Allgemeines
1. Was heißt Österreich?
Österreich ist ein Begriff, der zu verschiedenen Zeiten der Geschichte verschiedene Gebiete meinte und auch heute nicht in Österreich liegende Territorien mit einschloss.
Das heutige Österreich ist ein sowohl staatsrechtlich als auch geografisch klar umrissener Begriff, in der Vergangenheit aber hat sich das Wort »Österreich« auf unterschiedliche Räume bezogen. Von Österreich als einem »Staat« kann man – mit vielen Einschränkungen – erst ab der Herrschaft der Babenberger (976) sprechen. Man könnte etwas provokant sagen, für die mittelalterliche Geschichte des Landes ist der Begriff »Österreich« zu weit und für die neuzeitliche Geschichte bis 1918 zu eng gefasst.
Im Mittelalter, in dem das Wort »Österreich« in deutscher und lateinischer Form (Austria) erstmals auftauchte (vgl. Frage 15), bezeichnete es nur einen kleinen Teil des heutigen Staatsgebietes der Republik Österreich. Zunächst überhaupt nur ein winziges Stück des Donautales bei Melk, später dann in etwa die heutigen Bundesländer Ober- und Niederösterreich – oder in alter Form Österreich ob und unter der Enns –, die auch explizit diesen Namensbestandteil enthielten. Zu diesem Gebiet gehörte auch Wien, die alte Hauptstadt des gesamten Staates und auch des Bundeslandes Niederösterreich, die erst 1920 ein eigenes Bundesland wurde.
Die anderen Gebiete des heutigen österreichischen Staates kamen erst im Laufe des späten Mittelalters – und manche wie Salzburg, Teile Vorarlbergs und das Burgenland noch sehr viel später – zu »Österreich«. Die Steiermark, Kärnten und Tirol hatten im Laufe des Mittelalters eine eigene Landesgeschichte, und es war keineswegs immer klar, dass sie einmal ein Bestandteil des babenbergischen und später habsburgischen Österreich sein würden. Für das Mittelalter müsste man also historisch korrekt von den Geschichten Österreichs in der Mehrzahl sprechen.
Mit den Vergrößerungen des Herrschaftsbereiches der Familie Habsburg wurde dieser Name auch auf Spanien und natürlich – etwas wenig genau – auf die gesamte Habsburgermonarchie, die seit 1526 entstand, übertragen. Die Bewohner Ungarns oder Böhmens fühlten sich aber sicherlich nicht als Österreicher. Die Geschichte der Habsburgermonarchie ist also keineswegs identisch mit der Geschichte Österreichs, wenn auch beide eng miteinander verflochten sind. 1867 wurde die Verflechtung ein wenig verändert, mit dem Ausgleich mit Ungarn (vgl. Frage 42) entstand Österreich-Ungarn. Doch auch der »Österreich« genannte Teil, zu dem z. B. Böhmen, Galizien oder die Bukowina gehörten, identifizierte sich keineswegs mit diesem Namen und den dahinterstehenden Vorstellungen.
Erst mit der Auflösung der Habsburgermonarchie 1918 wurde ein Staat geschaffen, der mit dem heutigen Österreich territorial identisch ist. Doch die deutschsprachige Mehrheit dieses Staates fühlte sich nicht als »Österreicher«, sondern als Deutsche, der Staat sollte – den Plänen der Politik im Jahre 1918 zufolge – einen Teil der Deutschen Republik bilden. Dieser Staat hat – mit Unterbrechung der Jahre von 1938 bis 1945, in denen er Teil des nationalsozialistischen Deutschland war – bis heute keine Gebietsveränderungen erfahren. Allerdings unterlag die Identifizierung mit diesem Staatsgebilde großen Veränderungen.
2. Gibt es eine österreichische Identität?
Die Identifikation der Bevölkerung mit Österreich als Nation und als Staat ist neueren Datums.
Die österreichischen Länder wie die Steiermark, Kärnten oder Tirol, die im Mittelalter durch die Herrschaft einer Familie (der Habsburger) mit den Kernländern Nieder- und Oberösterreich zusammengeschlossen wurden, hatten jeweils eine eigene Identität, die sich nicht nur mental, sondern auch politisch und rechtlich ausdrückte. Jedes der Länder besaß eigene Landstände und ein eigenes Landrecht, alle Versuche einer Zentralisierung und Vereinheitlichung scheiterten.
Vieles von diesem Landesbewusstsein, der Identität des Landes, ist auch heute noch in den Anschauungen der Menschen zu finden. Menschen haben unterschiedliche Identitäten: mit dem Ort, in dem sie leben, mit der Region (z. B. Salzkammergut oder Weinviertel), mit dem Bundesland oder mit dem Staat Österreich und neuerdings auch – wenngleich nicht sehr ausgebildet – mit der Europäischen Union. Man ist also ebenso Tiroler wie Österreicher und Europäer.
Das Landesbewusstsein war nur eine der möglichen Identitäten der Vergangenheit. Ebenso wichtig waren geburtsständische Zugehörigkeiten – man war Adeliger oder Bürger oder Bauer – und seit dem 16. Jahrhundert auch konfessionelle Identifikationsmuster. Protestant oder Katholik zu sein, war meist wichtiger, als aus irgendeinem Gebiet zu kommen; man nannte die Menschen gleicher Konfession in den Quellen der Zeit oft »Konfessionsverwandte«, was die zentrale Bedeutung der religiösen Orientierung betonte. Nationale Identität im modernen Sinne fehlte, das Landesbewusstsein, die Identifikation mit der – im Falle der Habsburger übernationalen – Dynastie und ein Protonationalismus, der auf gleicher Sprache und gleichen Umgangsformen beruhte, waren die verbindenden Elemente.
Erst mit dem Aufkommen sprachnationaler Identifikationsmuster – ich spreche Deutsch, daher bin ich Deutscher, ich spreche Ungarisch, daher bin ich Ungar usw. – veränderte sich vieles. Gerade für einen multinationalen Staat wie die Habsburgermonarchie kam es zu einer gefährlichen Entwicklung. Denn der Nationalismus stärkte zwar einerseits das Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der Nation, führte aber andererseits auch zu einer hasserfüllten Atmosphäre zwischen den Nationen.
Für die Angehörigen der deutschsprachigen Mehrheit im Gebiet des heutigen Österreich war das Problem besonders schwerwiegend. Sie fühlten sich als Deutsche und viele von ihnen wollten Teil des Deutschen Kaiserreiches sein. Und auch als die Monarchie auseinanderbrach, wollte das heutige Österreich eine Vereinigung mit Deutschland. Die Verweigerung des (freiwilligen) »Anschlusses« an die Deutsche Republik im Jahre 1918 durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs wurde als Demütigung empfunden, der kleine Staat als nicht lebensfähig angesehen. Eine Identifizierung mit Österreich entstand beim Großteil des Volkes nicht. Nach 1934, im Austrofaschismus, wurde »Österreich« stärker betont, aber immer noch fühlten sich die Bewohner des Landes als Deutsche, wenn auch in Abgrenzung zum Dritten Reich als die »besseren Deutschen«. Erst der reale Anschluss 1938 und die Herrschaft des Nationalsozialismus führten längerfristig zu einer größeren Akzeptanz der österreichischen Eigenständigkeit.
Nach 1945 wurde bewusst die Identifikation mit einer »österreichischen Nation« aufgebaut. Die beiden großen Parteien SPÖ und ÖVP bekannten sich zu dieser Identität, die propagandistisch gefördert und konstruiert wurde. Die große Vergangenheit, die Betonung der Landschaft und der Geschichte, das oft klischeehaft-kitschige Bild der Heimatfilme und sportliche Erfolge im Schifahren und beim Fußball stärkten diese Identifikation, durch die sich heute ein großer Teil der Staatsbürger der Republik als Angehörige der österreichischen Nation fühlt.
3. In welchem Verhältnis steht die österreichische Geschichte zu jener des Heiligen Römischen Reiches und der Habsburgermonarchie?
Die Geschichte des heutigen Österreich ist ohne die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches und der Habsburgermonarchie nicht zu verstehen. Auch die internationale Stellung und Politik der Dynastie von ca. 1500 bis 1918 ergibt einen europäischen Kontext der Geschichte des kleinen Landes.
Seit dem Herrschaftsbeginn der Babenberger im Jahre 976 kann man erstmals von einer eigenen politischen Einheit »Österreich« sprechen. Österreich war zu dieser Zeit ein Teil des Reiches (zunächst Ostfrankenreich, dann Heiliges Römisches Reich), wenn auch mit besonderem Status. Mit der endgültigen Durchsetzung der Habsburger – sie stellten schon im späten 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts Herrscher im Heiligen Römischen Reich, das eine Wahlmonarchie war – ab Mitte des 15. Jahrhunderts war die Beziehung zwischen Österreich und dem Reich auf das Engste verflochten. Von 1438 bis zur Auflösung des Heiligen Römischen Reiches 1806 gab es mit einer kleinen Ausnahme nur Habsburger auf dem Thron dieses Staates. Lediglich nach dem Aussterben der Habsburger im Mannesstamm, also dem Tod Karls VI. (1685–1740), kam es mit Karl VII. (Karl Albrecht von Bayern), der von 1742 bis 1745 als Nichthabsburger Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war, zu einem kurzen wittelsbachischen Zwischenspiel.
Eine besondere Entwicklung vollzog sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als der Habsburger Karl V. (1500–1558), der zugleich König von Spanien war, das Reich beherrschte. Es war die einzige Zeit, in der ein habsburgischer Kaiser des Reiches nicht gleichzeitig auch Landesfürst der österreichischen Länder war.
Die habsburgischen Herrscher hatten also gewissermaßen zwei Identitäten: Sie waren Kaiser des Reiches und Herrscher der Habsburgermonarchie und hatten als solche unterschiedliche politische Interessen, die sich allerdings oft überschnitten. So war etwa der lange andauernde Konflikt mit Frankreich einerseits ein Kampf des Kaisers um die westliche Grenze des Reiches, andererseits eine Auseinandersetzung der französischen Dynastie mit den Habsburgern, die Territorien rund um Frankreich (Burgund, Spanien) erworben hatten und damit bedrohlich für Frankreich waren. Es ist schwer, zu trennen, welcher Teil der...