Vorwort zur deutschen Ausgabe
NACH NAPOLEONS NIEDERLAGE beriefen die Siegermächte einen »allgemeinen Kongress« ein, um das durch zweiundzwanzig Kriegsjahre verheerte und erschütterte Europa neu zu ordnen. Acht Monate dauerte die Versammlung, sie endete mit der Unterzeichnung der sogenannten »Schlussakte« am 9. Juni 1815. Unter der Leitung der vier Hauptmächte – England, Russland, Österreich und Preußen – machten sich mehrere hundert Repräsentanten bestehender wie auch bereits von der Landkarte verschwundener Staaten ans Werk, um für den Kontinent ein neues Gleichgewicht auszuloten. Zu dessen Kontrolle hoben sie das sogenannte »Europäische Konzert« aus der Taufe.
Auch wollten sie die Einflussgebiete neu definieren sowie die Prinzipien der Legitimität und der Souveränität wiederherstellen. Darüber hinaus sollte das Völkerrecht modernisiert werden, man lud die Fürsten sogar ein, ihren Ländern eine Verfassung zu geben; ganz hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution und des Kaiserreichs wollte man nicht zurückkehren.
Aber diese Wiener Zeit war auch geprägt vom Wunsch nach Frieden. Auf glanzvollen Festen, an reich gedeckten Tischen und in den Alkoven, deren Geheimnisse das eine oder andere Mal gelüftet wurden, suchte man das »süße Leben«. »Der Kongress arbeitet nicht, er tanzt«, höhnte der Fürst von Ligne, zu Unrecht. Viele Darstellungen des Wiener Kongresses kaprizieren sich auf diesen Nebenaspekt und gehen damit an der Hauptsache der größten diplomatischen Versammlung aller Zeiten vorbei. Denn diese war weit mehr als ein großer Wirbel von Festen und Bällen, Schauspiel und Konzerten.
Die Verhandlungen verliefen nicht ohne Zwischenfälle, Auseinandersetzungen und schwere Krisen, es drohte sogar ein neuerlicher Krieg. Dennoch gelang es den Souveränen und Bevollmächtigten schließlich, ihre Arbeit angesichts der Bedrohung durch Napoleons Rückkehr zügig abzuschließen. Die Zeremonie zur Unterzeichnung der Verträge wurde einige Tage vor der Schlacht von Waterloo abgehalten – Napoleon hatte, wenn man so sagen darf, den Kongress »gerettet«. Und die Ergebnisse waren höchst bemerkenswert: Nicht zuletzt bescherte er Europa ein ganzes Jahrhundert ohne großen Krieg, was bis dahin – und bis heute – ohne Beispiel geblieben ist.
DER WIRBEL DER AUF DEN WIENER KONGRESS folgenden Ereignisse, die beiden Weltkriege und die heutige friedliche Ausrichtung des geeinten Europa täuschen leicht darüber hinweg, dass diese Konferenz, auf der alle europäischen Staaten und nicht wenige Interessengruppen zugegen waren, eine gigantische Arbeit verrichtet hat, die durch die unerwartete Rückkehr Napoleons noch erschwert wurde. Deshalb verdient es die Geschichte dieser höchst außergewöhnlichen diplomatischen Versammlung erzählt und analysiert zu werden.
Je tiefer ich mit meinen Recherchen drang, desto mehr sah ich mich in meiner Ansicht bestätigt, wie bedeutsam dieser Kongress für die Neuordnung Europas und dessen Schicksal im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Die alten Klagen, die den Sieg des »Ancien Régime« über die »Revolution«, der konservativen über die progressiven Denker oder der »Monarchen« über die »Nationen« betonen, verfehlen seine wirkliche Bedeutung. Aus diesem Grunde habe ich eine europäische Geschichte des Wiener Kongresses zu schreiben versucht, indem ich mich der Frage nach den wirkmächtigen geopolitischen Kräften gewidmet und das größtmögliche Panorama an Akteuren aufgefächert habe. Die Geschichte der Diplomatie in Europa seit 1815 zeigt, weshalb sich die Kriege des 19. Jahrhunderts, so grausam und gewaltsam sie auch gewesen sein mochten, nicht in einen allgemeinen Krieg auswuchsen.
Das auf dem Wiener Kongress ausgehandelte Europäische Konzert war in dieser Hinsicht ein »Sicherheitsrat« avant la lettre. Funktionieren konnte es nur, solange die Supermacht jener Zeit schlechthin, nämlich England, ihre Rolle darin verantwortungsvoll spielte. Doch als sich London kaltherzig aus den europäischen Angelegenheiten zurückzog, da diese kaum mehr seine direkten Interessen betrafen, geriet das europäische Gleichgewicht ins Wanken. Das war vor nunmehr einhundert Jahren, und gewiss gibt uns dieses Faktum auch für die Gegenwart zu denken, da sich eine andere Supermacht anzuschicken scheint, ähnlich zu verfahren.
Doch zurück zur Geschichte des Wiener Kongresses: Meine Arbeit hat mich auch darin bestätigt, dass es eine spezifisch französische Sicht auf dieses Ereignis gibt. Die Historiker meines Heimatlandes wollten aus den auf dem Kongress erwirkten Ergebnissen allzu oft herauslesen, dass dessen alleiniges Ziel darin bestand, Frankreich zu erniedrigen, aus der großen Politik zu bannen und von den anderen Mächten fortan aufs Strengste überwachen zu lassen. Diese Sicht der Dinge ist sicher nicht ganz falsch, muss aber im richtigen Kontext gesehen werden: Nach fünfundzwanzig Kriegsjahren, für die Frankreich nach Meinung der Sieger der Hauptverantwortliche war, erschien es nurmehr logisch, die Gelüste der Grande Nation zu zügeln. Was dann auch geschah, allerdings mit einem durchaus visionären Ziel: Man wollte Frankreich in seine Grenzen verweisen, ohne es aber gänzlich zu zerstören oder seine Vorherrschaft durch eine andere zu ersetzen. Aus diesem Grunde nahm der Wiener Kongress an zahlreichen anderen Stellen der Landkarte Korrekturen vor, um das Machtgebaren Russlands, Preußens, Österreichs und Englands einzudämmen und ein Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen, das auf dem einzigen damals allgemein akzeptierten Prinzip gründete: der monarchischen Legitimität. Man kann mit Gewissheit sagen, dass die Unterhändler Europas zu anderen Gelegenheiten, sei es vor oder nach diesem großen diplomatischen Treffen, mit weit weniger Umsicht und Besonnenheit agiert haben.
Ein Aspekt der »französischen« Sichtweise des Wiener Kongresses ist dabei einer genaueren Betrachtung wert: Viele französische Historiker halten die Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland der Jahre 1870, 1914 und 1939 für eine direkte Folge der Gebietsneuordnungen von 1815. Sie sehen darin einen »Verrat« an den allgemeinen Interessen Europas, da Preußen durch das Vorrücken an die französische Grenze ein allzu prominenter Platz eingeräumt worden sei. Dies sei der Grund für die drei nachfolgenden Katastrophen. Ich werde diese Theorie ausführlich darstellen und versuchen, sie ins rechte Licht zu rücken.
Fast sechzig Jahre liegen zwischen dem Wiener Kongress und dem Frieden von Frankfurt, der nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 geschlossen wurde. Die Diplomaten von 1815 müssten schon ein bemerkenswertes, beinahe teuflisches Gespür für Zukünftiges gehabt haben, wenn sie jene nächsten Kriege zwischen Frankreich und Preußen vorausgeahnt oder gar vorbereitet hätten. Es ist kaum übertrieben zu behaupten, dass sich die französische Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, was die Geschichte Deutschlands zwischen 1815 und 1870 betrifft, einem fröhlichen Vergessen hingegeben hat. Denn diese Geschichte war nicht vorherbestimmt. Und wer hätte nach der Unterzeichnung der Schlussakte 1815 und der Schaffung des Deutschen Bundes erahnen können, dass Preußen die Oberhand gegenüber Österreich gewinnen und sich das »dritte Deutschland« (die deutschen Staaten ohne Preußen und Österreich) am Ende nicht für Wien, sondern für Berlin entscheiden würde?
Auch aus persönlichen Gründen freue ich mich, dass mein Buch nun einem deutschen Publikum vorliegt. Da ich aus eben jenem Lothringen stamme, das im Frieden von Frankfurt vom Deutschen Reich annektiert wurde, interessiere ich mich seit jeher für die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland. Und auch für deren Krisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bei denen es den Anschein hat, als habe sich Deutschland den ja eigentlich preußisch-französischen Konflikt ganz und gar zu eigen gemacht. Denn wer sich die Landkarte Europas vor der Französischen Revolution anschaut, wer sich mit der Diplomatie, den Anwandlungen und Ängsten der deutschen Staaten im Süden und Westen befasst und deren Interessen mit denen Frankreichs abgleicht, wird feststellen, dass diese Beziehung fast zwangsläufig auf eine wenn nicht innige Freundschaft, so doch zumindest auf eine Interessensgemeinschaft hätte hinauslaufen müssen.
Die Konflikte, die nach dem Wiener Kongress zwischen unseren beiden Nationen auftraten, wurzelten kaum in dieser Geschichte. Und so versuchten die Diplomaten des Wiener Kongresses schlicht, das Bedürfnis nach Sicherheit mit dem Wunsch nach einem ausgewogenen Gleichgewicht zu vereinen. Dabei beschlossen sie Frankreich zu beschneiden, und zugleich Preußen Gebiete zuzusprechen, die es kaum würde beherrschen können. Doch sie hatten nicht mit dem Geschick der Berliner Politik – ich denke da natürlich vor allem an Bismarck – und der Visionslosigkeit der Entourage Napoleons III. gerechnet.
Die Diplomaten wählten jene Lösung, die ihnen damals, 1815, als die beste erschien. Ja, ich glaube sogar, dass es angesichts der damals herrschenden Machtverhältnisse und Einflussbereiche gar keine andere Lösung gab.
Ich bin, im Jahre 1959 geboren, ein Kind der deutsch-französischen Versöhnung, deren Schwierigkeiten, Anstrengungen und Erfolge ich mein Leben lang habe beobachten können. Unsere beiden Völker sind einander näher und können mehr voneinander lernen, als sie bisweilen glauben. Ich habe von meiner bescheidenen Warte aus versucht, die Geschichte des Wiener Kongresses neu zu schreiben, deren sie umrankende Legenden völlig unnötigerweise Rivalitäten geschürt haben. Und ich habe...