Abwägen als Moment klugen Handelns
Andreas Luckner
Es gilt als ein Kennzeichen einer reifen (erwachsenen) Persönlichkeit, Handlungsgründe abwägen zu können. Aber auch schon die Entwicklung der Persönlichkeit selbst steht in engem Zusammenhang mit Abwägungs- und Entscheidungsprozessen, wie man im Rahmen von Tugend- und Erziehungstheorien von alters her gesehen hat. Die Abwägung (griechisch: boulêsis, lateinisch: deliberatio) galt und gilt dabei als konstitutives Moment der Tugend Klugheit (griechisch: phronêsis, lateinisch prudentia), mit der man bekanntlich nicht schon auf die Welt kommt. Vielmehr wurde und wird sie als die erfahrungsbasierte Ausformung praktischer Vernunft verstanden, durch die geeignete und situationsangemessene Mittel und Wege zur Realisierung genereller Handlungsziele habituell erkannt und angewandt werden können.1 Dies soll in systematischer Absicht im Folgenden anhand historischer tugendethischer Positionen gezeigt werden.
Zunächst eine terminologische Klärung: Im Deutschen besteht ein leichter Unterschied zwischen den Verben „abwägen“ einerseits, „erwägen“ andererseits; Gründe und Handlungsmöglichkeiten können zwar sowohl erwogen als auch abgewogen werden, aber mit dem Wort „erwägen“ bezieht man sich zumeist auf den Umstand, dass man überhaupt eine Handlungsoption in Betracht zieht (z.B. „Ich erwäge nächstes Jahr meinen Urlaub auf Korsika zu verbringen.“). Von Abwägung im Sinne einer Gewichtung der Option bzw. der Gründe, die für diese Option sprechen, muss hierbei noch gar die Rede sein. Man könnte vielleicht vorläufig sagen, dass jeder Abwägungsprozess voraussetzt, dass mehrere Optionen bzw. Gründe in Erwägung gezogen wurden, Abwägen also Erwägen voraussetzt, aber nicht umgekehrt. Erwägen ist ein Moment des Abwägens – und damit immer mit gemeint – und Abwägen wiederum, so die titelgebende These dieses Beitrags, ein Moment klugen Handelns. Niemand kann klug im Sinne der Lebensdienlichkeit handeln, der nicht Gründe gegeneinander abzuwägen (und diese vorher zu erwägen) vermag. Natürlich kann jemand zufälligerweise das Richtige im Sinne der Klugheit tun, aber dann würde man noch nicht deswegen schon unterstellen können, dass die betroffene Person wirklich klug ist bzw., als Ausdruck dessen, klug handelt. Hierfür gehört vielmehr notwendigerweise eine praktische Vernunft, die notwendig (wenn auch nicht schon hinreichend) Abwägungsprozesse vollzieht.
Klugheit (als Tugend) ist eine an der Lebensdienlichkeit orientierte Grundhaltung gegenüber den praktischen Dingen des Lebens. Die Abwägung der situationsadäquaten Mittel und Wege spielt hierfür eine zentrale Rolle, wenn auch gutes Abwägen alleine nicht ausreicht, um klug zu sein – es müssen zudem durch Erfahrung Urteils- und Entschlusskraft ausgebildet werden, um von der komplexen Tugend der Klugheit sprechen zu können. Wer klug ist, kann gut abwägen, bildet sich auf Grundlage von Abwägungen angemessene Urteile über das zu Tuende und setzt diese situationsadäquat und entschlussfreudig in die Tat um. Die Klugheit, die sich demgemäß also immer auch in den Prozessen des Abwägens (und damit einer praktischen Form von Rationalität) manifestiert, galt im Abendland über Jahrtausende hinweg als eine der Kardinaltugenden, weil nur durch ihren Besitz ein Mensch es vermochte, das Gute (was immer man darunter auch jeweils zu verstehen hatte) in der Welt zu realisieren. Heutzutage allerdings spricht man von Klugheit, auch und gerade in der akademisch-philosophischen Ethik, zumeist nur im Sinne des Prinzips des rationalen Egoismus im Unterschied (und oftmals auch: im Gegensatz) zur moralischen Einstellung, durch welche die Präferenzen auch der anderen Menschen in die Handlungsentscheidungen eine andere Gewichtung erfahren. Das Verhältnis von Klugheit und Moral erscheint im Rahmen modern-autonomistischer Ethik daher recht spannungsreich, während es für die antike und mittelalterliche Ethikansätze selbstverständlich ist, dass ein kluger Mensch die Mehrung des Wohls der Anderen auch in die eigene Handlungsbeurteilung und -abwägung mit einbezieht.2 So kann man auch heute noch zwanglos z.B. von der (unegoistischen) Klugheit der Eltern in Bezug auf das Fortkommen ihrer Kinder sprechen.
Auch in der Moderne ist es unbestritten, dass das Abwägenkönnen von Handlungsoptionen ein konstitutives Teilmoment praktischer Rationalität (Klugheit) ist. Allerdings läuft der Prozess der Abwägung hier durchaus auf etwas anderes hinaus: Während im Rahmen teleologischer Ethiken – also des Typs, unter den die meisten der antiken und mittelalterlichen Ansätze fallen – allgemeine Handlungsziele als dem Akteur (natural und gesellschaftlich) gegebene konzipiert werden und Abwägungsprozesse daher primär Mittel und Wege zum glücklichen Leben ermitteln, sind im Rahmen der autonomistischen Ethiken der Neuzeit die Abwägungen auch auf die jeweils individuellen Orientierungsinstanzen ausgedehnt. Denn ein kluger Mensch hat, wenn ihm die Verbindlichkeit göttlich oder natural gegebener normativer Rahmenordnungen nicht weiter einsichtig ist, nun nicht nur abzuwägen, was dem guten Leben dienlich ist, sondern zusätzlich, woran er sich dabei eigentlich orientieren soll, worin also das gute Leben – oder dessen „Richtungssinn“ – eigentlich besteht.3 Da in den autonomistisch fundierten neuzeitlichen Ethiken Handlungsziele primär als vom Handlungssubjekt gesetzte Zwecke konzipiert werden, beziehen sich die ethischen Abwägungen mehr und mehr auf die Ermittlung von Antworten auf die Frage, welche Zwecke im Leben verfolgt, ja, welchen Sinn und Zweck das jeweils individuelle Leben überhaupt haben soll. Kurz: Begreift sich ein Individuum als autonom, dann müssen die Orientierungsinstanzen selbst zu einer Sache der Abwägung werden; wenn diese erst einmal ermittelt sind, bekommen die Klugheitsabwägungen wiederum tendenziell den Charakter von quasi-technischen Ermittlungen der besten Mittel, um (schon anderweitig von einem selbst oder anderen) gesetzte Zwecke zu realisieren.
Was aber ist überhaupt eine Abwägung, eine deliberatio, eine boulêsis? Zunächst: Oft werden deliberatio und boulêsis mit „Beratung“ übersetzt; dies ist genau dann treffend und richtig, wenn man unter Beratung nicht, wie heute verbreitet, den Vorgang versteht, in dem ein Experte in einer bestimmten Wissens- oder Könnensdomäne einen Unkundigen „berät“, sondern vielmehr den ergebnisoffenen Vorgang eben des Abwägens von Gründen, die für die eine oder andere Vorgehensweise sprechen. Es wäre hier also eher an eine Beratung von Geschworenen bei Gericht als an eine Beratung beim Kauf eines Artikels zu denken. Der Ausdruck „abwägen“ drückt diese für das Abwägen konstitutive Ergebnisoffenheit sehr viel besser aus als „beraten“. Das Wortfeld der Waage und des Gewichts, dem ja die Wörter „erwägen“, „abwägen“, „ausgewogen“, „wichtig“ usw. entstammen – auch deliberatio stammt ja von lateinisch libera, Waage, ab – verweist auf diese charakteristische Eigenschaft von Abwägungen, denn für Wägeprozesse und Balanceakte ist es charakteristisch, dass ihre Ergebnisse, die hergestellten Gleichgewichte und Ausgewogenheiten also, nicht stabil sind. Im übertragenen Sinne führen Abwägungen demgemäß nicht zu festen Wissensbeständen, auf die nach Belieben zurückgegriffen werden könnte. Die Ermittlung des Gewichts bzw. der Wichtigkeit und Relevanz zum Beispiel eines Handlungsgrundes ist daher einerseits unvordenklich und auch immer nur von provisorischem Charakter – eine kleine Veränderung der Situation und es können andere Handlungsgründe, die bislang gar keine Rolle gespielt haben, sehr viel schwereres Gewicht haben4 (besonders dann, wenn bislang bestehende Grenzen überschritten werden).
Die philosophische Tradition hat seit ihren Anfängen immer wieder gesehen, dass das Er- und Abwägen von Gründen der elementare Denkvorgang in Bezug auf die Handlungsorientierung ist. So schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, dass jeder klugen, das heißt guten, Entscheidung (prohairesis) eine Beratschlagung im Sinne der Abwägung von Handlungsgründen (boulêsis) vorausgehen muss, letztlich in Hinblick und umwillen eines gelingenden Gesamtlebensvollzuges (eudaimonia).5 Abwägungen finden dabei logischerweise nur im Bereich des Kontingenten statt, dessen also, was nicht notwendig so ist, wie es ist. Weil Handlungen genau deswegen auf Entscheidungen beruhen – seien diese aktuell zu treffen oder schon früher getroffen worden und nur mehr zu aktualisieren –, sind Erwägungen daher konstitutiv für Handeln überhaupt. Mit anderen Worten: Wer nicht abwägen kann, kann im strengen Sinne auch nicht handeln. Es handelt sich beim Abwägen also um einen im wahrsten Sinne des Wortes grundlegenden kognitiven Akt in praktischer Hinsicht. Aristoteles diskutiert ein wichtiges Teilmoment der guten, das heißt klugen, praktischen Urteils- und Entscheidungsfindung auch unter den Namen euboulia6. Unter dieser „Wohlberatenheit“ – oder, etwas freier übersetzt, „Abwägungskompetenz“ – versteht Aristoteles die Haltung einer Person, vor dem eigentlichen In-Aktion-Treten, die Gründe, Mittel und Ziele in lebensdienlicher Hinsicht – d. h. in Hinblick auf die eudaimonia – zu bewerten. Hierbei werden allerdings, anders als etwa in technischen Zusammenhängen, die Handlungsweisen nicht im Sinne der...