Tendenzen und Probleme der neueren Holocaust-Forschung: Eine Einführung
Forschungen über den Holocaust gehörten noch viele Jahre nach Kriegsende zu den Randthemen der Geschichtswissenschaft, oft betrieben von akademischen Außenseitern, die in Fachwissenschaft und Öffentlichkeit zunächst wenig Beachtung fanden. So stieß das 1961 erschienene Monumentalwerk »The Destruction of the European Jews« des späteren Nestors der Holocaust-Forschung, des amerikanischen Politikwissenschaftlers Raul Hilberg, bei seinem Erscheinen auf wenig Resonanz, oft sogar auf eisige Distanz.[1] In Deutschland lehnten in den 1960er Jahren zahlreiche renommierte Verlage eine Übersetzung ab. Das Institut für Zeitgeschichte in München hatte sich in einem Gutachten damals gegen eine deutsche Ausgabe ausgesprochen.[2] Sie erschien schließlich Anfang der 1980er Jahre in einem Berliner Kleinverlag.[3] Erst 1990 legte der S. Fischer Verlag eine Gesamtausgabe in Taschenbuchform vor, die das Werk Hilbergs erstmals einer breiteren deutschen Öffentlichkeit bekannt machte.[4] In anderen Ländern dauerte dieser Prozess teilweise noch länger: Eine französische Ausgabe erschien 1985, eine spanische im Jahre 2005,[5] und in Israel, wo man Hilbergs strukturgeschichtlichen, stark mit Quellen der Täterseite arbeitenden Ansatz lange Zeit abgelehnt hatte, ist eine hebräische Ausgabe erst nach dem Tod Hilbergs 2007 veröffentlicht worden.
Die stark verzögerte Rezeption des Grundlagenwerks von Raul Hilberg spiegelt die eher mühsamen Anfänge der Holocaust-Forschung wider. Diese sind inzwischen in Vergessenheit geraten, denn die letzten 25 Jahre waren durch einen regelrechten internationalen Boom der Forschung geprägt. Darüber hinaus steht der Holocaust heute im Mittelpunkt einer globalen Erinnerungskultur, die sich mit der Vernichtung der europäischen Juden befasst, um zugleich universale Menschenrechte und die Ablehnung von Antisemitismus, Rassenhass und Völkermord zu bekräftigen.[6]
Die Holocaust-Forschung hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten also internationalisiert, zugleich aber auch immer stärker ausdifferenziert und spezialisiert. Dabei entstanden regelrechte Sub-Disziplinen, etwa die »Täterforschung«, und viele Forschungsergebnisse sind – auch bedingt durch mangelnde Sprachkenntnisse – selbst für Spezialisten kaum noch zu überschauen. Mit diesem Band legen wir nun eine Einführung in die verschiedenen Forschungsansätze vor und diskutieren zugleich die Frage, in welche größeren historischen Zusammenhänge der Holocaust eingeordnet werden kann bzw. muss. Dabei geht es um Kernfragen künftiger Forschung ebenso wie um grundsätzliche Probleme, die durch die Internationalisierung und Ausdifferenzierung der Forschung entstanden sind. Vier Grundtendenzen sind in diesem Zusammenhang zu nennen:
1. In den letzten Jahren sind durch einen alltagsnahen, differenzierten Blick immer mehr mittelbar und unmittelbar Beteiligte des Holocaust in den Fokus der Forschung gerückt. Raul Hilberg hatte einst noch relativ statisch zwischen »Tätern«, »Opfern« und »Bystanders« des Holocaust unterschieden.[7] Diese Kategorien sind prinzipiell nach wie vor sinnvoll – und sei es aus dem einfachen Grund, dass im Holocaust eine große Gruppe von Menschen eine noch größere Gruppe anderer Menschen ermordete und das Gros der damaligen Zeitgenossen weder zur einen noch zur anderen Kategorie zählte. Die Vielfalt gesellschaftlicher Verhaltensweisen lässt sich jedoch mit der Trias Täter–Opfer–Bystanders nicht erfassen. Letztere Kategorie wird im Deutschen oft mit »Zuschauer« übersetzt, was Passivität und Unbeteiligtsein suggeriert. Dies vermittelt den Eindruck, die deutsche Bevölkerung, aber auch die der europäischen Länder, sei in keiner Weise in den Holocaust involviert gewesen. Können aber diejenigen, die beispielsweise von der »Arisierung« jüdischen Eigentums profitierten, einschließlich jener, die günstig Gegenstände aus dem Besitz ermordeter Juden ersteigerten, lediglich als »Zuschauer« bezeichnet werden? Die neuere Forschung spricht stattdessen von gesellschaftlichen Akteuren, die sich durch multiple Rollen und dynamische Rollenveränderungen auszeichneten. Dies gilt auch für die Opfer, die keineswegs eine einheitliche passive Masse bildeten, sondern sich in ihren Strategien, Verhaltensweisen und Reaktionen auf die Verfolgung oft stark unterschieden. Je nach Alter, Herkunft und sozialem Hintergrund reagierten die Betroffenen anders, was immer wieder auch zu Spannungen und Konflikten führte. In den Gettos beispielsweise entstanden neue soziale Hierarchien, weil Wissen, Erfahrung und Intellektualität der Älteren an Bedeutung verloren und sich stattdessen Körperkraft und Jugendlichkeit für das Überleben als wichtiger erwiesen.[8] Zuvor jedoch waren die Opfer Teil der europäischen Gesellschaften gewesen, aus denen sie durch die Verfolgung systematisch ausgegrenzt wurden. Eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektive auf den Holocaust hat daher hermetisch-abgrenzende Kategorien in Frage gestellt und den Blick auf vielfältige Grauzonen von Verhalten, Beteiligung und Involvierung gerichtet. Vor allem zwischen Tätern und Bystanders sind die Übergänge fließend geworden.
In der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit hatte noch lange Zeit die Vorstellung dominiert, dass die Massenmorde von einer vergleichsweise kleinen Zahl von Personen begangen worden seien: von kleinen Mordkommandos der SS, fernab der Heimat, irgendwo im Osten. Dementsprechend verwendete die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz den Begriff »Täter« äußerst sparsam und stufte allenfalls Hitler, Himmler oder Heydrich uneingeschränkt als solche ein.[9] Mittlerweile geht jedoch die Forschung allein von 200000 bis 250000 deutschen und österreichischen Tätern des Holocaust aus. Täter und Gesellschaft sind deshalb nicht voneinander zu trennen, so dass beide Begriffe zumindest in der deutschen Öffentlichkeit immer häufiger zur »Tätergesellschaft« verschmelzen – eine Bezeichnung, die in der Nachkriegszeit noch entrüstet zurückgewiesen worden wäre.
Die Verschränkung von Tätern und Gesellschaft kommt in zahlreichen Buchtiteln zum Ausdruck, in denen von der »Normalität« oder »Gewöhnlichkeit« der Täter die Rede ist: »Ganz normale Männer« betitelte Christopher Browning sein berühmtes Buch über das Reserve-Polizeibataillon 101;[10] von »ganz gewöhnlichen Deutschen«[11] sprach Daniel Jonah Goldhagen, und der Sozialpsychologe Harald Welzer gab einem seiner letzten Bücher den Titel: »Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«.[12]
Der Begriff der »Normalität«, der natürlich auf keine Beschönigung der Verbrechen abzielt, weist zum einen darauf hin, dass Täter häufig nicht etwa einer kriminellen Randgruppe mit einschlägigen Vorstrafenregistern entstammten, sondern der sozialen Mitte der Gesellschaft. Zum anderen heißt »Normalität«, dass sich Täter von der Bevölkerungsmehrheit nicht durch psycho-pathologische Anomalien unterschieden. Insgesamt haben daher Historiker in den letzten Jahren immer wieder die gesellschaftliche Einbettung der Täter hervorgehoben und dabei implizit die Frage aufgeworfen, ob eine »Täterforschung« im engeren Sinne überhaupt sinnvoll ist und nicht besser in einer Gesellschaftsgeschichte des »Dritten Reiches« aufgehen sollte.
Darüber hinaus werden viele der früher als Bystanders bezeichneten Personen mittlerweile fast auf der Täterseite verortet, weil es in Ausgrenzungsgesellschaften eigentlich keine völlig unbeteiligten Zuschauer geben kann. Zu Recht wird heute oft betont, dass der Prozess der Ausgrenzung, Entrechtung, Enteignung und Ermordung der europäischen Juden ohne eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure – Beteiligte, Nutznießer, Helfer, Profiteure – nicht möglich gewesen wäre. Informationen über den Holocaust waren in der Bevölkerung durchaus weiter verbreitet, als die meisten Zeitgenossen sich nach 1945 eingestehen mochten. Zwar wussten die wenigsten alles, aber die meisten doch genug, um aus den verfügbaren Einzelinformationen auf ein Gesamtbild schließen zu können.[13] Der Holocaust lässt sich also nicht nur als politischer, sondern auch als sozialer Prozess beschreiben. Dabei zeigt ein mikrohistorischer Blick auf das Alltagsverhalten in der Zeit des Holocaust, dass allgemeine Faktoren wie Antisemitismus und Nationalismus oft wenig erklären. Die meisten Menschen handelten vielmehr so, wie sie es unter den gegebenen Verhältnissen und aufgrund ihrer persönlichen Interessen für sinnvoll hielten, so dass sich auch solche Menschen bisweilen an antijüdischen Maßnahmen beteiligten, die den Antisemitismus ablehnten.[14]
Diese Prozesse werden mittlerweile europaweit erforscht, doch hat der zunehmend kritische Blick auf die europäischen Gesellschaften insgesamt in einigen Ländern Gegenbewegungen ausgelöst. In den Nachkriegsjahrzehnten hatten viele europäische Länder, die im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt worden waren, die Vorstellung kultiviert, dass die einheimische Bevölkerung den deutschen Besatzern mit vollständiger Ablehnung, ja mit offenem Widerstand begegnet sei, abgesehen von wenigen Kollaborateuren, die als nationale...