Emigration – Skandinavien (1933–46)
Ich erinnere mich – es muss irgendwann ziemlich bald nach meiner Ankunft in Norwegen gewesen sein, erzählte der Bundeskanzler Brandt, ich wanderte an einem Fjord entlang und memorierte die Rede, die ich nach meiner Rückkehr nach Lübeck halten wollte.[19] Kein deutscher Flüchtling, auch Brandt nicht, ahnte damals, wie lange Hitler herrschen würde.
Die für jeden Menschen so entscheidenden Jahre zwischen zwanzig und dreißig erlebte Brandt außerhalb des nationalsozialistischen Deutschlands in zwei Welten: in der Welt der deutschen Emigranten und in der Welt der skandinavischen, insbesondere der norwegischen, Sozialdemokratie. Gewiss, beide waren sozialistisch, aber sie unterschieden sich im Laufe der Jahre immer mehr. Brandts «Zweisprachigkeit» – er lernte sehr schnell fließend Norwegisch, und seine in der einen oder anderen Sprache abgefassten Schriften unterscheiden sich in den politischen Akzenten – findet ihre Erklärung in dieser Unterschiedlichkeit. Er lebte ab 1933 mit und zwischen NAP (Norwegische Arbeiterpartei) und SAP, zwischen Reform und Revolution – deutschsprachig mehr zur SAP, norwegisch mehr zur NAP tendierend. Bestimmend für seine Politik nach 1945 blieben die norwegischen Erfahrungen. Aber als «der Norweger» Brandt schon ein sozialdemokratischer Reformer war, war der Deutsche noch ein revolutionärer Sozialist.
Wie unterschieden sich die beiden Welten? Die norwegische und die schwedische Sozialdemokratie waren siegreiche Parteien. Die Emigranten kannten keine Siege, erlebten «eine Niederlage nach der anderen», «im großen und im kleinen, im politischen und persönlichen Bereich» (Bruno Kreisky). Wie so viele politische Flüchtlinge vor und nach ihnen lebten auch sie zwischen Resignation und Hoffnung, Passivität und nervöser Übergeschäftigkeit, Illusion und Selbstanklage, oft einfach auf der Jagd nach dem Lebensminimum, einem Bett, Essen, Geld, der Aufenthaltsgenehmigung, der «Lebenserlaubnis», wie sie Günther Anders nennt. Überall, wo sie zusammentrafen, diskutierten sie. Diskutieren war für viele zur einzigen Form geworden, in der sich ihre politische Existenz ausdrückte. «Diskussion, das war für uns das Ringen um Klarheit über das, was ist», schreibt Bruno Kreisky. Man muss auch die andere Seite sehen: Die Diskussionen in der Emigration blieben vielfach weltfremd und rechthaberisch, schreibt Brandt.[20] Eine alte Erfahrung bestätigte sich hier: Je weniger Erfolgsaussicht für ein politisches Programm besteht, umso erbitterter wird darum gerungen. Das gilt für sozialistische Splittergruppen mit ihrer «Theoriebesessenheit» besonders, in der Enge des Exils steigert es sich noch. Man zerwirft sich über Chimären, spaltet sich in immer neue kleine Gruppen, sodass man mit bitterem Scherz von den Emigrantengruppen als von «niederen Lebewesen» sprach, «die sich durch Spaltung fortpflanzen»[21].
Die SAP-Gruppe in Oslo beispielsweise bestand aus zwölf Mitgliedern, aufgeteilt in die «Brandt-» und die «Anti-Brandt-Fraktion». Der «Kampf» zwischen beiden wurde in umfangreichen «Dokumenten» ausgetragen. Auch in der SPD-Gruppe in Stockholm sprach man zeitweise nicht mal miteinander. Die äußere Zerrissenheit spiegelte die innere Zerrissenheit der Emigranten wider und auch die Verzweiflung, denn weithin war das demokratische Ausland eher geneigt, vor Hitler Respekt oder Angst zu haben, als auf die Warnungen oder gar Forderungen von deutschen Hitler-Gegnern zu hören[22].
Die paar hundert SAP-Mitglieder in der Emigration hofften auf eine Anti-Hitler-Revolution in Deutschland, die nach ihrer Vorstellung nur eine sozialistische Revolution sein konnte. Die norwegische Sozialdemokratie befand sich in einer ganz anderen Situation. Nach den Wahlen im September 1934 war sie als stärkste Partei vom König mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Sie war gezwungen, sich an der Wirklichkeit zu orientieren. Auch in Skandinavien hatte die Weltwirtschaftskrise zu schwerer Arbeitslosigkeit und anderen großen Schwierigkeiten geführt. Ähnlich wie die schwedische Sozialdemokratie, die 1932 mit einem konstruktiven Programm der Krisenüberwindung die Wahlen gewonnen hatte, musste nun die NAP versuchen, durch eine überzeugende Reformpolitik ihre Mehrheit zu erweitern. Hier erlebte Brandt, wie eine linkssozialistische Partei, der SAP näher stehend als der SPD und in den zwanziger Jahren zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus angesiedelt, in der Regierungsverantwortung ihr auf Klassenkampf und Revolution beruhendes, streng marxistisches Programm revidierte und eine Mehrheit sichernde, pragmatische Politik betrieb.
Brandt 1964: […] das, was die skandinavischen Sozialdemokraten […] insgesamt trug, das war das, was aus den Kraftquellen des Christentums und des Humanismus gekommen war, viel mehr als das, was in der deutschen Sozialdemokratie von der Marx’schen Soziologie oder wie immer man die Lehre umschreiben will, gekommen war. Ich lernte eine große Offenheit kennen – bei uns blieb das auch während der Weimarer Zeit alles doch sehr abgekapselt, Schichten, Gruppen, Klassen, wenn man so will, im Verhältnis zueinander und im Verhältnis zum Staat. Ich lernte dort kennen, wie wirklich um die Demokratisierung eines Staatswesens gerungen wird, wie das aussieht, wenn man wirklich dabei ist und sich um praktische Aufgaben zu kümmern hat. […] Ich lernte kennen, wie eine moderne Sozialpolitik gestaltet wurde und eine ganze Menge anderer Dinge.[23]
Erstaunlich schnell fand sich Brandt in Norwegen zurecht. Einige Monate nach seiner Ankunft begann er schon, Artikel für Gewerkschafts- und Parteizeitungen zu schreiben. Als Leiter des SAP-Büros in Oslo und der SJV-Auslandsarbeit, worunter man sich eine ehrenamtliche Ein-Mann-Tätigkeit vorzustellen hat, oblagen ihm zwei Aufgaben: einmal Verbindung zum innerdeutschen Widerstand zu halten. Auch von Norwegen aus erhielten illegale SAPler oft auf abenteuerlichen Wegen hektographierte oder auf ganz dünnem Papier gedruckte Materialien der Partei. Verschlüsselte Briefe wechselten hin und her, hauptsächlich in Kopenhagen trafen sich Flüchtlinge mit Genossen aus dem Reich. Zum anderen oblag Brandt die Verbindung zur NAP und ihrem Jugendverband, was auch deshalb wichtig war, weil die SAP auf die finanzielle Unterstützung durch die norwegischen Genossen angewiesen war.
Anfangs stand Brandt der politischen Entwicklung der NAP recht skeptisch gegenüber. Mit seinen neuen Freunden von «Mot Dag», einer linken Intellektuellengruppe, in der man seine Skepsis teilte, diskutierte er nächtelang darüber, wie der «wahre» Sozialismus auszusehen habe und der revolutionäre Weg dorthin verlaufen müsse. In der Praxis geriet er rasch zwischen Baum und Borke. Mit der Führung des Jugendverbandes der NAP kam es zum Konflikt, weil Brandt sich dort auf die Seite der starken linken Opposition geschlagen hatte und mit aller Kraft daran arbeitete, den Verband auf revolutionärem Kurs zu halten. Umsonst versuchten Vertreter dieser Opposition ihrem Freund aus Deutschland auf dem Kongress des Jugendverbandes 1934 Gastdelegiertenstatus und Rederecht zu sichern. Die Führer der NAP-Jugend wussten diese beabsichtigte Verstärkung des linken Flügels zu verhindern.
Es gibt […] keinen Zweifel daran, dass ich mich in meinen frühen zwanziger Jahren – auch in dem Glauben, mehr zu wissen, als ich wirklich wusste – zu einigem politischen Dilettantismus verleiten ließ. Davon sind auch meine ersten Jahre in Norwegen nicht frei.[24]
Während Führer der NAP Brandt vorwarfen, zu unbesonnen radikal zu sein, beschuldigten ihn seine Genossen von der SAP, die neue, von den Sozialisten geführte norwegische Regierung «zu unkritisch» und «zu positiv» zu sehen. Der hauptamtliche Sekretär der SAP-Auslandsleitung in Paris, Jakob Walcher, schickte Brandt einen Artikel für das SAP-Blatt «Neue Front» zurück und belehrte ihn: «Die Aufgaben, die einer Regierung gestellt sind, die sich die Verwirklichung des Sozialismus zum Ziel stellt, haben einen prinzipiell anderen Charakter, als Ihr anzunehmen scheint. […] Glaubt Ihr wirklich, dass im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft […] und mit nur parlamentarischen Mitteln heute noch eine solche Reformpolitik möglich ist? – Wir leben in der Niedergangsperiode des Kapitalismus, in der nicht mehr nach vorwärts, sondern nur noch nach rückwärts reformiert wird. […] Wir bitten Dich, für die nächste Nummer uns einen neuen Aufsatz zu schreiben, Dich aber hierbei prinzipiell auf einen anderen Boden zu stellen.»[25]
Jakob Walcher
Der 1887 geborene Dreher wurde 1906 Mitglied der SPD, gehörte aber 1919 zu den Mitbegründern der KPD und arbeitete hauptamtlich mehrere Jahre in deren Parteizentrale. Von 1924 bis 1926 hielt er sich in der Sowjetunion auf. Als Vertreter der sogenannten Rechtsopposition wurde er 1928 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und gründete mit Gleichgesinnten die Kommunistische Partei-Opposition (KPO). 1932 trat er zur SAP über und...