Der Weg zur Disziplin
Im Kloster der Shaolin in China habe ich folgenden Satz gelernt: » Der Fleißige schlägt stets den Talentierten. «
Eine Entsprechung in unserem Kulturkreis finden wir in Äsops wunderbarer Fabel vom Wettlauf zwischen Hase und Schildkröte. Sie kennen die Geschichte? Der talentierte Hase springt im Wettlauf los, er glaubt sich seines Sieges sicher und gönnt sich sodann auf halber Strecke ein Nickerchen. Er verschläft und wacht erst auf, als die untalentierte Schildkröte ihn nicht nur überholt hat, sondern bereits im Ziel ist.
In Japan lautet ein Sprichwort:
才子才に倒れる
saishi sai ni taoreru
Der Talentierte verliert aufgrund seines Talents.
Wenn wir die Augen öffnen, sehen wir den Beweis für dieses Sprichwort täglich in unserem Umfeld. Fleiß lohnt sich immer, vor allem langfristig.
Die Menschen in unserer Gesellschaft sind geschwächt durch den Mangel an Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Durchhaltevermögen und zielgerichteter Selbststeuerung. Es fehlt ihnen an Selbstdisziplin und Ausdauer.
Zugegeben, das Wort »Disziplin« schreckt viele Menschen ab, klingt es doch nach Härte, preußischem Drill, Gehorsam, Zwang und Strafen. Das ist – mit Verlaub gesagt – Humbug! Disziplin ist etwas Erstrebenswertes, Großartiges, vielleicht die wichtigste Tugend im Leben. Disziplin hilft Ihnen, Ihre Ziele zu erreichen, sei es privat oder beruflich, und zwar mit dauerhaftem Erfolg. Die schönste Definition liefert der Duden: »Disziplin ist das Beherrschen des eigenen Willens, der eigenen Gefühle und Neigungen, um etwas zu erreichen.« 1
Wenn ich mein Leben betrachte, stelle ich fest, dass ich in vielen Lebensbereichen äußerst diszipliniert sein kann, während ich in anderen weit hinter meinen Ansprüchen agiere und folglich zurückbleibe.
Es lohnt sich, besonders diese defizitären Bereiche genauer zu betrachten. Warum fällt es mir so schwer, Strafzettel zu überweisen, behördliche Schreiben zu öffnen oder Päckchen zur Post zu bringen? Wohingegen es mir wie ein Kinderspiel vorkommt, jeden Morgen um 5.30 Uhr aufzustehen und konsequent meinen Morgenlauf zurückzulegen, ganz egal wie die Witterung ist. Für die defizitären Bereiche habe ich in der Wiege der Kampfkünste nach »Rezepten« gesucht, nach einer Toolbox, nach Tricks und Werkzeugen, die mir den täglichen Kampf mit mir selbst erleichtern. Wo sonst, wenn nicht bei den Shaolin, würde ich das Geheimnis sagenumwobener Selbstdisziplin erlernen können? Wer bei den Shaolin lernt, so glaubte ich, der würde selbst mit dem stärksten Gegner fertigwerden. Und eines ist klar: Der härteste Gegner ist man selbst.
Was für mich funktioniert hat, das verrate ich auf den folgenden Seiten. Ich erkläre Ihnen, wie Sie Selbstdisziplin erlernen können und dadurch endlich in die Lage versetzt werden, die Dinge zu erledigen, die Sie tun wollen und müssen. Ich zeige Ihnen auch, wie Sie ausdauernd arbeiten und konzentriert bei der Sache bleiben können. Es geht dabei um die Disziplin, die nicht von außen gefordert und kontrolliert wird, sondern um das Disziplinieren des eigenen Denkens und Handelns aus eigenem, freiem Willen heraus.
Sie dürfen sich auf die Schatzkiste in diesem Buch freuen, mit – wie der Name schon sagt – Schätzen, Werkzeugen, Rezepten und Gedächtnisstützen, mit denen jeder etwas anfangen kann, sobald er deren Funktionsweise erkannt und geübt hat.
Die von mir sorgfältig ausgewählten Werkzeuge stammen hauptsächlich aus dem Gedankengut des asiatischen Kulturkreises und ich ergänze sie in diesem Buch durch Erkenntnisse der westlichen Wissenschaften und durch praktische Übungen. So erhalten Sie ein kompaktes Einmaleins an Wissen und Anregungen, um zu mehr Disziplin und Willenskraft zu gelangen.
Nun fragen Sie sich vielleicht, ob Disziplin und Willenskraft nicht dasselbe sind? Willenskraft kann für jeden etwas anderes bedeuten. Der Duden formuliert kryptisch:
»Willenskraft ist die Fähigkeit eines Menschen zur Willensanspannung.«
Ich würde Willenskraft wie folgt beschreiben:
Willenskraft ist die für Disziplin benötigte Energie. Willenskraft wird genährt von Lebenskraft und Vitalkraft. Genau damit werden wir uns noch eingehender auseinandersetzen.
Disziplin ist der Kampf mit mir selbst
Sie benötigen zum Lesen dieses Buches keinerlei Vorkenntnisse in der Kampfkunst. Sie müssen nicht lernen, wie man mit Handkanten Ziegelsteine zerbricht, an der eigenen Kehle stählerne Speerspitzen verbiegt oder dem lästigen Zeitgenossen an der Bar den Hintern versohlen kann. Allerdings werden Sie kämpfen müssen. Mit allem, was Sie haben. Körper und Geist, List und Tücke, Gewalt und Glauben. Sie treten in den Ring, gegen einen Gegner, der mit allen Wassern gewaschen ist, der Ihnen ebenbürtig ist, der all Ihre Schwächen kennt und schonungslos ausnutzt. Ein übermächtiger Gegner. Sie stehen im Ring mit sich selbst! Es geht um jenen Teil in Ihnen, der bald sagen wird: »Das weiß ich doch alles schon – weg mit dem Buch!«
Was Sie vielleicht überraschen wird: Sie müssen in diesem Kampf nicht siegen. Wenn Sie es schaffen, Ihren Gegner zu einem Verbündeten zu machen, waren Sie bereits erfolgreich. Wie das funktioniert? Ganz einfach! Fragen Sie sich selbst, ob Sie wirklich dazu bereit sind, selbst Ihr eigener Sparringspartner zu sein. Ich verspreche Ihnen, wenn Ihre Antwort »Ja« lautet, haben Sie in sich selbst den besten Übungspartner Ihres Lebens gefunden!
Wie gesagt: Sie müssen keine Kampfkunst erlernen – es sei denn, Sie möchten das gerne.
Mich hat das traditionelle Taekwondo zu den Kampfkünsten gebracht und damit auch zur Disziplin. Schon bald stand ich mit mir selbst im Ring. Mein Training hatte sofort Auswirkungen auf alle meine Lebensbereiche. Heute bin ich geneigt zu sagen, dass mir das Training zu Selbstbewusstsein und Selbstachtung verholfen hat.
Ich traute mir immer mehr zu und stellte mich infolgedessen ständig neuen Herausforderungen.
Eine besondere Herausforderung war für mich, mein Studium der Kommunikationswissenschaften in Japan (Tokio) fortzusetzen. Dort habe ich gelernt, dass Disziplin viel mehr ist als das Durchhalten beim Sport oder das Erledigen einer ungeliebten Aufgabe. Ich entdeckte, dass Taekwondo in Japan verpönt ist, da es eine koreanische Kampfkunst ist. Ich entschied, meinen schwarzen Gürtel in Taekwondo an den Nagel zu hängen und mit Karate zu beginnen. Dies schenkte mir Zugang zur japanischen Kultur. Ich fühlte mich im Karate sehr schnell wohl und gewann tiefere Einblicke in die Natur der Kampfkunst, ihre Philosophie und ihren künstlerischen Aspekt.
Ich erlebte, dass Disziplin ein fester Bestandteil der japanischen Kultur und untrennbar mit japanischer Ethik und Moral verbunden ist. Wer das wirklich verstehen will, muss sich intensiv mit diesem Land befassen. In Japan habe ich gelernt, dass Kampfkunst auch ein Ausdruck von Lebensfreude sein kann, in dem es stets um das Miteinander, niemals um das Gegeneinander geht.
Nachdem ich mich tiefer mit diesen zwei Kampfkünsten, Taekwondo und Karate, beschäftigt hatte, erkannte ich, dass beide einen gemeinsamen Ursprung haben: die Shaolin-Kampfkunst. Es erschien mir daher logisch, den Weg zu dieser »Quelle« der Kampfkunst zu gehen und direkt von den Shaolin zu lernen.
So kam es, dass ich im Shaolin-Kloster im Herzen Chinas Shaolin Quan (nördliches Shaolin-Kung-Fu) lernte und trainierte. In Alan Baklayan fand ich meinen Sifu, einen Meister und Lehrer, eine väterliche Leitfigur. Er unterwies mich in einem der ältesten Stile des Shaolin-Kung-Fu: Hung Gar Kuen (südliches Shaolin-Kung-Fu). Er ist bis heute mein Sifu geblieben.
Alan Baklayan ist ein seriöser Meister. Seine Schüler nennen ihn »Meister« oder »Sifu« (im Mandarin wird das »Schryfu« gesprochen, auf Kantonesisch heißt es »Shifu«). Einen solchen Lehrer zu finden, ist unglaublich schwierig. Der seriöse Meister lässt eine tiefgründige persönliche Auseinandersetzung mit der Tradition erkennen, er behandelt die Angelegenheiten seines Lebens und der Schule auf sowohl pragmatische als auch spirituelle Weise. Jeder Schüler, der die Bekanntschaft eines solchen Meisters macht, kann sich glücklich schätzen. Von meinem Sifu lernte ich die wichtigsten Lektionen in Sachen Disziplin. Seither bedeutet Disziplin für mich in erster Linie, sich den Dingen, die das Leben mit sich bringt, zu stellen.
Kung Fu (man spricht es eigentlich Gong Fu aus) ist im traditionellen chinesischen Sprachgebrauch keine Bezeichnung für die Kampfkünste im Speziellen. Der Begriff »Kung Fu« ist durch den Action-Star Bruce Lee in die westliche Welt gekommen und hat sich fälschlicherweise als Oberbegriff für sämtliche, aus China stammenden Kampfkunststile durchgesetzt. Im eigentlichen Sinne bezeichnet Kung Fu jedwede Fertigkeit, die man sich durch harte Anstrengung erarbeitet hat. Dies kann sich auf die Kampfkünste, aber auch auf alle anderen Fähigkeiten beziehen. Für mich ist das wahre Kung Fu der Wille, sich dem Leben zu stellen. Damit verschmelzen für mich die Begriffe »Disziplin« und »Kung Fu« zu einer Einheit.
Im Training wie im täglichen Leben gibt es genau...