1 Eine Vorbemerkung
Als der bekannte Historiker und Orientalist Bernard Lewis Mitte der 1970er-Jahre den sich abzeichnenden Wiederaufstieg des Islam zu beschreiben versuchte, leitete er seinen Beitrag mit folgenden Worten ein:
„Im großen mittelalterlichen französischen Epos über den Krieg zwischen Christen und Sarazenen in Spanien, dem Chanson de Roland, bemüht sich der christliche Dichter, seinen Lesern oder besser Zuhörern einen Eindruck von der sarazenischen Religion zu vermitteln. Gemäß seiner Vorstellung verehrten die Sarazenen eine Dreifaltigkeit, die aus drei Personen bestand, nämlich Muhammad, den Begründer ihrer Religion, und zwei andere, beide Teufel, Apollin und Tervagant. Uns erscheint dies komisch, und wir amüsieren uns über den mittelalterlichen Menschen, der unfähig ist, sich Religion oder irgendetwas anderes anders denn gemäß seiner eigenen Anschauung zu denken. Da das Christentum seinen Stifter in Verbindung mit zwei anderen Wesenheiten1 verehrte, mussten auch die Sarazenen ihren Gründer verehren, und auch er musste Teil einer Trinität sein, mit zwei Dämonen, hinzugezogen, um die Zahl voll zu machen.“2
Und:
„Dieser immer wiederkehrende Unwille, die Natur des Islam oder sogar die Tatsache des Islam als eines unabhängigen, unterschiedlichen und autonomen religiösen Phänomens zu erkennen, bleibt bestehen und wiederholt sich vom Mittelalter an bis in die moderne Zeit.“3
Am bloßen Faktum des Unwillens, die wahre Natur des Islam, wie sie in seinen Basisdokumenten ausgewiesen ist, zu erkennen, hat sich seither nicht unbedingt Grundlegendes geändert; ebenso wenig an der Tendenz zur naiven Projektion eigener Vorstellungen von Religion auf die Doktrinen der Muslime. Nun gibt es heute zwar sicher ganz andere Möglichkeiten des Zugangs zu Originalquellen, Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung und auch unmittelbaren Erfahrungen sowie eine sich nach und nach vergrößernde Szene, die den Islam an Hand seiner Quellen und seiner Geschichte einer näheren und kritischen Betrachtung unterzieht. Allerdings kommt zu diesem zweifellos gewichtigen Faktor ein weiterer hinzu, der ihn in nicht unerheblichem Ausmaß kompensiert, wenn nicht sogar überkompensiert. Es handelt sich hierbei um spezielle Auswirkungen der Globalisierung, die die bestehenden Kulturen in einen historisch einzigartig engen Kontakt miteinander gebracht, sie vermischt und neue Interessenlagen geschaffen haben, die bestimmte ideologische Erzählweisen mit sich bringen, die speziell den Islam als mit der westlichen, wesentlich durch Christentum und Aufklärung geprägten Kultur kompatibel charakterisieren wollen. Sie sind eng v.a. mit der rasch wachsenden muslimischen Einwanderung in den Westen verbunden, und diese Tendenzen haben eine Darstellung des Islam und speziell des Koran erzeugt, die in deutlichem Gegensatz zu den historischen Erfahrungen stehen, die der Okzident mit dem Islam gemacht hat. Der gesamte Okzident, ja die gesamte nichtmuslimische Welt sieht sich zudem im Rahmen der Globalisierung mit einer systematischen Propagandaflut zugunsten des Islam ausgesetzt, die im Kern von großen internationalen Organisationen (v.a. der OIC) und arabischem Geld gespeist ist4 und die ihre vielfältigen Echos in den Netzen islamophiler Globalisten findet. Diese geschichtsrevisionistische Propaganda lässt sich im einfachen Satz zusammenfassen, dass der Islam Frieden sei, und sie korrespondiert perfekt mit der verbreiteten westlichen Friedensideologie und den damit verbundenen Illusionen nach zwei katastrophalen Weltkriegen. Dies ist, neben schlichter Ignoranz, Gleichgültigkeit, Verkennung der Realitäten, Geschichtsverlust, einseitigen Selbstbezichtigungen, Dritte-Welt-Romantik und Opportunismus, eine wichtige Grundlage für heutige ideologische Projektionen; die grotesken Beispiele, den Islam partout durch die Brille westlicher ideologischer Muster sehen zu wollen, sind schier unüberschaubar.
Es ist fast schon eine Faustregel geworden, dass, je mehr Massaker im Namen des Islam begangen werden, desto lauter der Ruf erschallt, dass dies mit dem Islam nichts zu tun habe und nicht im Koran stehe. Zu einer Zeit, in der führende europäische Politiker längst dazu übergegangen sind, den Islam als Teil Europas auszugeben,5 ist mit Sicherheit eine genauere Lektüre islamischer Schriften angezeigt, zumal das Wissen über diese religiöse Ideologie in breiten Kreisen immer noch sehr begrenzt und verzerrt ist.
Die folgende Abhandlung ist ein bescheidener Versuch einer Abhilfe im Hinblick auf den speziellen, aber essentiellen Gesichtspunkt des Verhältnisses der islamischen Grunddokumente zu den Ungläubigen und den Abweichlern (den „Heuchlern“ und Apostaten) vom islamischen Glauben; er hält sich eng an die Quellen, ist also gewissermaßen auch ein Quellenbuch, freilich im Rahmen einer systematischen Durcharbeitung. Der Text widmet sich der Darstellung der Haltung des Koran und der frühen islamischen Tradition zu den Nichtmuslimen und Abweichlern, will also den Islam nicht allseitig und vollständig darstellen. Es geht vielmehr darum, seine ihn begründenden Texte bezüglich der Nichtmuslime auf einer möglichst breiten Basis einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Dabei stehen die Grunddokumente des Islam, v.a. Koran und Prophetentradition, im Zentrum, die seit vielen Jahrhunderten als seine nicht revidierbaren Fundamente gelten. In den Worten einer islamischen Vereinigung in Deutschland:
Die Muslime glauben, dass sich Gott über Propheten wiederholt geoffenbart hat, zuletzt im 7. Jahrhundert westlicher Zeitrechnung gegenüber Muhammad, dem „Siegel der Propheten“. Diese Offenbarung findet sich als unverfälschtes Wort Gottes im Koran (Qur'an), welcher von Muhammad erläutert wurde. Seine Aussagen und Verhaltensweisen sind in der so genannten Sunna überliefert. Beide zusammen bilden die Grundlage des islamischen Glaubens, des islamischen Rechts und der islamischen Lebensweise.6
Wenn man zugrunde legt, dass sich der wahre Charakter einer religiösen oder weltanschaulichen Richtung in der Regel dort am klarsten zeigt, wo sie mit Anhängern anderer Strömungen und ausgesprochenen Gegnern konfrontiert ist, handelt es sich bei einer derartigen Analyse um ein elementares Anliegen. Man könnte verkürzt und zugespitzt fragen, wie Allah (den seine Muslime als den „Gnädigen“ und „Barmherzigen“ preisen und der von ihnen in der Regel als Autor des Koran und Inspirator Muhammads angesehen wird) und ergo seine Anhängerschaft zu denen stehen, die nicht an ihn glauben können oder wollen (ohne deswegen notwendigerweise areligiös zu sein). Es handelt sich um eine Darstellung, die hauptsächlich die Originalquellen sprechen lässt und deren Aussagen systematisiert. Es geht dabei aber nicht um eine Zitatsammlung, wie man sie öfter finden und wie sie zweifellos nützlich sein kann, sondern um den Versuch, die Position des Ungläubigen im Zusammenhang mit dem Glaubenssystem dessen, was man den Kernislam nennen kann, herauszuarbeiten. „Kernislam“ meint das Insgesamt von Koran und Prophetentradition, aus denen heraus sich Lehrgebäude, Ordnungs- und Rechtsvorstellungen sowie praktischer Islam der folgenden Jahrhunderte entwickelt haben. Da sich speziell der Koran, der sich selbst als direktes Wort Allahs deklariert, strikt gegen Modifikationen verwahrt – wie könnten Menschen ein göttliches Wort abändern? –, ist „Interpretationen“ eine mehr oder minder bestimmte Grenze gesetzt. Der Leser möge aber beachten, dass der Schwerpunkt der vorliegenden Analyse auf den frühen, jedenfalls vormodernen grundlegenden Schriften ruht, weswegen Fragen späterer Auslegungen dieses allerdings nicht hintergehbaren Unterbaus nur am Rande bzw. in einzelnen Kapiteln Berücksichtigung finden. M.a.W.: Dass es im Rahmen des historischen Gesamtgebäudes des Islam auch abweichende Tendenzen – auch die Moderne hat in den islamischen Kulturraum ihren Eingang gefunden, ohne genuin „islamisch“ zu sein – gibt, kann und soll nicht geleugnet werden; nicht zuletzt diese Strömungen sind es, die ein Element der bitteren Kämpfe innerhalb dieses Weltteils mitbestimmen (und die, so jedenfalls der Eindruck, in den letzten Jahrzehnten im Rahmen einer islamischen Erweckungsbewegung Schritt für Schritt zurückgedrängt werden). Die elementare Bedeutung der kernislamischen Schriften wird im Übrigen dadurch stark unterstrichen, dass die islamische Renaissance unserer Tage zu einem erheblichen Teil durch den Rückgriff auf die Quellen und die idealisierte Frühzeit gekennzeichnet ist: Ein islamisches ad fontes gewissermaßen, freilich nicht ohne eine Reihe von Anpassungen an die Moderne, von denen die an die Waffentechnik nur die in die Augen springendste ist.7 Dies gilt übrigens nicht nur für Organisationen wie al-Qaida oder den Islamischen Staat, die für die spektakulären Schlagzeilen sorgen, sondern für eine breite, nur in vielen Millionen Anhängern zu zählende Strömung innerhalb der islamischen Welt, deren wichtigster organisatorischer Ausdruck die Muslimbruderschaft (al-Ikhwān al-Muslimūn) ist, aus der ein sehr großer Teil der noch extremistischeren Zusammenschlüsse hervorgegangen ist – die...