Wenn es etwa um Kenntnisse in Chemie oder einer Fremdsprache geht, sagen viele Menschen ohne Zögern: «Oh, da habe ich keine Ahnung.» Bei psychologischen Fragen hingegen redet fast jeder gerne mit: «Also, ich glaube …»
Warum ist das so? Weil die persönliche Lebenserfahrung sowie Zeitungen und Fernsehen tatsächlich für genügend psychologische Allgemeinbildung sorgen? Weil uns die wissenschaftliche Psychologie als neues Forschungsergebnis präsentiert, was die Oma auch schon immer gesagt hat? Weil also der Umgang mit psychologischen Fragen nur eine Sache des gesunden Menschenverstandes ist?
2.1 Jeder Mensch denkt psychologisch – es geht gar nicht anders
Dass Menschen häufig über psychologische Fragen reden, liegt zunächst einmal daran, dass sie es gar nicht vermeiden können. Unentwegt gibt es irgendwelche Anlässe, und dann fallen z.B. Aussagen wie diese:
«Also, die Gabi würde sicher gut in unsere WG passen» – «Die Mieterin war sehr ordentlich gekleidet, da wird sie wohl auch die Wohnung in Ordnung halten» – «Klar könnte er die Schule schaffen; er muss nur wollen» – «Es ist gut, dass er jetzt Fußball spielt; da lernt man, sich an Regeln zu halten» – «Ein Kind braucht die Mutter; deshalb sollte sie nicht arbeiten gehen» – «Dieser Rambo-Typ kompensiert doch nur seine Minderwertigkeitskomplexe» – «Bei so vielen Problemen sollte sie mal in Urlaub fahren, damit sie auf andere Gedanken kommt» – «Gäbe es härtere Strafen, würde ein Kindermörder sicher vorher noch mal überlegen, was er da tut».
Wir brauchen solche Überlegungen, um Entscheidungen zu treffen, um mit Menschen umzugehen, um einen Rat zu erteilen oder bei einem Streitthema einfach nur mitzureden. Aus solchen Gründen sind wir auch fortlaufend dabei, uns das Verhalten von Menschen zu erklären: Preist mir der Verkäufer diesen Artikel an, weil er wirklich gut ist, oder weil er daran am meisten verdient? Ist die neue Nachbarin so nett zu mir, weil sie mich mag, oder weil sie so ein freundlicher Mensch ist? Kommt die Entschuldigung der Kollegin aus echter Reue oder aus Berechnung?
Kaum vorstellbar, dass ein Mensch niemals psychologisch denkt. Würde ich mir keine Gedanken über die Motive eines anderen Menschen machen, würde ich vielleicht in eine Falle tappen. Würde ich nicht einschätzen, ob jemand für eine Arbeit geeignet ist, hätte ich später vielleicht viel Ärger und Kosten am Hals. Auch Menschen, die das Wort Psychologie noch nie gehört haben, die vielleicht in einem abgeschiedenen Volksstamm fern jeglicher Schulbildung aufwachsen, auch die denken psychologisch.
Weil wir anders gar nicht durchs Leben kommen, versorgt uns auch die Sprache mit einem reichen Schatz an Volksweisheiten, häufig in Form von Sprichwörtern und Redensarten:
«Gegensätze ziehen sich an» – «Gleich zu Gleich gesellt sich gern» – «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» – «Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht» – «Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil» – «Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder» – «Genie und Wahnsinn liegen nahe beieinander» – «Die äußere Ordnung ist ein Spiegel der inneren Ordnung» – «Liebe macht blind» – «Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen».
Niemand hat also einen psychologisch leeren Kopf. Und hieraus ergibt sich ein wichtiger Unterschied zu manchen anderen Fächern. Wer sich anschickt, Chemie oder Spanisch zu lernen, füllt Wissenslücken, lernt dazu. Wer sich hingegen mit Psychologie beschäftigt, lernt um – jedenfalls immer dort, wo die Informationen den vertrauten Denkweisen zuwiderlaufen. Genauer gesagt: Oft müsste man umlernen, doch häufig leistet das alte Überzeugungswissen heftigen Widerstand.
Das wäre dann ein Fall von Küchenpsychologie. Dieser unscharfe und etwas abfällige Begriff bezieht sich auf eigene oder übernommene Annahmen ohne Grund und Boden. Menschen unterhalten sich über eine psychologische Frage und verkünden, manchmal sogar mit Leidenschaft, was sie «glauben» oder wovon sie «überzeugt» sind, obwohl sie keinerlei Sachkenntnisse und keinerlei durchdachte Begründungen mitbringen und wissenschaftliche Informationen zurückweisen, falls sie solche hören.
2.2 Alltagspsychologie und Wissenschaft im Vergleich
Nicht jede Alltagspsychologie ist im beschriebenen Sinne «Küchenpsychologie». Manche Volksweisheiten sind tendenziell richtig und durchaus hilfreich; manche subjektive Urteile sind gut begründet. Der grundsätzliche Unterschied zur wissenschaftlichen Psychologie liegt auch nicht darin, dass alltagspsychologische Annahmen gewöhnlich «falsch» und wissenschaftliche immer «richtig» sind. Zwar sind etliche populäre Vorstellungen aus wissenschaftlicher Sicht barer Unsinn und pure Küchenpsychologie, doch prinzipiell kann auch psychologisches Denken im Alltag Hand und Fuß haben und mit akademischer Psychologie durchaus auf einer Linie liegen.
Ein grundsätzlicher Unterschied liegt in den Funktionen von Wissenschaft und Alltagspsychologie. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, den Dingen auf den Grund zu gehen und immer genauere Erkenntnisse zutage zu fördern. Alltagspsychologie brauchen wir dagegen, um uns im Leben zurechtzufinden. Ihre Aufgabe ist es, uns Orientierung zu geben, und zwar in vielen Fällen möglichst rasch und ökonomisch. Das kann sie am besten leisten, indem sie die Dinge vereinfacht und sich nicht lange mit Relativierungen und alternativen Sichtweisen aufhält.
Es ist etwa wie beim Kauf eines Gerätes. Wer kann schon die Vor- und Nachteile einzelner Produkte intensiv studieren? Das wäre anstrengend und zeitraubend. Genau hier liegt die Chance der Werbung. Wir entscheiden uns schnell und mit einem guten Gefühl, wenn wir einfach glauben: «Diese Marke ist solide und verlässlich.» Ob beim Einkauf oder beim Urteil über andere Menschen – der Verzicht auf gründliche Recherchen mag leichtfertig sein, aber die Alternative wäre, nie fertig zu werden.
Die Alltagspsychologie ist also leicht fertig – das ist ihr Vorteil. Aber sie ist zuweilen auch leichtfertig – das ist der Nachteil. Der zeigt sich, wenn man mit seinen Einschätzungen danebenliegt und ein Problem sogar noch verschlimmert, statt es zu lösen. Wer dies spürt, wird sich vielleicht an Experten wenden, aber sicherlich nur in besonderen Fällen und nicht bei «kleinen» psychologischen Problemen des alltäglichen Lebens.
Der Mittelweg, den dieses Buch fördern möchte, liegt zwischen Oberflächlichkeit und Expertentum. Er lautet: Problembewusst die eigenen Urteile und Entscheidungen prüfen und begründen und darüber hinaus erkennen, wo man an seine Grenzen stößt und sich fachlich informieren sollte.
Typische Denkfehler in der Alltagspsychologie
Es schärft das Problembewusstsein, wenn man einige «Fehler» kennt, die im alltagspsychologischen Denken häufig vorkommen. Die folgenden gehören ganz gewiss dazu:
(1) Man schaut auf gut sichtbare oder leicht feststellbare Merkmale und hängt an diese eine psychologische «Theorie» oder ein Stereotyp an. Kenne ich das Geschlecht oder die Entwicklungsphase («Pubertät»!) oder den Platz in der Geschwisterreihe («Sandwich-Kind» etc.) oder ein Familienmerkmal («alleinerziehend», «berufstätige Eltern») oder das Sternzeichen, dann weiß ich auch gleich etwas über die Eigenschaften, Fähigkeiten und Defizite dieses Menschen. Das ist eine sehr ökonomische, aber auch sehr oberflächliche Denkweise.
Wenn z.B. ein Schulbuch unter der Überschrift «Mädchen lernen anders» große Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Gehirnen betont und hieraus auch Lernstörungen von Jungen oder Mädchen erklärt, so wird dabei ausgeblendet, dass Lernstörungen primär individuelle Probleme sind, die vielfältige Gründe haben können. Stereotype dieser Art können zwar ein Körnchen Wahrheit enthalten, aber sie erklären nur wenig und sind natürlich niemals ein Ersatz für eine Einzelfallanalyse (s. auch Kapitel 9.1 zu Geschlechterdifferenzen, Kapitel 12.3 zu Lernstörungen).
(2) Monokausale Erklärungen sind eine weitere ökonomische Tendenz. Man erklärt ein Problem beispielsweise aus dem Wertezerfall in der Gesellschaft, aus der Einstellung eines Menschen, aus dem Fernsehkonsum, aus der Klassengröße usw. In der wissenschaftlichen Psychologie ist es hingegen normal, «multifaktoriell» zu denken, weil menschliches Verhalten immer auf dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren beruht. Weder eine Lernstörung noch aggressives Verhalten oder hilfreiches Verhalten kann durch eine Einzelbedingung hervorgebracht werden. Da kein Faktor für sich alleine steht, kann er auch nie einen absoluten, sondern nur einen relativen Einfluss haben. Dass z.B. eine Provokation aggressives Verhalten bewirkt, ist nicht so sicher wie ein physikalisches Gesetz.
(3) Die Überbewertung von Einzelfällen: Nehmen wir an, Sie wollen sich ein Auto kaufen und lesen eine Pannenstatistik, in welcher der Wusel 800 besonders gut abschneidet. Sie selber aber hatten bislang mit einem Wusel 800 «nichts als Ärger». Was beeinflusst nun Ihre Kaufentscheidung mehr: die Statistik oder Ihre eigene Erfahrung?
Ebenso mag jemand die...