Das Mediale
Auf wundersame Weise leitet der Streichholzmann Bert in die Thematik eines Buchs ein, dessen Aufgabe es ist, seinerseits eine Schnittstelle herkömmlichen Nachdenkens über das so genannte Schöne zu überschreiten. Dort, wo er Mary Poppins in eines seiner Bilder entführt, wo beide jeweils auch neu eingekleidet in eine andere Wirklichkeit hinüberwechseln, ist bereits von ästhetischer Erfahrung in einem besonderen, nunmehr medialen Sinn zu sprechen. Der Akt des Transzendierens, des Sphärenwechsels selbst ist es, der sich hier in allegorisch-bildlicher Form veranschaulicht. Hineinversetzt in eine künstlich-mediale Welt, werden die literarischen Figuren der Kindergeschichte zu Teilen des Kunstwerks. Mit all ihren Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten ausgestattet, nehmen sie als selbständige Subjekte nunmehr Zugriff auf das ästhetische Gefüge an sich, deren Teile sie werden. Nicht anders zu sagen: Durch sie gerät das Bild in Bewegung. Die Bildlandschaft wird lebendig. Sie promenieren in das Innere der Straßenmalerei. Auf einem grünen Tisch steht der Nachmittagstee bereit. Kellner erscheinen. Ein Karussell beginnt zu rotieren. Und auf dem Rücken der Holzpferde legen sie den weiten Weg nach Yarmouth zurück.
Wie aber ist eine derartige ästhetische Erfahrung möglich? Durch welchen Zauber gelangen die Protagonisten in diese ihnen eigene bizarre Welt? Die Fragen kursieren um die Frage nach dem wirksamen Mittel. In einer Walt-Disney-Filmproduktion zum Buch von P. L. Travers bemüht sich Bert zunächst vergeblich, sich selbst, Mary Poppins und die Kinder in das Bild zu «zaubern». «Scharf denken, Augen zukneifen, Augen schließen und hopp» erweist sich als die falsche Formel. Mary Poppins ihrerseits zählt nur bis drei, «eins, zwei, drei», und der Wechsel findet statt. Es scheint ein Kinderspiel, und Bert kann nur noch verwundert feststellen: «Mary Poppins, du siehst bezaubernd aus!» Das ästhetische Erlebnis ästhetisiert zugleich die Personen und ihre Beziehungen. Sie tauchen ein in eine Freizeitwelt, in der sie mit Zeichentrickfiguren kommunizieren, in der sie ausgelassen tanzen, singen und lachen.
Eine Zauberei für kindliche Gemüter, so mag es scheinen. Und doch ist dem Zauber der Phantasie hier eine andere Wirklichkeit verliehen. Die Protagonisten zumindest bewegen sich nunmehr tatsächlich in dem Bild des Straßenmalers. Sie sind einfach in eine andere Dimension alltäglicher Erfahrung eingekehrt, kein Eskapismus, nein, einfach so, schließlich hat Mary Ausgang. Sie unternimmt einen kleinen Ausflug in die mediale Welt der Kunst. Es ist geradeso, als würde sie ins Kino gehen und dort mit einer der Darstellerinnen verschmelzen, ein Phänomen, das den meisten Kinozuschauern nicht unvertraut sein dürfte und das Wolfgang Wilhelm 1941 in seiner Dissertation «Die Auftriebswirkung des Films» hinlänglich beschrieben hat: «Plötzlich bin ich ganz Viktoria oder soll es sein; plötzlich stehe ich gar nicht mehr darüber, sondern soll so mit einer Person in eins verschmolzen werden, daß ich mich selbst ganz aufgebe.» (S. 42)
Das Problem der Verwechslung von Lebenswelten und medialen Welten ist im Beispiel der Mary-Poppins-Episode angelegt. Die bei Gilles Deleuze zu Beginn seines Buchs «Cinéma 1. L’image-mouvement» mit Bezug auf den Philosophen Henri Bergson entwickelte These, dass die filmische Bewegung mit dem Raum, den sie durchläuft, keine Verbindung eingehe, wird zumindest auf ästhetischem Weg in Frage gestellt. Es mag sein, dass Leinwandbewegungen und Kinosaal im allgemeinsten Sinn als voneinander geschieden gedacht werden. In dem Kinderbuch-Beispiel jedoch ist diese Entmischung von Bewegung und Raum konterkariert. Der Bildraum, in welchem Mary und Bert sich bewegen, verändert sich. Sie lassen sich bewirten, fahren Karussell, Gegenstände, die sich im Raum befinden, werden verändert, nehmen andere Positionen ein. Der Bildraum selbst erweist sich als in sich flexible, veränderliche Größe. Der Phantasieraum des Bildes, den die Protagonisten einnehmen, wird von ihrer Bewegung aus, ganz subjektiv, verändert. Verblüffend ist die Ähnlichkeit der animierten Szenen mit den kindlichen Gedankenwelten, in denen Kinder selbst zu Darstellern ihrer eigenen Phantasien werden.
Nach Deleuze ist die filmische Bewegung im Sinne der kinematographischen Illusion eine künstliche, eine falsche Bewegung. Die mediale Welt des Films hat künstlichen Charakter, so letztlich auch die animierten Szenen des Mary-Poppins-Stoffs. Allegorisch jedoch veranschaulicht diese Episode exakt das Moment des Überschreitens der Künstlichkeit, das reale Eintauchen in die ästhetische Erlebniswelt. Erkennbar sind die Bewegungen der Protagonisten bei «Mary Poppins» in der Zeichentricksequenz ebenso richtig, im Sinne von real, wie die Bewegungen der Protagonisten in anderen Filmzusammenhängen. Wenngleich die Bewegungen von filmischen Abläufen aufgrund einer Sinnestäuschung hergestellt werden, sind sie doch bestes Beispiel der von Deleuze als fraglich hingenommenen Rekonstruktion der Bewegung selbst. In keinem Deut unterscheiden sich zum Beispiel die Bewegungen der Eiskunstläufer im Film von denen, welche die Zuschauer im Eisstadion wahrnehmen. Nicht im Hinblick auf die Bewegung trügt das Medium, das durch Zeitlupe noch sogar zur Verfeinerung der Wahrnehmung von Bewegungsabläufen beitragen mag. Es trügt im Hinblick auf Wahrnehmungsausschnitt, Zeitgegenwart und Echtheit des Gezeigten.
Mit Bezug auf die Kunstsphären wäre es nicht falsch, in diesem Sinn auch von bewegten Welten zu sprechen. Immer sind es Momente der Bewegung, die ihrerseits verantwortlich sind für das ästhetische Gebilde. Ohne Frage ist keine Ästhetik, keine Lehre vom so genannten Schönen, keine Abhandlung über sinnliches Wahrnehmen vorstellbar, ohne gleichzeitig Bewegung zu thematisieren. Gemeint ist in einem anfänglichen Verständnis nicht nur die allgemeine Bewegung der Körper, sondern, mit ästhetischer Notierung, die Bewegung des Gemüts. Noch der fixierteste Zustand, etwa in Malerei, Photographie oder auch nur in versunkener Betrachtung einer Landschaft, ist Ausdruck einer Bewegung. Und diese Bewegung, selbst im Stillstand des fixierten Moments, ist Gemütsbewegung, ästhetisches Erleben, ästhetische Empfindung.
Wo Mary Poppins und Bert in das Innere des Kunstwerks vordringen, lassen sie im Grunde nichts anderes anschaulich werden als ebenjene vom Kunstwerk oder «Schönen» aus affizierte Gemütsbewegung. Anschaulich wird das ästhetische Vermögen des Subjekts, das sich einem Kunst- oder Naturschönen hingibt. Insoweit das menschliche Gemüt hier in zugegeben einfältig und verspielter Weise selbst medialisiert erscheint, treten die Protagonisten wie Akteure innerhalb eines Bühnenbildes ihrerseits als Vertreter dieser Medialisierung auf. Sie werden zu funktionalen Elementen eines sonst wie konzipierten ästhetischen Ganzen, das seinerseits expressiv Einbildungen nachahmt. Was durch sie anschaulich wird, ist das auf Gemütslagen und Gefühle zurückgehende Vermögen menschlicher Einbildungskraft. Dabei fungiert das Mary-Poppins-Beispiel in einem dreifachen Sinn. Es veranschaulicht Einbildungskraft sowohl im Hinblick auf den Prozess künstlerischen Schaffens als auch auf den Prozess der Begutachtung ästhetischer Gebilde und jenen der Anwendung ästhetischer Erfahrung.
Zu klären ist demzufolge das Verhältnis von Gemütsbewegung und Einbildungskraft mit Verweis auf ein durch Nachahmung oder Mimesis von Gefühlsdingen oder Wahrnehmungsdingen hervorgebrachtes Interesse an Medialität. Dieses Interesse bekundet sich bereits in den ältesten Überlieferungen zur Theorie des so genannten Schönen. Dabei ist mit den Überlegungen Ernst Cassirers in seinem «Versuch über den Menschen» zu beachten, dass eine Geschichte der Auseinandersetzung mit Kunst und Ästhetik auf eine recht deutliche Weise zusammenfällt mit einer Geschichte der Auseinandersetzung mit Sprache. Sprache und Kunst sind in ihrer wichtigsten Bedeutung medial. Das heißt, sie haben eine mimetische Funktion. Sie ahmen Wirklichkeit nach. Aber niemals so, dass diese nachgeahmte Wirklichkeit nicht ebenso wirklich wäre. Sie ist es in ihrem spezifisch-medialen Sinn als nachgeahmte Wirklichkeit, in der sich Wirklichkeit wiederfindet, die ebenso wirklich ist, insofern sie nicht ohne Wirkung auf Wirklichkeit bleibt. Nachahmung, so Cassirer, sei ein Grundtrieb, ein fester Bestandteil der menschlichen Natur. Bereits Aristoteles habe darauf hingewiesen. Das Nachahmen sei den Menschen von Kindheit an gegeben. Der Mensch unterscheide sich von anderen Lebewesen dadurch, dass er am meisten zur Nachahmung befähigt sei und sich das Lernen bei ihm von Anfang an durch Nachahmung vollziehe. Und dieses Nachahmen sei zugleich eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens, was sich dadurch zeigt, dass selbst unbehagliche Dinge mit Gefallen zu betrachten sind, sobald sie in der Kunst wiedergegeben werden. Genannt werden die Gestalten von niederen Tieren oder Leichnamen.
Die Medialität der Nachahmung verweist auf ihre Technik. Wo sich im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit die Verfahren der Nachahmung erheblich verändert haben, ist dies ein unübersehbarer Aspekt. Der Zauber, mit dem noch Mary Poppins und Bert in ihr Bild gelangen, scheint durch die Technologien beherrschbar zu werden. Photographie, Kinematographie und elektronische Medien wie Radio, Fernsehen und Computer haben nicht nur Vorgänge der Nachahmung erleichtert. Sie haben im Zuge des technischen Fortschritts auf eine ihnen eigene Weise der nachgeahmten Wirklichkeit eine verstärkte Unmittelbarkeit und Authentizität verliehen, so dass seit Jahren und Jahrzehnten die Authentizität des Simulierten eigene...