farben einer fortgeschrittenen Zivilisation schillernden Hintergrund webte der Venetianer die seltenste aller Freuden: eine neue Art der Liebe, eine Liebe, so eilig, so folgenlos, als wären alle Menschen zum Tode verurteilt und sähen in einem gemeinsamen Gefängnis ihrer Hinrichtung entgegen: eine aristokratische, häuslichkeitsfeindliche Liebe, die als Krönung und Steigerung des geistigen Genusses noch von Geheimnis umgeben wird. Ihr Symbol ist die Maske. Jene gefährliche, dunkel an die Vergangenheit...