3 Bonbons für 5 Jungs – Strategische Hypnotherapie
Am Anfang meiner Laufbahn als Psychologe hörte ich etwa 1985 auf einer kleinen Tagung in der Schweiz einen Vortrag eines ärztlichen Psychotherapeuten. Den Namen dieses Kollegen konnte ich leider nicht mehr herausfinden, obwohl er mein strategisches Denken über Psychotherapie mit diesem Vortrag sehr beeinflusst hat. Ich erinnere mich, dass der vortragende Arzt berichtete, er habe als junger Therapeut beim Beobachten eines alten erfahrenen Therapeuten den folgenden Eindruck gewonnen: Erfahrene Therapeuten intervenieren weniger, sie machen viel weniger als die jungen Therapeuten, aber das Wenige, was sie machen, bereiten sie viel besser vor. Er hat damals davon gesprochen, dass man ein Bühnenbild für die Intervention brauche. Man müsse die Bühne vorbereiten, auf der das Stück dann gespielt wird.
Wenn ich nun zurückblicke, hat das Studium der Strategien von Milton Erickson in Verbindung mit dieser Idee des Bühnenbildes meine therapeutische Entwicklung geprägt. Vielleicht war ich am Anfang meiner Laufbahn innovativer mit meinen Interventionen. Über die Jahre, mit wachsender Therapieerfahrung, wurde jedoch meine strategische Vorbereitung der Interventionen komplexer. Dabei spielten auch die Denkansätze und Vorträge von Jeff Zeig eine Rolle. Er hat immer wieder mit Filmfachleuten diskutiert und deren Ideen und Konzepte für gelungenes Storytelling und Dramaturgie genutzt, um therapeutische Strategien besser zu verstehen und zu optimieren.
Ericksonsche Therapeuten sprechen von Seeding, also dem Säen von Ideen, die Sozialpsychologen nennen das Priming, die Theaterwissenschaftler »foreshadowing«. Ein bekannter Ausspruch, der dem Dramatiker Anton Tschechow zugeschrieben wird, illustriert das treffend:
»Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert.«
Die späteren Themen werden also dramaturgisch vorbereitet.
Und nun zu dem Fall, der mich zum Titel dieses Buches inspirierte:
Eine Mutter meldet sich in der Praxis wegen ihrer Tochter. Die Tochter Anette ist elf Jahre alt und stottert. Das Stottern sei nicht das unmittelbare Problem, denn eigentlich sei Anette sehr mutig und frech. Außerdem habe sie sich bisher durch ihr Stottern nicht sonderlich beeinflussen lassen; sie habe sogar in der Kirche vorgelesen.
Jetzt seien da aber einige Jungen an der Schule, die angefangen hätten, sie zu ärgern. Dabei gehe es auch nicht ausschließlich um das Stottern, sondern um das leichte Übergewicht des Mädchens. Am Beginn der Pubertät sei der Doppelangriff auf das Sprechen und ihre äußerliche Erscheinung wohl zu viel. Anette komme seit einiger Zeit oft weinend nach Hause und wolle auch in der Kirche nicht mehr vorlesen.
Da Eile geboten zu sein scheint, gebe ich der Familie mit Tochter sofort einen Beratungstermin. Bei dieser ersten Sitzung zeigt sich Anette in der Tat sehr fröhlich und selbstbewusst. Als das Gespräch allerdings auf die Hänseleien kommt, treten ihr sofort Tränen in die Augen. Ich kann spüren, wie sehr diese Hänseleien sie verletzen. Auch die Eltern zeigen sich von diesem plötzlichen Stimmungsumschwung in der Sitzung sehr betroffen. Anette erzählt, dass es sich immer um dieselben vier oder fünf Jungen handele, die sie hänseln. Am schlimmsten sei es, wenn sie ihr auf dem Schulhof »Anananette, dicke Fettette« nachrufen.
Während sie erzählt fallen mir spontan zwei Anekdoten über Milton Erickson ein, die ich noch nie therapeutisch genutzt habe. Zudem habe ich das Gefühl, ich sollte das Mädchen wieder mehr mit seinem frechen schlagfertigen proaktiven Teil in Kontakt bringen und diese Ressource therapeutisch utilisieren. Also erzähle ich Anette:
»Es gab einmal einen Mann, der war immer sehr neugierig und experimentierfreudig. Vor allem liebte er es, die Reaktion der Leute zu beobachten, wenn er sich komisch und unerwartet verhielt, wenn er etwas tat, womit keiner gerechnet hatte.
Einmal im Flugzeug saß ein Mann neben ihm, der hatte eine ungewöhnliche Armbanduhr. Der Mann griff nach dem Arm seines Sitznachbarn und hob ihn hoch: ›Sie haben aber eine interessante Uhr, kommt die aus der Schweiz?‹ Er verstrickte den Mann in ein so interessantes Gespräch, dass dieser zehn Minuten später den Arm immer noch in der erhobenen Position in der Luft hatte.«
Dabei demonstriere ich den erhobenen Arm. Das Mädchen kichert darüber, dass jemand vergessen kann, seinen Arm wieder runterzunehmen. Die Eltern sehen mich etwas irritiert an, als ob sie sagen wollten: Weiß unser Therapeut noch, was das Problem ist und weswegen wir hier sind?
Dann folgt schon die zweite Anekdote:
»Einmal hatte es dieser Mann sehr eilig. Er bog um eine Hausecke und lief voll in einen anderen Passanten hinein. Normalerweise hätte er sich entschuldigen müssen, wie jeder andere in dieser Situation es getan hätte. Doch der Mann tat etwas ganz anderes: Anstelle eines ›Es tut mir leid, habe ich Ihnen wehgetan?‹, schaute er sehr bedeutungsvoll auf seine Armbanduhr und sagte: ›Ja, es ist genau 15.10 Uhrl‹, dann ging er einfach weiter. In Wirklichkeit war es 17·30 Uhr. Nach einigen Schritten drehte er sich um, um zu sehen, was mit dem anderen Fußgänger passierte. Dieser stand noch immer starr, regungslos und grübelnd an dem Platz, an dem er angerempelt worden war, weil er nicht so schnell einordnen konnte, was gerade geschehen war.«
Anette beginnt zu kichern, als wüsste sie intuitiv, worauf ich hinauswill. Die Eltern hingegen sind sehr irritiert und verstehen offensichtlich gar nicht, was das mit dem Problem zu tun hat.
Ich wende mich an Anette: »Wäre das nicht irre, wenn dir auch so was Verrücktes einfallen würde? Etwas, womit diese Kerle niemals rechnen würden und von dem sie so überrascht wären, dass sie starr wie Salzsäulen stehen blieben?« Anette ist begeistert von dieser Idee, und wir beginnen, herumzublödeln und die verrücktesten Ideen zu entwickeln, wie man mit den Jungen verfahren sollte. Schließlich kommen wir auf folgende Idee: Sobald die Jungen wieder anfangen »Anananette, dicke Fettette« zu rufen, soll sie einfach auf die Jungs zugehen, in ihre Tasche greifen, drei Bonbons herausziehen und diese verteilen. Da es aber drei Bonbons und fünf Jungen sind, ist natürlich klar, dass nicht jeder eines bekommen kann. Sie wird also die drei Bonbons willkürlich verteilen und sagen: »Mehr gibt’s heute aber nicht!« Dann soll sie sich umdrehen und in aller Ruhe einige Schritte gehen. Nach 10 bis 15 Metern kann sie sich dann umdrehen und nachschauen, was passiert, ob die Jungen noch immer wie gelähmt mit einem Bonbon in der ausgestreckten Hand dastehen. Anette sitzt da und kichert und strahlt, die Traumatisierung scheint aufgelöst. Plötzlich ist sie kein passives Opfer mehr, sondern greift aktiv in das Geschehen ein. Da wir alle sehr gespannt auf das Ergebnis des Versuchs sind, gebe ich Anette schon zehn Tage später einen weiteren Termin. Was sie bei diesem Folgetermin erzählt, ist überraschend:
Die Jungen haben sie während der ganzen Zeit kein einziges Mal gehänselt. Anette ist sogar etwas enttäuscht, weil sie die Bonbons nicht losgeworden ist. Sie hat offensichtlich viel zu frech aus der Wäsche geschaut, als dass sich irgendjemand auf eine Konfrontation mit ihr eingelassen hätte. Also gebe ich ihr 20 Minuten lang gute Ratschläge, wie sie sich verhalten solle, damit die Jungen wieder mit dem Hänseln anfangen. Die Idee erscheint uns einfach viel zu gut, als dass man sie unerprobt lassen könnte. Wir üben, wie Anette auf den Boden schauen, dem Blick der Jungen ausweichen, zögernd und unsicher über den Schulhof gehen könnte usw. Doch es hilft alles nichts. Die Jungen hänseln sie – »leider« – nie wieder.
Anette kam danach noch ein Jahr lang zu einer regulären Stottertherapie zu mir. Von ihrem Mut, ihrer Intelligenz und ihrem schlagfertigen Humor war ich immer wieder beeindruckt.
Ein halbes Jahr später kommt ein neunjähriger Junge in Therapie, der ebenfalls wegen seines Stotterns von einem Klassenkameraden gehänselt wird. Dem Jungen erzähle ich die Geschichte von Anette und, dass wir leider immer noch nicht wissen, ob dieser Trick funktionieren würde. Der Junge besitzt eine Stoppuhr. Deshalb bekommt er die Aufgabe, ein Bonbon auszugeben und zu sagen: »Du bekommst heute aber nur eins«, und dann die Stoppuhr zu drücken, damit wir herausfinden können, wie lange jemand braucht, um sich wieder bewegen zu können. Drei Wochen später kommt der Junge wieder und teilt uns das Ergebnis mit: 40 Sekunden lang habe der andere bewegungslos dagestanden.
»Dann hast du ihm also ein Bonbon gegeben?!«, frage ich erstaunt. Zu meiner Verwunderung höre ich, dass er das Bonbon nicht verschenkt hat. Als guter, sparsamer Schwabe hat er die Aufgabenstellung etwas abgewandelt. Er hat dem anderen lediglich von Weitem zugerufen: »Nächstes Mal bekommst du ein Gutsele (schwäbisch für Bonbon)!« Dann hat er die Stoppuhr gedrückt.
Ich habe diese Technik später noch einmal bei einem Zehnjährigen ausprobiert. Dieser war allerdings zu schüchtern, um so etwas zu wagen.
In den beschriebenen Fällen kommt vor allem der strategische Aspekt des ericksonschen Vorgehens zum Tragen. Die Intervention hat jeweils einen mehrstufigen Aufbau, die Schritte werden wie im Schachspiel vorausgedacht und geplant. Zuerst eine Anekdote, die mit dem Problem scheinbar nichts zu tun hat, aber lustig und unterhaltsam ist.
Humor ist ein gutes Mittel gegen Hilflosigkeit und Schamgefühle. Anschließend...