Erste Etappe – Die Pforte
Perspektivenwechsel
Der Anfang unserer Reise besteht in einem sehr ungewöhnlichen Perspektivenwechsel.
Ich lade Sie ein, im Rahmen von Quest aus Ihrer gewohnten Rolle zu schlüpfen und Ihr Leben einmal aus der Sicht eines Drehbuchautors oder einer Drehbuchautorin[5] zu betrachten.
Warum ausgerechnet dieser Blickwinkel? Nun, aus zwei Gründen:
Grund 1: Erst aus der Distanz sieht man Zusammenhänge
Wenn Sie Ihr Leben aus der Sicht eines Außenstehenden betrachten, werden Ihnen neue und zusätzliche Informationen zugänglich, die Sie vorher so noch nicht gesehen haben.
Ich bin sicher, Sie haben genau das schon mal bei einem Bekannten oder bei einem Freund erlebt: Er erzählt Ihnen von einem Problem, und Sie sehen sofort, was bei ihm schief läuft. Denn sobald wir etwas als Außenstehende betrachten, entdecken wir Zusammenhänge, die man als Beteiligter, der mitten im Geschehen steckt, einfach nicht wahrnimmt. »Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen« wird das im Volksmund genannt.
Da wir bei Quest aber den Wald, also das große Ganze, entdecken wollen, ist es hilfreich, Distanz zu gewinnen und unser Leben, die Menschen, mit denen wir zu tun haben, und natürlich auch uns selbst mit Abstand zu betrachten.
Grund 2: Die eigene Geschichte verstehen
Das von Joseph Campbell entdeckte Muster, das sich in den Erzählungen der Antike bis hin zu den Blockbuster-Filmen von heute immer wieder aufs Neue manifestiert, spielt – so behaupte ich an dieser Stelle – auch in Ihrem Leben eine Rolle. Das Problem ist nur: Solange man nicht erkennt, dass das eigene Leben einem gewissen Handlungsstrang folgt, kann man Gefahr laufen, dass man lediglich Hauptdarsteller in seinem eigenen Leben ist – nicht aber dessen Autor.
Gibt es eine bestimmte Geschichte, die sich in Ihrem Leben beständig zu wiederholen scheint?
Mit dem Ergebnis, dass man »irgendwie« immer wieder in der gleichen Geschichte landet, egal, was auch immer man anstellt. Man verliebt sich immer wieder in eine bestimmte Art von Frau oder Mann, und wenn sich die rosa Wolken der ersten Verliebtheit auflösen, findet man sich in genau dem gleichen Drama wieder, das man mit diversen anderen Partnern zuvor durchlebt und immer wieder Türen knallend verlassen hatte. Oder man arbeitet hart für seinen beruflichen Erfolg, aber kurz vor dem Durchbruch erscheint immer wieder jemand, der einem ungerechterweise Steine in den Weg legt. Und zwar jedes Mal. Man kann fast schon die Uhr danach stellen.
Kennen Sie so etwas? Trifft das vielleicht auch auf Ihr Leben zu? Wenn ja, lohnt es sich, einen Blick ins Drehbuch zu werfen. Denn erst dann kann man verstehen, worum es hier eigentlich geht und was uns diese Geschichte eigentlich sagen möchte – damit wir dieses Kapitel unseres Lebens beenden und ein neues aufschlagen können.
Kurz: Es geht darum, nicht nur Hauptdarsteller seines Lebens zu sein – sondern auch dessen Autor.
Wenn Sie bereit sind und Lust haben, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, dann folgen Sie mir nun in die Welt des Films …
Ein packender Anfang
Stellen Sie sich also vor, Sie sind ein frisch gebackener Drehbuchautor und Ihre Aufgabe ist es, ein Drehbuch über Ihr eigenes Leben zu verfassen.
Wie gehen Sie jetzt vor?
Da wir uns die Story Schritt für Schritt erarbeiten, beginnen wir einfach und logischerweise mit – dem Anfang.
Jede gute Drehbuchautorin weiß: Die wichtigste Aufgabe am Anfang einer Filmstory besteht darin, den Zuschauer emotional zu packen. Sie müssen ihn quasi direkt mit den ersten Szenen in den Film hineinziehen, damit er sich voll und ganz auf Ihre Geschichte einlässt. Damit dies gelingen kann, benötigen Sie zwei sehr wichtige Zutaten: einen Helden, mit dem man sich identifizieren kann. Und einen starken Konflikt, der die Geschichte unter Spannung setzt.
Wir alle brauchen Helden, mit denen wir uns identifizieren können
Wie sehr uns ein Roman oder Film anspricht, hängt davon ab, wie stark wir uns als Zuschauer mit dem Helden oder der Heldin identifizieren können. Sobald Sie bei einem Film oder Buch denken »Der ist ein bisschen auch wie ich«, fühlen Sie sich innerlich angesprochen und werden vielleicht neugierig.
In Ihrem Fall ist die Identifikation natürlich sehr einfach denn schließlich sind Sie ja selbst der Held oder die Heldin Ihres Drehbuchs.
Konflikte sind das Salz in der Suppe
Aber ein Held, mit dem man sich identifizieren kann, reicht nicht. Damit Sie den Zuschauer richtig packen, brauchen Sie noch einen guten, anständigen Konflikt. Der Funke zündet erst, wenn Sie über einen Helden denken: »Der hat genau so ein Problem wie ich zurzeit.« Oder: »Interessante Situation. Wie würde ich wohl reagieren?«
Das machen sich zum Beispiel viele so genannte »Seifenopern« wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten oder Lindenstraße zunutze. Wir sehen dort ganz normale Menschen, die uns ähneln und die in Probleme verwickelt sind, die wir aus unserem Leben kennen. Aus diesem Grund müssen Sie als Drehbuchautorin Ihrer Heldin von Anfang an ein paar ordentliche Herausforderungen und Schwierigkeiten in die Wiege legen.
Um Spannung zu erzeugen, benötigen Sie eine große Herausforderung, die sich wirklich lohnt
Ohne eine große Herausforderung, die wir attraktiv und begehrenswert finden, ist unser Leben weniger aufregend, faszinierend, lebens- und liebenswert.
Denken Sie einmal darüber nach: Was wäre Ihr Leben ohne Probleme?
Haben Sie es schon einmal erlebt, dass in einer Liebesbeziehung alles glatt lief und nach und nach erstarrte alles in Routine? Können Sie sich daran erinnern, wie stupide und langweilig alles wurde, weil alles seinen gewohnten, stets eintönigen Gang ging? Und dass Sie sich immer wieder dabei erwischten, dass Sie in Tagträumen anfingen, sich nach einem anderen Leben zu sehnen?
Warum ist das so?
Nun, die Antwort ist einfach:
Menschen lieben Probleme
Sicher: Niemand würde das zugeben, wenn er gerade in einer schwierigen Situation steckt. Aber achten Sie einmal darauf, mit welcher Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit sich Menschen immer wieder Probleme schaffen.
Denken Sie nur an die Freundin, die immer wieder an den Falschen gerät. Obwohl Sie ihr schon so oft gesagt haben, was sie da falsch macht, und sie Ihnen jedes Mal Recht gibt, bleibt sie in der Beziehung gefangen. Oder, wenn gar nichts mehr geht, dann geht sie. Nur, um dann wieder bei einem weiteren Kandidaten zu landen, der äußerlich anders aussieht, aber genau die gleichen Macken aufweist wie all ihre anderen Verflossenen.
Achten Sie in der nächsten Zeit darauf, wie sehr Menschen Probleme lieben. Sie geradezu anziehen und provozieren.
Ganze Industrien leben davon. Zum Beispiel der Markt der Computerspiele. Jedes dieser Spiele ist ein Problem, das in einer bunten Verpackung ausgeliefert wird. Ob Sie mit Super-Mario von Level zu Level kämpfen, als Eisenbahn-Tycoon Ihre Expansionsgelüste im amerikanischen Transportgewerbe ausleben oder in einem Abenteuerspiel in die Haut eines durchtrainierten Kriegers schlüpfen, immer konfrontieren Sie sich mit einer Herausforderung. Und je größer die Probleme, desto höher der Spielspaß.
Menschen lieben Herausforderungen: Quizshows, Seifenopern, Mini-Golf oder der tägliche Klatsch am Kaffeeautomaten in der Firma zeigen deutlich, wie sehr Konflikte das Salz in der Suppe unseres Lebens sind.
Und das ist keineswegs zufällig so:
Herausforderungen sind notwendig für unser persönliches Wachstum
Oft sind es Situationen, die wirklich schwierig sind, die uns dazu bringen, über uns hinauszuwachsen.
Auch wenn Sie keine Computer-Spiele mögen und um Mini-Golf stets einen großen Bogen geschlagen haben, zeigt uns all das doch, was Menschen fasziniert – und was wir als Drehbuchautor oder Drehbuchautorin benötigen, um eine packende Geschichte schreiben zu können: einen Helden, mit dem man sich identifizieren kann – und einen ordentlichen Konflikt, der Spannung erzeugt.
Die Parade der Helden
Um einem Vorurteil gleich vorzubeugen: Damit wir uns mit einem Helden in einem Film oder einem Roman identifizieren können, muss er nicht unbedingt sympathisch sein.
Im Gegenteil: Ecken, Kanten und vor allem auch Schwächen sind notwendig, um eine Identifikation mit einem Helden zu ermöglichen. Selbst der früher aalglatte und stets souveräne James Bond ist heute eine Figur, die Rückschläge einstecken muss und dessen machohafte Einstellung zum Gespött seiner Chefin wird.
Aber genau das macht einen Hauptdarsteller wirklich interessant: Je widersprüchlicher sein Charakter, je mehr Stärken, aber eben auch Schwächen er besitzt, desto mehr Tiefe strahlt er aus und wirkt damit sowohl auf der Leinwand als auch im echten Leben interessanter und faszinierender.
Titanic
Der Film wird aus der Perspektive einer fast hundertjährigen Frau namens Rose DeWitt Bukater erzählt, die als 17-Jährige von ihrem schwerreichen Verlobten Cal Hockley auf die Titanic eingeladen wird.
In der ersten Szene, die wir von ihr als junge Frau zu sehen bekommen, erleben wir sie als hochmütig. Während alle anderen von der Imposanz der Titanic beeindruckt und überwältigt sind, gibt sie sich kühl und sagt über das Schiff: »Sie sieht überhaupt nicht größer aus als die Mauretania.«[6]
Würden Sie gern wie Rose ein anderes Leben führen?
Ein gewagter Anfang, vor allem für eine zentrale Figur, die uns durch einen dreistündigen Film führen soll. Aber Hochmut ist eigentlich...