1. Ein Neubeginn
Jeder Mensch kennt sie: die Furcht vor einem bedrohlich wirkenden Fremden auf der Straße, die Nervosität vor wichtigen Prüfungen und Vorstellungsgesprächen oder das besorgte Abwarten eines ärztlichen Befundes. Ein Leben im Zustand dauernder Ruhe und Sicherheit, frei von allen Ungewissheiten, Risiken, Gefahren und Bedrohungen, ist gar nicht denkbar. Furcht und Angst gehören zum Leben dazu – und sind eigentlich meist auch ganz nützlich. Furcht warnt vor einer bevorstehenden Gefahr, etwa wenn man beim Autofahren auf einer nassen oder vereisten Straße ins Schlingern kommt oder von einem Unbekannten verfolgt wird, der einem verdächtig erscheint. Angst kann dazu motivieren, sich besser auf ein wichtiges geschäftliches Treffen vorzubereiten oder besondere Vorkehrungen zu treffen, wenn man eine Reise an einen fernen und unbekannten Ort antritt. Fakt ist: Wir brauchen im Leben ein gewisses Maß an Furcht und Angst.
Furcht und Angst sind so normal wie Essen, Schlafen und Atmen. Da sie zum Überleben notwendig sind, wäre es gefährlich, sie komplett aus dem Leben zu entfernen.
Sich zu fürchten oder Angst zu haben ist jedoch nicht immer zuträglich. Als Psychologe (David A. Clark) beziehungsweise Psychiater (Aaron T. Beck) haben wir schon Tausende Geschichten über den täglichen Kampf gegen Angst und Furcht gehört. Manche Menschen werden von ihrer Angst schier überwältigt, sie leiden ständig und übermäßig stark unter Befürchtungen, Sorgen, Anspannung und Nervosität in Alltagssituationen, die die meisten anderen recht unbekümmert angehen.
Zu Tode besorgt
Rebecca kann nicht schlafen. Seit sie vor fünf Jahren zur Filialleiterin befördert wurde, ist die 38-jährige Mutter von zwei schulpflichtigen Töchtern voller Angst. Sie ist nervös und macht sich Sorgen über ihre Arbeit, die Sicherheit ihrer Kinder, die Gesundheit ihrer alternden Eltern, ihre finanzielle Situation und die instabile Arbeitssituation ihres Mannes. In ihrem Kopf spult sich eine endlose Liste möglicher Katastrophen ab: Sie taugt nicht zur Führungskraft und wird die monatlichen Absatzprognosen nicht erfüllen; die jüngere Tochter wird in der Schule verletzt oder die ältere von Freundinnen gehänselt; ihre Eltern sind enttäuscht, weil sie sie nicht besucht; sie hat nach Abzug aller Ausgaben nicht genug Geld für ihre Altersvorsorge übrig; ihr Mann könnte jederzeit seine Stelle verlieren ... und so weiter. Schon immer ist Rebecca eine Person gewesen, die sich schnell Sorgen macht, aber in den letzten Jahren ist es so schlimm geworden, dass sie es kaum noch aushalten kann. Sie leidet unter schlaflosen Nächten und befindet sich außerdem fast immer in einem Zustand der Aufregung, sie ist zittrig, leicht reizbar, gerät schnell „aus der Fassung“, kann sich nicht entspannen, hat zuweilen Wutanfälle und bricht scheinbar grundlos in Tränen aus. Sie bekommt ihre Sorgen einfach nicht in den Griff. Trotz aller Bemühungen, sich abzulenken und sich gut zuzureden, dass alles schon irgendwie in Ordnung kommen wird, hat Rebecca ein flaues Gefühl im Magen, als würde „alles aus den Fugen geraten“.
Neigen auch Sie zu nervösen Ängsten? Dann vergleichen Sie Ihre eigenen Erfahrungen einmal mit denen von Rebecca und schreiben Sie über die Ähnlichkeiten und Unterschiede.
Den Halt verloren
Todd verliert zunehmend die Kontrolle – so jedenfalls sieht er es selbst. Kurz nach seinem Collegeabschluss zog er in eine andere Stadt, um dort eine Stelle im Vertrieb anzutreten. Zum ersten Mal in seinem Leben wohnte er allein. Er fand neue Freunde, auch eine feste Freundin. In seiner neuen Tätigkeit machte er große Fortschritte, seine Arbeitsleistung galt als ausgezeichnet. Es ging ihm gut. Doch an einem kühlen Novembertag auf der Autofahrt nach Hause war mit einem Schlag alles anders. Es war ein anstrengender Arbeitstag gewesen, er hatte Überstunden gemacht, um mit einem umfangreichen Projekt pünktlich fertig zu werden. Nach der Arbeit hatte er den Stress im Fitnessstudio beim Cardio-Training abgebaut. Auf dem Nachhauseweg überkam ihn ein unerwartetes und komisches Gefühl: Seine Brust verengte sich, sein Herz raste. Ihm wurde schwindlig, er fühlte sich benommen, als würde er gleich ohnmächtig werden. Er fuhr an den Straßenrand, schaltete den Motor aus und krallte sich ans Lenkrad. Vor Anspannung rang er nach Atem, er glaubte, ersticken zu müssen. Da fiel ihm sein Onkel ein, der vor drei Jahren einen Herzinfarkt gehabt hatte. Bekam er jetzt etwa auch einen? Er wartete ein paar Minuten, bis die Symptome nachließen, und fuhr dann in die Notaufnahme einer Klinik. Er wurde gründlich untersucht, doch keiner der Befunde wies auf ein körperliches Problem hin. Die Oberärztin schloss auf einen Panikanfall. Sie gab ihm ein Beruhigungsmittel und riet ihm, zum Hausarzt zu gehen.
Dieser erste Anfall vor neun Monaten hat Todds Leben völlig verändert. Er leidet seitdem häufig unter Panikattacken und sorgt sich fast ununterbrochen um seine Gesundheit. Er geht seltener unter Leute und hat Angst vor dem Autofahren, weil er einen weiteren Anfall befürchtet. Er fährt nur noch zur Arbeit, in die Wohnung seiner Freundin und nach Hause, weil er Angst davor hat, sich in eine neue oder unbekannte Umgebung vorzuwagen. Seine Welt ist geschrumpft, Furcht und Vermeidung regieren sein Leben.
Hatten Sie auch schon einmal Panikattacken? Falls ja, wie war das im Vergleich zu Todds Erfahrungen?
Vor Scham fast gestorben
Elizabeth, Mitte 40, ist unglaublich schüchtern. Schon als Kind wurde sie in Gegenwart anderer Menschen leicht nervös und vermeidet seither zwischenmenschlichen Kontakt, so gut es geht. Es scheint, als machte ihr beinahe jeder Kontakt zu anderen Menschen Angst: längere Gespräche, ans Telefon gehen, in einer Versammlung das Wort ergreifen, eine Verkäuferin um Rat fragen, ja sogar in einem Restaurant essen oder den Gang eines Kinos entlanggehen. All das macht sie nervös, ängstlich und unsicher, da sie befürchtet, rot anzulaufen und unbeholfen zu wirken. Sie ist davon überzeugt, dass die anderen sie immerzu anschauen und sich fragen, ob mit ihr etwas nicht in Ordnung sei. Hin und wieder hat sie sogar Panikattacken. Sie schämt sich wegen ihres Sozialverhaltens und vermeidet daher jeglichen menschlichen Kontakt, ob privat oder öffentlich. Sie hat nur eine einzige enge Freundin und verbringt die meisten Wochenenden bei ihren alternden Eltern. Obwohl sie in ihrem Beruf als Bürokauffrau sehr kompetent ist, wurde sie nicht befördert, weil sie im Umgang mit anderen so unbeholfen ist. So ist Elizabeth – von ihrer Furcht und Angst vor anderen Menschen in die Enge getrieben – in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen, ist deprimiert und fühlt sich ungeliebt.
Werden Sie in der Gegenwart anderer Menschen nervös? Falls ja, wie verhält sich das im Vergleich zu Elisabeths Erfahrung?
Rebecca, Todd wie auch Elizabeth haben eine intensive und andauernde Angst erfahren, die sie erheblich belastet und ihr Leben beeinträchtigt. Und angesichts der Tatsache, dass Sie mit der Lektüre dieses Buches begonnen haben, leiden wahrscheinlich auch Sie darunter. Glücklicherweise haben alle drei es geschafft, noch einmal neu zu beginnen, indem sie lernten, zur Überwindung ihrer lähmenden Angst bewährte psychologische Strategien einzusetzen. In unserem Arbeitsbuch stellen wir Ihnen eine Reihe von Ansätzen vor, mit der erfolgreiche Therapeuten Angststörungen behandeln. Wie Sie sehen werden, können auch Sie dazulernen und mithilfe effektiverer Strategien zur Überwindung belastender Ängste einen Neubeginn wagen.
Sie sind nicht allein
In den USA erkranken mehr als 65 Millionen Erwachsene irgendwann im Laufe ihres Lebens an einer Angststörung. Angst ist die am häufigsten vorkommende psychische Störung.[1] Anders ausgedrückt: Mehr als ein Viertel Ihrer Freunde, Kollegen und Nachbarn haben schon einmal unter schwerer Angst gelitten, auch wenn die Mehrheit von ihnen sich nicht behandeln lässt. Auch Stars und Prominente litten bzw. leiden unter Ängsten, darunter: Kim Basinger, Nicholas Cage, Winston Churchill, Abraham Lincoln, Nicole Kidman, Barbra Streisand und Dustin Hoffman.[2] Kein Grund also, sich zu schämen oder sich selbst die Schuld dafür zu geben. Ganz sicher sind Sie nicht allein. Die gute Nachricht lautet, dass die medizinisch-psychologische Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten sehr zur Erweiterung der Kenntnisse und der Verbesserung der Behandlung von Angststörungen beigetragen hat. Es gibt also Hilfsangebote, die Sie nutzen können, um die Intensität, die Dauer und die negativen Folgen Ihrer Angst zu reduzieren.
1.1 Wie kann dieses Übungsbuch helfen?
Tausende Menschen, die unter Furcht und Angst leiden, sind der lebende Beweis dafür, dass man selbst in Zeiten erheblicher Belastung ein produktives und befriedigendes Leben führen kann. Sie können die Intensität, die Dauer und die negativen Folgen Ihrer Ängste reduzieren. Befördern Sie „den Geist wieder zurück in die Flasche“, damit Furcht und Angst an ihren normalen, rechtmäßigen Ort in Ihrem Leben zurückkehren.
Sie können das Buch zwar allein durcharbeiten, doch unserer Erfahrung nach sind die hier vorgestellten Methoden effektiver, wenn Sie sie in einer Therapie in Begleitung einer qualifizierten und erfahrenen Person anwenden. Sie basieren auf der kognitiven Therapie (KT), die von einem der beiden Autoren (Aaron T. Beck) in den 1960er-Jahren zur Behandlung von Depression entwickelt wurde.[3] 1985 veröffentlichten Beck und Kollegen Anxiety Disorders and Phobias: A Cognitive...