1 „Reden kann doch jeder“
„Eine der Hauptursachen des heutigen Durcheinanders ist der Mangel an Liebe auf Seiten derer, die Willen haben, und der Mangel an Willen bei jenen, die gut und liebevoll sind.“
(Roberto Assagioli 2008, S. 87)
Worte gehen wie Berührungen unter die Haut. Während das Auflegen der Hand oder das Berühren eines kranken Körperteils an der oberen Hautschicht endet, gelangt Kommunikation bis in das tiefste Innere des Menschen.
In der Chirurgie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten spektakuläre Entwicklungen ergeben. Ein Chirurg von Anfang des letzten Jahrhunderts könnte sich in einem Operationssaal von 2019 nicht mehr zurechtfinden. Dieser Bereich der Medizin, der buchstäblich in den Menschen eindringt, hat stattliche Erfolge zu verzeichnen und wird mit großem Aufwand betrieben. Dagegen wird die Idee, dass ein Arzt auch mit seinen Worten die Außenhülle des Menschen durchdringt, oft vernachlässigt und mit der Einschätzung, man habe ja „nur“ geredet, abgetan. Ja, viele Gespräche sind alltäglich oder gar banal. Bei der Kommunikation sind beide Gesprächspartner bei Bewusstsein und keiner hat ein Skalpell in der Hand. Oder vielleicht doch? Können nicht auch Worte einschneidend sein? Jeder Patient, der eine gravierende Diagnose bekommen hat, und jeder Arzt, der eine solche Botschaft überbringen musste, weiß das nur zu gut.
1.1 Was Patienten hören wollen
„Bald werden Sie wieder gesund sein!“ Diesen einen Satz wollen Patienten hören. Manchem ist sogar beinahe egal, welcher Weg zu seinem Ziel führt. Aber mit eben diesem Satz müssen Ärzte sehr sparsam umgehen, ihr Fachwissen verbietet voreilige Versprechungen.
Dennoch ist die innere Haltung des Arztes zum Patienten und seinen Chancen von unermesslicher Bedeutung. Gerade ein kranker Mensch hat ein feines Gespür für Schwingungen. Schlimmstenfalls „geheimnist“ er in jede Geste, jedes Wort einen dunklen Sinn.
„Werde ich wieder gesund?“ Diese Frage lässt sich oft nicht so einfach beantworten. Hätte der Patient gefragt „Wie kann ich wieder gesund werden?“, wüsste der Arzt spontan viele Möglichkeiten. Speziell bei chronischen Erkrankungen ergibt sich dann nicht nur die Polarität „krank – gesund“, sondern vielmehr die Zielvorstellung eines gelingenden Lebens trotz der Krankheit.
So sind in der ärztlichen Kommunikation – ebenso wie im Operationssaal – der Respekt vor den Möglichkeiten und Wirkungen, die penible Hygiene und die gute Kenntnis der Techniken unerlässlich. Wie man für eine Operation viel körperliche Kraft und absolute Aufmerksamkeit braucht, kann ein Gespräch nur dann gelingen, wenn Verstand und Gefühl anwesend sind. Eine unterbrochene Gallenblasenresektion ist eine Katastrophe, ein unterbrochenes Gespräch wird viel zu oft akzeptiert. Der Anteil am Misslingen von Behandlungen durch abgebrochene oder verunglückte Gespräche dürfte eine nicht zu vernachlässigende Größe darstellen.
„Wie kann ich gesund werden?“ Darauf kann ein Arzt immer antworten: „Ich begleite Sie, bis wir das herausfinden.“ So fängt Heilung an. Ärzte haben gelernt, die Sprache des Körpers in allen unterschiedlichen Zuständen und Reaktionen auf vielfältige Art zu diagnostizieren und zu behandeln. Wenn sie nun auch die Sprache der Menschen auf diese Art verstehen und beantworten lernen, lassen sich medizinische Erkenntnisse dem Patienten optimal näherbringen. Damit wird auch das Gefühl, gegen eine Wand zu sprechen oder ständig der Entwicklung hinterherzulaufen, ersetzt durch proaktives Verhalten, das Erfolg verspricht.
Wenn nicht mehr die Krankheit, sondern die Heilung im Fokus steht, können weder Arzt noch Patient allein diesen Prozess vollbringen; nur zu zweit schaffen sie das. Und dazu brauchen sie die Sprache.
Fachlich recht zu haben ist das eine, es auch therapeutisch zur Entfaltung zu bringen etwas anderes. Die ärztliche Heilkunst ist so wichtig für die Menschen, dass es der besten Kommunikationstechniken bedarf, die derzeit bekannt sind.
Seit der Antike wird den Ärzten eindringlich gesagt, wie wichtig eine wertschätzende Kommunikation ist. Erst seit einigen Jahren bemühen sich die Universitäten und Hochschulen darum, diesem Anspruch schon während der Ausbildung gerecht zu werden. An zahlreichen Universitäten gibt es für Medizinstudenten die Möglichkeit, an Simulationspatienten Anamnesegespräche zu üben. Die „Patienten“ (meist professionelle Schauspieler) sind für einen bestimmten Krankheiten-Formenkreis vorbereitet und simulieren die vereinbarten Symptome. So können Medizinstudenten schon während ihrer Ausbildung ein Gespür für die notwendigen ärztlichen Kommunikations-Skills entwickeln. Das nutzt aber den bereits praktizierenden Ärzten nichts mehr. 72 % der befragten Mediziner geben an, dass sie während ihrer Ausbildung gar nichts oder eher wenig über Gesprächsführung gelernt haben (Müller 2006 ▶ [114]).
Dabei ist der ärztliche Beruf ein sprechender Beruf. Etwa 200000 Gespräche führt ein Arzt im Laufe seines Berufslebens. Damit verbringt er 30% seiner Zeit. Die bisherige „Standard-Ausbildung“ hat ihn, wie erwähnt, auf diesem Feld nicht unterstützt. Wer Kommunikation von Grund auf lernen will, würde berufsbegleitend etwa 5 Jahre brauchen. Das ist nicht zumutbar. Deshalb liegt hier auch kein vollständiges Lehrbuch vor, sondern ein praxisrelevantes Manual.
Es gibt Ärzte, die ihr gesamtes Berufsleben darunter leiden, dass sie ihr wichtigstes Instrument, das ärztliche Gespräch, nie professionell gelernt haben. Der Anspruch und der Wunsch sind da, denn in der Praxis kosten manche Gespräche unendlich viel Kraft. So droht ein Ausbluten in einem immer schneller werdenden Alltag. Manch ein Arzt hat sich im Learning-by-doing-Verfahren verschiedene Techniken angeeignet, aber professionelle Arbeit verdient die bestmögliche Unterstützung.
Aus dem Wunsch heraus, den jetzt praktizierenden Medizinern ohne viel Theorieballast Techniken und Wege zu zeigen, wie die tägliche Kommunikation optimiert werden kann, ist dieses Buch entstanden.
PraxisWissen: Ich schenke Ihnen das kleine Wort „noch“ – so kann man auf einen ungeduldigen Patienten eingehen, der sich beklagt, etwas nicht zu können.
NeuroWissen: Ein Patient, der sich in einer Situation hilflos erlebt, erleidet gleichzeitig eine Verschlechterung seines Immunsystems. Die Neurowissenschaft nennt diesen Effekt, der von erhöhter Virulenz bis hin zum Herzinfarkt führen kann, Open-Window-Effekt.
1.2 Fünf Thesen zur Kommunikation
1.2.1 These 1: Gute Kommunikation ist erlernbar
Es gehört zu den Mythen der Kommunikation, dass es sich um eine Begabung handelt. Es stimmt nicht, dass man zum Reden „geboren“ sein muss. Selbst introvertierte Menschen, denen Sprechen nicht so leichtfällt, können einen guten Zugang zum Patienten finden. Natürlich ist die Vorstellung bequemer, es handle sich um eine Begabung. Aber Kommunizieren ist eine Fähigkeit, die wie chirurgische Techniken erlernbar ist.
Unzählige Menschen in sämtlichen Berufen können gutes Kommunizieren erlernen.
1.2.2 These 2: Erfolgreiche Kommunikation spart Zeit und Geld
Die meisten Dinge müssen sich einer Prüfung nach Kosten-Nutzen-Aspekten unterwerfen – auch wenn sie da scheinbar nicht hingehören. So konnte es geschehen, dass man Soft Skills für irrelevanten Schnickschnack hielt. Oder wie es ein Chirurg einmal formulierte: „Ich brauche keine Kommunikation, ich trage Mundschutz!“ Sollte das Gespräch in einer erfolgsorientierten Medizin Zeitverschwendung sein?
An fast allen Stellen im Medizinbetrieb konnten eindeutige Vorteile durch eine gelungene Kommunikation nachgewiesen werden. Eine profitable Medizin kommt ohne (möglichst gute) Kommunikation nicht mehr aus.
1.2.3 These 3: Positive Kommunikation macht Spaß
Das tägliche Gespräch mit Patienten in schwierigen Situationen kann zur zermürbenden Stressprobe werden. Wenn man die Methoden der gelingenden Kommunikation anwendet, werden die Hürden kleiner und ein positiver Kontakt gelingt immer öfter.
Souveränität und Humor erfüllen den Alltag mit Freude.
1.2.4 These 4: Gute Kommunikation steigert die Adhärenz
Nichts zu erklären und eine Behandlung einfach anzuordnen, das verringert die Chancen auf eine gute Zusammenarbeit deutlich. Gemeinsam mit dem Patienten nach dem größten gemeinsamen Nenner zu suchen, ihm eine aktive Rolle im Behandlungsprozess zu geben und ihn als Experten für seine Erkrankung zu betrachten, würde die Basis für Adhärenz bilden, also das Einverständnis des Patienten, sich an die gemeinsam vereinbarten Therapieempfehlungen zu halten.
Dazu belegt eine große Studie, dass Patienten, die verstehen, warum sie auf eine bestimmte Weise behandelt werden, eine größere Compliance zeigen (Klemperer u. Rosenwirth 2005 ▶ [85]).
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