2 Die Möpse müssen ins Körbchen
Plötzlich war da ein Strich. Außen an meiner linken Brust. Rot und so lang wie ein Streichholz. Hat Muschi dich da vielleicht gekratzt?, fragte meine Mutter, und der Gedanke war durchaus naheliegend, denn Muschi kratzte mich täglich. Zu Recht, weil unsere Katze Muschi musste bei meinem Bruder und mir ziemlich was aushalten. Robin-Hood-Hüte aus Filtertüten, Ritterrüstungen aus Alufolie, Krankentransporte per Puppenbett, Flucht über die innerdeutsche Grenze aus Wollfäden im Kinderzimmer, mit Sisaltodesstreifen, Spielzeugkistenwachturm, Schrubbergrenzschranke und Spuckekugelschießbefehl.
Unsere Muschi war für wirklich viel zu haben, aber wenn sie die Katzenschnauze voll hatte, fuhr sie eben ihre Krallen aus.
Am nächsten Tag waren zwei weitere Striche auf meiner linken Brust zu sehen und einer auf der rechten. Muschi war also entlastet und meine Mutter sehr besorgt. Wir-müssen-zum-Arzt-Gesicht. Das ist bestimmt nichts Schlimmes, Anni, aber ich möchte das lieber abgeklärt wissen. Ab zu Herrn Dr. Miller also. Wieder mal. Und wieder wegen meinen Brüsten.
Da saß ich. Auf einem der knallorangen Ministühle des Wartezimmers unter einem gerahmten Großformatfoto eines mampfenden afrikanischen Jungen mit Reisbreischüssel. Und während sich um mich herum Impfbabys und Keuchhustenkinder um abgegrabbeltes Bazillenspielzeug und Bilderbücher mit Kotzflecken stritten, wartete ich darauf, mich oben ohne auf einen der als Eisenbahnwaggon dekorierten Behandlungstische zu setzen und Herrn Dr. Miller, meinem Kinderarzt, meinen Busen zu zeigen.
Und das war viel mehr Busen als letztes Mal.
Da waren es nämlich nur geschwollene Brustwarzen gewesen.
Ich war morgens aufgewacht, und sie taten weh. Waren hart, als hätte jemand über Nacht, während ich die Träume einer Zehnjährigen träumte, von Welpen und Cherry-Coke-Dosen, von Höhlen im Wald und Pierre Cosso, mir jeweils links und rechts ein Fünfmarkstück implantiert. Autsch! Meine Mutter hatte gesagt, sie wolle das lieber abgeklärt wissen, und Herr Dr. Miller – nach gründlichem Abtasten –, dass es sich nicht um beidseitigen Brustkrebs handele, sondern um ganz normales präpubertäres Wachstum meiner Milchdrüsen, und sie könne mir ja Quarkwickel machen, dann würden die Brustwarzen vielleicht wieder abschwellen.
Diesmal war es aber offensichtlich, dass hier härtere Bandagen angelegt werden mussten als in Geschirrhandtuch gewickelter Magerquark.
Tja, deine Brüste wachsen ganz schön schnell, Seppel.
Herr Dr. Miller fand es immer noch lustig, mich Seppel zu nennen.
Er kannte mich ja schon mein ganzes Leben. Auch in der Zeit, in der ich darauf bestanden hatte, kein Mädchen zu sein, sondern ein Junge und Seppel zu heißen, wie der Kumpel von Kasper aus Der Räuber Hotzenplotz. Herr Dr. Miller hatte es sogar so lustig gefunden, mein kindliches Gender-Bender-Gebaren ernst zu nehmen, dass er auf meiner Karteikarte den Vornamen Annika von seiner Sprechstundenhilfe durchstreichen und durch Seppel ersetzen ließ. Und selbst jetzt, wo mein Kurzhaarschnitt schon dermaßen rausgewachsen war und ich nun mit Haarreif, Pferdeschwanz und prallem Busen vor ihm saß, konnte er von so einem tollen Praxis-Insider wie dem Seppel Line Trost einfach nicht lassen.
Deine Brüste wachsen so schnell, Seppel, dass dein Bindegewebe da nicht mitkommt. Deshalb ist an den Stellen, wo du jetzt die roten Striche siehst, er fuhr mit seinem Zeigefinger die Außenseite meiner linken Brust entlang, deine Unterhaut gerissen. Und damit sie nicht weiterreißt, ist es jetzt sehr, sehr wichtig, er hob mit beiden Händen meinen Busen etwas an und drückte ihn mit einem leichten Ruck zusammen, dass wir deine Brust stützen.
Seppel, du bekommst einen BH.
Die Möpse mussten also ins Körbchen.
Mit dem ersten BH ist das ja so:
Manche Mädchen nerven ihre Mütter so lange, bis sie ihnen endlich das Geld und die Erlaubnis dafür geben.
Manche Mädchen fischen sich heimlich einen aus dem Schrank der großen Schwester, in der Hoffnung, sich ihren Schwarm damit zu angeln oder sogar den Schwarm der großen Schwester.
Manche Mädchen ziehen mit ihren Busenfreundinnen los und kichern sich durch Wäscheabteilungen, dass die Kabinenwände wackeln.
Manche Mütter von Mädchen machen aus der Anschaffung ein rührseliges Mutter-Tochter-Happening und kleben den Kassenbon zwanzig Jahre später in die Hochzeitszeitung.
Manche Mädchen brauchen eigentlich gar keinen, wollen aber nicht die Einzige ohne sein.
Manche Mädchen brauchen unbedingt einen, um ihn mit Klopapier auszustopfen.
Für manche Mädchen ist er ein Zeichen an die Welt, dass sie kein Mädchen mehr sind, sondern eine junge Frau, die sie von nun an bereit sind zu stehen.
Und dann gibt es eben noch andere Mädchen, so wie ich eines war, die bekommen ihren ersten BH aufgrund einer medizinischen Indikation ärztlich verordnet, wie eine Brille, wie eine Zahnspange oder Anti-Senkfuß-Einlagen.
Some boobs are bigger than others.
Na toll. Aber zum Glück war ich ja im Verbummeln von Körperkorrekturkram mittlerweile ein Vollprofi. Diese Sachen, die einem angeblich helfen sollen, das Leben zu verbessern, in Wirklichkeit aber alles bloß kompliziert, peinlich und scheiße machen, konnte ich meisterlich verschwinden lassen.
Das Aquarium zum Beispiel war für meine Brille ein absoluter Top Spot. Sechs Tage lang hatte meine Mutter jedes Kissen der Wohnung umgedreht, Schubladen ausgeräumt und sogar einen Brille-verloren-Zettel an das schwarze Brett des Kiosks unserer Straße geklebt. Meine Zahnspange mit der dazugehörenden Kinnklappe, die mit Stahlhaken in ein Kunststoffstirnband eingehängt wurde, tarnte ich oft erfolgreich als alte Lampenfassung mit Lüsterklemme im Werkzeugkasten meines Vaters.
Und so war ich mir sicher, als ich mit meiner Mutter die Rolltreppe zur Unterwäscheabteilung von Hertie-Spandau hochfuhr: Auch für den bescheuerten Kack-BH würde ich schon die geeignete Sofaritze finden.
Aber erst mal fand ich mich zwischen einer dicken Verkäuferin mit Turmfrisur und meiner Mutter vor dem neonbeleuchteten Spiegel einer Anprobekabine wieder.
Schon wieder oben ohne.
Na Kleene, du bist ja och nich’ gerade aus Bergisch Glattbach, wa?
Hä, woher …???
Mit kaltem Kunststoffmaßband wurden erste Zahlen eingeholt. Die Vermessung meiner neuen Welt der äußeren Werte hatte begonnen.
Dit sind 70 Zentimeter Unterbrust und 86 Brust. Differenz also 16. Wird wohl ’ne jute 70 B sein. Ick bring’ aber zur Sischerheit lieber och noch ein, zwei Cs mit.
70 – 86 – 16 – B – C – Bahnhof!
Das toupierte Fachkraftorakel verschwand durch den Kabinenvorhang. Meine Mutter schaute mir durch den Spiegel auf die Brüste. Alles-ist-gut-Gesicht.
Weißt du was, Anni, wenn wir hier gleich fertig sind, gehen wir noch in den ersten Stock in die Musikabteilung, und dann kannst du dir eine Schallplatte aussuchen. Okay?
Klar okay.
Vorhang auf für die Verkäuferin. Schächtelchen öffneten und schlossen sich. Bügel baumelten. Brüste blitzten. Wie wild wirbelnde Wäsche. BH-Parade.
Häkchen in Ösen, Justieren der Träger, griffiges Gezuppel, Frauenfinger mit langen Lacknägeln schoben sich unter Gummibänder, anziehen, loslassen, schnapp.
Da müssen immer zwei Finger dazwischen passen.
Dit darf nich’ einschneiden.
Oh, hab’ ick dich jekratzt?
Einmal Arme hoch, bitte.
Umdrehen.
Gerade stehen, Püppi.
Nee, dit is tatsächlich schon ’n C-Körbchen.
Hätt’ ick mit Schmetterlingsschleifchen und Glitzerstein.
Oder och immer praktisch is’ ja ein französischer Verschluss. Der sitzt vorne. Muss man sich nich’ beim An- und Ausziehen hinterm Rücken so verrenken.
Aber für den Anfang is’ wahrscheinlich ein Sport-BH dit Beste. Der ist zwar nich’ chic, aber hält jut.
Welcher BH war mir Jacke wie Hose.
Vielleicht wollte ich Schmetterlingsschleifchen und Glitzerstein, ohne es zu merken, vielleicht wollte ich einfach nur Raupe bleiben. Vielleicht wollte ich den französischen Verschluss, ohne es zu merken, oder einen unkomplizierten polnischen Abgang. Es könnte sogar sein, dass ich lachte und staunte, ohne es zu merken, über den großen Tittenzirkus, der nun in mein Leben zog, vielleicht weinte ich auch.
Ohne, dass es meine Mutter oder die Turmfrisur gemerkt hatte, war ich nämlich längst hinter der Scheibe. Dort wo das Brausen, die Fanfaren, das Knallen der Peitsche in der Manege der Beklopptheiten weniger hallen, aber auch jedes Halt! erstickt, bevor es etwas aufhalten könnte. Ich war mein Spiegelbild-Ich.
Das Spiegelbild-Ich ist eine Möglichkeit, sich rauszuziehen, wenn einem Situationen zu dicke kommen. Es ist wie eine Schutzmeditation. Ein Halbschlaf. Ein gepolsterter Platz auf dem Zuschauerrang der Selbstvorstellung. Mit...