Das Fundament der Persönlichkeit
Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle: Haben denn die Hirnforscher jetzt in der Psychologie das Ruder übernommen? Früher hatten die Psychologen es doch immer mit der Kindheit?
Die Antwort lautet: Das haben sie immer noch, sogar mehr denn je. Denn in einem sind Hirn- und Bindungsforscher sich völlig einig: Die wichtigsten Dinge geraten in unser inneres Archiv bereits zu einer Zeit, an die niemand von uns sich erinnern kann, weil unser Gedächtnis damals noch nicht genügend ausgereift war, nämlich in den ersten eineinhalb Jahren. Entscheidende Grundsteine unserer Persönlichkeit werden dann gelegt, und was in dieser Zeit zwischen uns und den Menschen geschieht, die uns am nächsten stehen, kann darüber entscheiden, ob wir das Leben mit seinen Aufgaben meistern werden oder daran scheitern, und sogar, wie körperlich robust oder anfällig wir sein werden.
Die Hirnforscher erklären dies damit, dass sich – je nach Umgang der Eltern mit ihrem Kind – bereits in dieser frühen Phase entscheidet, ob bestimmte Hirnregionen wachsen oder verkümmern. Bereits mit neun Monaten erreicht die Entwicklung der erwähnten Verknüpfungen von Nervenzellen im Gehirn ihren Höhepunkt. So aufnahme- und lernfähig wie in dieser ersten Zeit werden wir nie wieder in unserem Leben sein.
Mit dem Trend, Chinesischunterricht bereits im Kindergarten zu erteilen, hat das allerdings absolut nichts zu tun, im Gegenteil. Dafür viel damit, wie geborgen ein Kind sich fühlt, wie zuverlässig es seine Mitmenschen zu einer Zeit erlebt, in der es noch ganz und gar auf sie angewiesen ist, aber auch, wie gut sie ihm dabei helfen, mit den heftigen Gefühlen umzugehen, die es bewegen.
Ein Grund für die große Bedeutung unserer allerersten Lebensjahre ist also, dass dies die für die Hirnentwicklung wichtigste Zeit ist. Ein weiterer Grund ist, dass für diese Entwicklung die Beziehung zu anderen Menschen immens bedeutsam ist. Hier kommen die Bindungsforscher ins Spiel.
Menschen gehören zu den Säugetieren, die zu Beginn ihres Lebens noch eine ganze Zeit lang extrem hilflos sind. Viel mehr noch als ein Fohlen oder Kälbchen, die zur Not versuchen können, ein anderes Muttertier für sich zu interessieren, falls das eigene sie nicht ausreichend versorgt. Deshalb sind Menschenkinder noch stärker darauf angewiesen, dass jemand gut auf sie aufpasst, dass ihnen also eine gute Bindungsbeziehung angeboten wird, in der sie sich sicher fühlen können und nicht durch Vernachlässigung oder Gewalt bedroht sind. Und dass sie in einer solchen Beziehung das bekommen, was sie brauchen, um aus einem unangenehmen Gefühl wieder herauszukommen, aus Hunger, Schmerz, Einsamkeit beispielsweise, oder dem Wunsch nach Anregung.
Bereits bei eineinhalbjährigen Kindern lassen sich deutlich die Folgen solcher guten oder weniger guten Erfahrungen erkennen. In Langzeituntersuchungen haben Forscher darüber hinaus festgestellt, wie sich die unterschiedlichen Bindungserfahrungen dieser ersten Zeit im Erwachsenenalter auswirken.
Man unterscheidet dabei vier Bindungsformen:
Gut die Hälfte der untersuchten Kinder ist sicher gebunden. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Bedürfnisse richtig erkannt werden, dass man liebevoll mit ihnen umgeht und dass ihnen geholfen wird, wenn es ihnen nicht gut geht. In Kindergarten und Schule können sie Probleme mit anderen Kindern besser lösen, und im Erwachsenenalter fällt es ihnen leichter, gute und dauerhafte Partnerschaften und Freundschaften einzugehen. Außerdem verfügen sie später über eine erheblich robustere Gesundheit.
Die zweitgrößte Gruppe ist die der unsicher-vermeidend gebundenen Kinder. Häufig handelt es sich dabei um Kinder, die schon früh »vernünftig« sein mussten. Bindungsforscher sind der Meinung, in den ersten eineinhalb Jahren könne ein Kind noch nicht verwöhnt werden, sondern es brauche im Gegenteil das Erleben von Verlässlichkeit, was auch bedeutet: Wenn das Kind auf sich aufmerksam macht, sollte jemand parat sein, um sich mit ihm zu beschäftigen bzw. es zu trösten. Werden diese Bedürfnisse nicht befriedigt, besteht die Gefahr, dass der Pegel des Stresshormons Cortisol steigt, und zwar dauerhaft, wenn das Kind diese negative Erfahrung immer wieder machen muss.
Also vergessen Sie den Rat, egal ob er von Ihrer Oma oder gelegentlich auch noch von manchen Autoren kommt, man müsse einen Säugling auch mal schreien lassen, damit er das Durchschlafen lerne, sonst schaffe er es nie, sich selbst zu beruhigen. Wenn Sie diesem Rat folgen, wird das Kind tatsächlich irgendwann aufhören zu schreien. Aber nicht, weil es sich beruhigt hat, sondern weil es resigniert und aufgehört hat, darauf zu hoffen, dass auf dieser Welt Hilfe zu bekommen ist. Kinder dieses Alters sind noch gar nicht imstande, ihre Gefühle selbst zu regulieren.
Als Erwachsene werden die unsicher-vermeidend gebundenen Kinder wahrscheinlich Probleme haben, ihre Gefühle konkret zu benennen. Möglicherweise werden sie dennoch nie auffällig und sehen daher auch keinen Grund, eine psychotherapeutische Praxis aufzusuchen. Dafür landen ihre Angehörigen bei uns, weil sie darunter leiden, dass der Betreffende keine Gefühle zeigen kann.
Die nächstgrößere Gruppe ist die der unsicher-zerrissen gebundenen Kinder. (Die Fachleute nennen diese Bindungsform unsicher-ambivalent.) Die Eltern dieser Kinder sind dauerhaft oder über einen längeren Zeitraum unausgeglichen, launisch oder so stark mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass die Reaktionen, die das Kind erfährt, weniger mit seiner als mit der Befindlichkeit der Eltern zu tun haben. Das macht es ihm schwer, etwas über Ursache und Wirkung in der Welt zu lernen. Diese Kinder werden unter Umständen schon früh auffällig, da es ihnen nicht gelingt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie haben auch nicht gelernt, sich zu entspannen, sondern passen wie ein kleiner Seismograf auf, wann der nächste Wetterumschwung bei den Eltern droht. Hier handelt es sich um Menschen, die später beispielsweise erzählen, dass sie schon als Kinder ungern nach der Schule nach Hause kamen, weil sie nie wussten, welche Stimmung sie dort erwartete.
Die letzte Bindungsform betrifft die haltlos gebundenen Kinder. (Fachleute nennen diese Bindungsform desorganisiert.) Hierbei handelt es sich um Elternhäuser, in denen die Kinder nicht einfach nur launische oder auch psychisch gestörte Eltern erleben oder solche mit Suchtproblemen, sondern um Familien, in denen Kinder schon früh Angst vor ihren eigenen Eltern haben müssen, weil sie Erfahrungen von Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung machen. Im Kindergarten fallen diese Kinder unter Umständen schon früh durch erhöhte Aggressivität auf. Mittlerweile weiß man, dass der Cortisolspiegel selbst bei einem Kind, das bereits im Alter von sechs Monaten von liebevollen Eltern adoptiert wurde, in der Zeit davor jedoch haltlos gebunden war, noch Jahre später erhöht ist.
Haltlos gebundene Kinder können sich schlechter konzentrieren und liegen in ihrer geistigen Leistungsfähigkeit gegenüber ihren Altersgenossen oft um Jahre zurück. In internationalen Studien machen diese Kinder etwa 15 Prozent aus.
Die Erwachsenen, die als Kinder keine sichere Bindungserfahrung gemacht haben, berichten sechsmal häufiger von körperlichen Erkrankungen als die sicher Gebundenen, was zeigt, welche Folgen es hat, wenn unser Cortisolspiegel dauerhaft erhöht ist, denn Cortisol drosselt das Immunsystem.
NATÜRLICH können Sie sich an Ihre allerersten Lebensjahre nicht erinnern, denn Ihr Gedächtnis war damals noch nicht weit genug entwickelt, um Ihrem bewussten Teil Zugriff darauf zu gewähren. Vielleicht haben Sie trotzdem die Möglichkeit, an Informationen darüber zu gelangen, wie diese erste Zeit für Sie verlaufen ist. Denn sie war mitentscheidend dafür, was für ein Mensch Sie heute sind, wie Sie denken, fühlen und lieben.
Mehr über Ihre ersten Lebensjahre zu wissen kann Ihnen unter Umständen helfen, manche Gefühle und Reaktionen bei sich selbst zu begreifen, die Ihnen bisher unerklärlich erschienen. Weil sie eben aus einer Zeit stammen, in der Sie noch keine Worte dafür finden konnten.
Den meisten Menschen ist nicht klar, was ihr Unbewusstes vermag, rund um die Uhr, auch in der Nacht und in den Zeiten, in denen wir automatisierte Tätigkeiten verrichten oder scheinbar nichts tun. Ebenso ist ihnen nicht klar, dass das Unbewusste auch sein ganz eigenes Gedächtnis hat, das weiter zurückreicht als das, woran wir uns bewusst erinnern können.
Überrascht es Sie, dass gerade die Zeit, an die wir uns nicht erinnern, für unser ganzes Leben ausschlaggebend sein soll? Warum eigentlich?
In den USA gab es mehrere Vorfälle in Freizeitparks, bei denen Schwertwale ihre Trainerinnen oder Trainer töteten. Tierschützer gehen davon aus, dass eine der Ursachen darin bestand, dass diese Tiere viel zu früh von ihren Muttertieren getrennt worden waren und darum ein sonst unübliches aggressives Verhalten entwickelten. Die meisten Menschen wissen, wie wichtig es ist, dass ein Hundewelpe oder ein kleines Kätzchen ausreichend lange bei der Mutter bleibt, damit später keine Verhaltensstörungen oder Gesundheitsprobleme...