Bildung – ein Weg ins Freie?
Aus der Welt, die diese Mutter verkörperte, entfernte sich Camus schon als Kind. Auf den Weg, den er sich wünschte, allein aber nicht gefunden hätte, brachte ihn der Primarschullehrer Louis Germain; ihm oblag die, so Camus, einzige, zugleich bedachte und entscheidende väterliche Geste, die in seiner Kindheit vorgekommen war […][17].
Le quartier pauvre, das Stadtviertel der Armen, ist ein Schlüsselbegriff in Camus’ frühen Schriften. Gemeint ist damit Belcourt, einer der ärmeren Stadtteile Algiers, in dem Besitzlose unterschiedlicher europäischer Herkunft, meist aus den Mittelmeerländern, in – wie Camus es als Kind empfunden hat – echter Gemeinsamkeit zusammenlebten: Ihre Familien, schreibt er in Der erste Mensch über die seinige und die seiner Schulkameraden, waren lose befreundet oder so, wie es in diesen Vierteln üblich ist, das heißt, daß man sich gegenseitig schätzte, ohne sich je zu besuchen, und wild entschlossen war, einander zu helfen […].[18] Die selbstverständliche Solidarität dieser einfachen, vitalen und sinnenfrohen Menschen hat Camus als Erfahrungswert zeit seines Lebens hochgehalten und zu bewahren versucht.
Eine Kategorie Menschen fiel allerdings aus dieser Gemeinsamkeit heraus: Algerier, les arabes in Camus’ Sprachgebrauch, gehörten nicht zu dem Kreis, mit dem man diese freundschaftlichen Verbindungen unterhielt. In Camus’ Grundschulklasse gab es zwar algerische Kinder, aber zu seinen Freunden gehörten sie nicht; gemessen am algerischen Bevölkerungsanteil in der französischen Provinz Algerien, waren sie schon in der Grundschule und erst recht später im Gymnasium unterrepräsentiert.[19]
Die Schule war für den Jungen ein Ort der Geborgenheit, ja des Glücks. Hier wurde die Enge eines nur von materiellen Bedürfnissen bestimmten Lebens durchbrochen, hier wurden geistige und emotionale Fähigkeiten um ihrer selbst willen gefordert und entwickelt, und hier fand der Junge in dem Lehrer Louis Germain einen Menschen, dessen väterliche Autorität er nicht nur akzeptierte, sondern dankbar bejahte. In diesen Lehrer konnte das Kind die Gestalt des unbekannten Vaters projizieren: Louis Germain gab an die Schüler nicht nur Wissen weiter, sondern ließ sie an seinem persönlichen Dasein teilnehmen, indem er ihnen Geschichten aus seinem Leben erzählte und seine moralischen Grundsätze vermittelte. Er las den Kindern aus Roland Dorgelès’ «Die hölzernen Kreuze», einem Kriegsroman, vor, wodurch er sie – als authentischer Zeuge des Geschehens – mit Krieg und Tod konfrontierte. Und er wandte sich den Kindern, deren Väter im Krieg geblieben waren, aus einem Bedürfnis der Wiedergutmachung heraus besonders zu; in Der erste Mensch lässt Camus den Lehrer sagen: Ja, ich ziehe Cormery vor [so der Name des autobiographischen Helden], wie all jene von euch, die ihren Vater im Krieg verloren haben. Ich habe mit ihren Vätern den Krieg mitgemacht, und ich lebe. Ich versuche hier wenigstens, meine toten Kameraden zu ersetzen. Und wenn jetzt noch jemand meint, ich hätte «Lieblinge», soll er es sagen![20] Von diesem Lehrer nimmt der Junge auch ohne Bitterkeit[21] Prügelstrafen entgegen, während er die Ohrfeige, die er von einem Katecheten im Religionsunterricht erhält, mit Stolz und Verachtung quittiert.
Die variable Zahl von […] tüchtigen Schlägen mit dem Lineal[22], die der geliebte Lehrer der jeweiligen Missetat entsprechend verabreicht, empfindet der Junge als verdient und gerecht; sie rufen daher nicht das Gefühl von Bitterkeit und Revolte hervor, das Gewalt – sowohl erlittene wie ausgeübte – sonst in ihm erzeugt. – Camus beschreibt in Der erste Mensch den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung seines autobiographischen Helden mit dem Mitschüler, der ihn als «Liebling» des Lehrers bezeichnet hatte: Cormery gibt die Kränkung auf denkbar stärkste Weise, durch eine Beschimpfung der Mutter des anderen, zurück, wohl wissend, dass er damit einen Zweikampf heraufbeschwört. Obwohl voller Angst, wird Cormery-Camus durch glückliche Umstände sehr rasch Sieger und als solcher von seinen Kameraden im Triumph vom Feld geführt. Sein zwiespältiges Gefühl nach dem Sieg beschreibt Camus so: Er wollte froh sein, war es auch irgendwo in seiner Eitelkeit, und doch […] legte sich ihm […] plötzlich eine düstere Traurigkeit aufs Gemüt. Und so begriff er, daß der Krieg nicht gut ist, da einen Menschen zu besiegen ebenso bitter ist, wie von ihm besiegt zu werden.[23]
Nach beider Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg sagt Louis Germain in Der erste Mensch zu seinem einstigen Schüler, dass er sich in vorgerücktem Alter freiwillig verpflichtet habe «nicht für den Krieg», […] «sondern gegen Hitler, und du, Kleiner, hast auch gekämpft, oh, ich wußte, daß du von echtem Schrot und Korn bist […]»[24]. Der Lehrer-Vater hatte Camus ein klares, einfaches Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse mitgegeben, mit dem sich beide, ohne Wissen voneinander, angesichts einer Herausforderung ihres moralischen Empfindens bewährt hatten.
Dieser Vaterrolle entspricht die Verantwortung, mit der sich Louis Germain in Camus’ Werdegang eingeschaltet hatte und die Camus in Der erste Mensch so charakterisiert: […] er war es, der Jacques in die Welt geworfen hatte, indem er ganz allein die Verantwortung dafür übernommen hatte, ihn zu entwurzeln, damit er sich zu noch größeren Entdeckungen aufmache.[25] Der Lehrer trat nämlich an Mutter und Großmutter Camus’ mit dem für sie überraschenden Plan heran, den Jungen aufs Gymnasium zu schicken. Nachdem die Großmutter – denn nur um deren Einwilligung musste gerungen werden – nach einem Hausbesuch Louis Germains und mit der Aussicht auf ein Stipendium zögernd ihre Einwilligung gegeben hatte, erteilte der Lehrer seinem auserwählten Schüler zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung unentgeltlichen Unterricht. In dieser spannungsreichen Zeit wünschte der Junge mitunter, die Aufnahmeprüfung nicht zu bestehen, um so den ständigen demütigenden Hinweisen der Großmutter auf das Opfer zu entgehen, das sein künftiger Werdegang für die Familie bedeute. Er bestand, doch angesichts der Zufriedenheit des Lehrers und des freudigen Trubels zu Hause fühlte er nur dies: […] statt der Freude über den Erfolg zerriß ein grenzenloser Kinderkummer sein Herz, so als wüßte er im voraus, daß er soeben durch diesen Erfolg aus der unschuldigen, warmherzigen Welt der Armen herausgerissen worden war […], um in eine unbekannte Welt geworfen zu werden, die nicht mehr seine war […].[26]
Dieses Vorgefühl bewahrheitete sich: Die neue Umgebung, die Bildungseindrücke, die Kenntnisse, die er durch das Gymnasium erlangte – all das konnte er seiner Familie nicht mehr mitteilen; für Mutter, Großmutter und die Onkel, die ohne Zeitungen, geschweige denn Bücher lebten, war dies fremdes, wenn nicht gar bedrohliches Terrain. […] das, was Jacques aus dem Lycée heimbrachte, [war] nicht assimilierbar, und das Schweigen zwischen seiner Familie und ihm nahm zu.[27]
Wenn der Gymnasiast bei seinen Fachlehrern auch die Nähe und Herzlichkeit seines einstigen Lehrer-Vaters vermisste – die von ihnen vermittelten Kenntnisse nahm er, zumal in den geistesgeschichtlichen und literarischen Fächern, freudig auf. Hier ging sein Wissensdurst noch über das in der Schule Gebotene hinaus: An den freien Donnerstagnachmittagen besuchte er die kommunale Bibliothek, genoss Bücher – sinnlich, in ihrer materiellen Beschaffenheit, und als Verheißung des begehrten zukünftigen Wissens. Die Gesamtheit dieser Bücher begriff er als einen Raum und vielfältige Horizonte, die sie […] dem engen Leben des Viertels enthoben[28]. Doch damit entzieht er sich vollends dem Verständnishorizont seiner analphabetischen Mutter: Das ist die Bibliothek, wiederholt die Mutter das ihr unverständliche, vom Sohn in die Familie eingeschleppte Wort, wenn sie eines der entliehenen Bücher in seinen Händen sieht; und wenn dieser aus dem Buch aufschaut, richtet er den Blick auf sie wie auf eine Fremde[29].
Das Bedauern darüber, dass ihm die Welt seiner Mutter verlorenzugehen droht, kämpft in dem Kind mit einer neuen Empfindung: sozialem Unterlegenheits- und Schamgefühl und dem daraus entstehenden Wunsch, seine Herkunft vergessen zu machen. Wenn er in einen Fragebogen den Beruf der Eltern einzutragen hat, ist er im Falle der Mutter unschlüssig und wird von einem Kameraden belehrt, dass er «Dienstbote» eintragen müsse; den Jungen berührt das unangenehm – hatte er die Arbeit der Mutter doch nie als Dienstbotentätigkeit für andere Leute, sondern als Dienst an ihren Kindern begriffen.
Wenn Großmutter und Mutter ihn zur Preisverleihung am Jahresabschluss in die Schule begleiten, schämt er sich für die Kleidung und das ungenierte Benehmen der Großmutter. Gleich in den ersten Eintragungen der Carnets erinnert er sich an Scham […] und die Scham, sich geschämt zu haben[30]: Was ebenfalls zählt, das sind die falschen Schamgefühle, die kleinen Feigheiten, die unbewußte Achtung, die man der anderen Welt zollt (der Welt des Geldes). (Tr, 8) Aber es geht nicht nur um Geld, es geht auch um eine Erschütterung seines...