2. Was ist ACT?
ACT steht an der Spitze einer neuen Generation Kognitiver Verhaltenstherapien (KVT). Was teilweise als „dritte Welle“ der KVT bezeichnet wird, ist erkennbar geprägt durch ein modernes wissenschaftliches und klinisches Interesse für die uralte Praxis der Achtsamkeit, die als wichtiger Weg hin zu seelischer Gesundheit und Verhaltenswirksamkeit angesehen wird (Hayes, 2004). Während die KVT sich traditionell darauf konzentriert, die Inhalte (d. h. die Form oder Häufigkeit) unerwünschter oder dysfunktionaler Gedanken, Gefühle oder Körperempfindungen des Menschen zu beeinflussen, setzen achtsamkeitsbasierte Strategien darauf, ganz grundlegend die Einstellung eines Menschen zu seinem inneren Erleben zu verändern.
ACT lässt sich wahrscheinlich am besten als kontextuelle KVT beschreiben (Hayes, Villatte, Levin & Hildebrandt, 2011), da Interventionsmodell und Methodik von ACT darauf abzielen, die problematischen psychischen Kontexte zu verändern, in denen kognitive und emotionale Inhalte erlebt werden. ACT unterscheidet sich von anderen bekannten achtsamkeitsbasierten Ansätzen, wie etwa achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) oder achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, MBCT), da sie viel stärker die Verhaltensaktivierung anhand selbst gewählter Werte in der Vordergrund stellt. ACT ist vom Kern her eine Verhaltenstherapie, die fest verwurzelt ist in der etablierten verhaltensanalytischen Theorie über die fundamentalen Aspekte menschlicher Sprache und Kognition (bekannt als Bezugsrahmentheorie bzw. BRT, siehe unten). Obwohl ACT völlig zu Recht als achtsamkeitsbasierter Ansatz eingeordnet wird, strebt man mit ACT-Interventionen keineswegs Achtsamkeit als Selbstzweck an. Stattdessen nutzt ACT eine Reihe von Achtsamkeits- und Akzeptanzprozessen aus, um Menschen dazu zu verhelfen, wertegeleitete Lebensziele und Handlungen anzustreben.
In diesem Kapitel beleuchten wir den Zusammenhang zwischen ACT und Bezugsrahmentheorie (BRT) und definieren dann alle sechs, in Wechselbeziehung stehenden Prozesse, die zusammen das sehr breit anwendbare Modell der psychischen Flexibilität bilden. Am Ende des Kapitels erläutern wir, wie wir dieses Interventionsmodell auf ein Trainingsprogramm für Gruppen übertragen haben, das psychische und behaviorale Kompetenzen, d. h. Achtsamkeit und wertebasiertes Handeln[1] (values-based action), wirkungsvoll miteinander kombiniert.
ACT und Bezugsrahmentheorie (BRT)
Wie bereits erwähnt, basiert ACT auf der Bezugsrahmentheorie (engl. Relational Frame Theory, RFT), der zufolge der Kern der menschlichen Sprache und Kognition darin besteht, dass der Mensch in der Lage ist, auf Ereignisse oder Objekte auf komplexe Weise relational zu reagieren (Hayes, Barnes-Holmes & Roche, 2001). Diese Bezugnahme erfolgt dabei nicht nur aufgrund der physischen (z. B. größer als) oder zeitlichen Merkmale (z. B. vorher oder nachher), sondern auch anhand von willkürlich festgelegten (z. B. kulturell bedingten, allgemein üblichen oder vereinbarten) Eigenschaften. Eine von vielen Möglichkeiten, wie wir Relationen zwischen Objekten herstellen können, ist das physische Vergleichen. So sieht man beispielsweise, dass ein 5-Cent-Stück physisch größer ist als eine 10-Cent-Münze, lernt allerdings, dass die kleinere Münze mehr wert ist als die größere. Wichtig ist dabei, dass wir solche Bezüge nur in bestimmten Situationen herstellen (beispielsweise wenn wir entscheiden, wie viel Trinkgeld wir einem Kellner geben). Das hat große Vorteile, da gelegentlich diese relationale Herangehensweise auch hinderlich sein kann (wenn wir etwa unser Kleingeld zählen wollen, spielt es ja überhaupt keine Rolle, dass ein 10-Cent-Stück mehr wert ist als eine 5-Cent-Münze, obwohl es kleiner ist). Darüber hinaus können wir dadurch lernen, sehr subtile Unterscheidungen vorzunehmen, sowie in Ereignissen komplizierte und komplexe Muster zu erkennen.
Die Bezugsrahmentheorie hebt hervor, dass unsere erlernten relationalen Reaktionen auf Ereignisse und Objekte, zum Beispiel in Form von Vergleichen, dazu führen, dass die Funktion (oder Bedeutung / Eigenschaft) eines Ereignisses oder Objektes sich auf andere überträgt (bzw. auf sie abfärbt). Diese Transformation von Reizfunktionen erklärt, warum wir uns zum Beispiel glücklich fühlen, wenn wir ein Musikstück hören, das uns in einem schönen Urlaub begleitet hat: Die Funktionen Strand, Freunde und Essen sind dann nicht nur auf dieses Lied bezogen (d. h. dass wir an Urlaub denken, wenn wir es hören), sondern das Stück hat die angenehmen Reizfunktionen des Urlaubs übernommen.
Viele Objekte und Ereignisse können in die verschiedensten Bezüge gesetzt werden, d. h. Menschen lernen, die Reize zu vergleichen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen, sie hierarchisch zu ordnen oder beliebig zeitlich zu gliedern. Fachlicher ausgedrückt sprechen wir von unterschiedlichen Bezugsrahmen oder Bezugsnetzwerken, innerhalb derer ein Mensch lernen kann, relational auf Ereignisse und Objekte zu reagieren. Das bedeutet, viele Reize sind imstande, die Funktion anderer Reize zu verändern. Wir Menschen sind im Endeffekt „Bezugsmaschinen“ und tun dies häufig, ohne es zu bemerken. Die Transformation der Reizfunktionen (eingeschlossen unserer Gefühle und Sorgen) erfolgt also permanent und unterliegt Veränderungen.
Diese außerordentlich knappe und allgemeinverständlich gehaltene Darstellung der Bezugsrahmentheorie soll hervorheben, dass ACT eine empirisch gesicherte Sprach- und Kognitionstheorie zugrunde liegt (Hayes, Bunting, Herbst, Bond & Barnes-Holmes, 2006). Als nächstes wollen wir auf Grundlage dieser Darstellung erörtern, warum die kontextuelle KVT nicht darauf abzielt, die menschlichen Kognitionen zu verändern oder deren Wahrhaftigkeit anzuzweifeln. (Eine detaillierte und verständliche Darstellung der BRT findet sich in Törneke, 2010. Hayes et al., 2001, stellen die BRT fachspezifischer dar.)
ACT als kontextuelle KVT
Zu den wichtigsten Schlussfolgerungen der BRT im Hinblick auf die Verbesserung der seelischen Gesundheit und Leistungsfähigkeit gehört die Annahme, dass die Bezüge zwischen Objekten und Ereignissen erlernt sind. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies Pawlow in seinen Experimenten mit dem speichelnden Hund nach, dass erlernte Reflexe nicht vollständig verschwinden oder ausgelöscht werden können. Sie können zwar unterbunden werden, treten aber sehr wahrscheinlich spontan wieder auf und werden erneuert.
Offensichtlich gilt dies ebenso für Bezüge zwischen Sprache, Kognitionen und Emotionen. Daraus lässt sich schließen, dass psychologische Interventionen mit dem Ziel, diese Bezüge zu verändern (also sie auszumerzen), nicht sehr erfolgversprechend sind. Diese Hypothese deckt sich mit den Forschungsergebnissen einiger Wissenschaftler. So fanden zum Beispiel Longmore und Worrel (2007) heraus, dass die Wirksamkeit inhaltsbezogener KVTs durch den Versuch, die Inhalte menschlicher Kognitionen zu verändern oder infrage zu stellen, nicht wesentlich gesteigert wird. Eines der wichtigsten Merkmale von ACT und anderer kontextueller KVTs (wie etwa der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie) besteht darin, die inneren Vorgänge eines Menschen weder anzuzweifeln noch deren Häufigkeit oder Form verändern zu wollen. Stattdessen geht es darum, Einfluss darauf zu nehmen, wie jemand auf sein inneres Erleben reagiert oder relational antwortet, damit er offener, aufmerksamer und aktiver leben kann (Hayes et al., 2011, S. 141). Genauer wird die kontextuelle KVT wie folgt konzeptualisiert:
„Gegründet auf einen empirischen, an Prinzipien orientierten Ansatz, ist die dritte Welle der Verhaltens- und kognitiven Therapie besonders sensibel gegenüber dem Kontext und den Funktionen psychischer Phänomene, nicht nur gegenüber deren Form; deshalb tendiert sie ergänzend zu eher direkten und didaktischen, zur Betonung kontextueller und erlebnisbezogener Veränderungsstrategien. Diese Behandlungen streben, anstelle eines eliminativen Ansatzes für eng definierte Probleme, bevorzugt die Konstruktion breit gefächerter, flexibler und effektiver Repertoires an und betonen die Bedeutung der Themen, die sie untersuchen – im Hinblick auf Therapeuten ebenso wie auf Patienten.“
(Hayes, 2004, S. 5 f., zitiert nach R. F. Sonntag, http://cip-medien.com/media/download_gallery/05-02/2005-2-04.%20Sonntag.pdf)
Die kontextuelle KVT geht davon aus, dass seelische Gesundheit und Leistungsfähigkeit eher davon beeinflusst werden, welche Einstellung ein Mensch zu seinen Gedanken und Gefühlen hat, als von deren Form (d. h. wie negativ sie sind). Diese Annahme wird zunehmend auch empirisch untermauert und findet in den verschiedensten Bereichen menschlichen Erlebens ihre Bestätigung. Bei chronischen Schmerzen zum Beispiel entscheidet eher die Erlebensvermeidung (experiential avoidance, EA) des Schmerzes als dessen tatsächliches Maß über eine etwaige psychosoziale Beeinträchtigung (McCracken, 1998). Inzwischen gibt es eine Reihe von Konzepten, die ebenfalls von dieser Grundannahme ausgehen und heute eine zentrale Rolle bei klinisch-empirischen Methoden spielen. Dazu gehören u. a. Belastungstoleranz (z. B. Brown, Lejuez, Kahler & Strong, 2002; Schmidt, Richey, Cromer & Buckner, 2007), Gedankenunterdrückung (z. B. Wenzlaff & Wegner, 2000) sowie Achtsamkeit (Baer, 2003).
Das ACT-Modell der psychischen Gesundheit und Verhaltenswirksamkeit
Aus Sicht von ACT und BRT wird die psychische Gesundheit vor allem dadurch beeinflusst, wie unsere Kognition mit der aktuellen Situation oder Umgebung (oder mit dem Ereignis der...