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E-Book

Dummheit

Warum wir heute die einfachsten Dinge nicht mehr wissen

AutorBeatrice Wagner, Ernst Pöppel
VerlagRiemann
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641110703
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Warum wir heute die einfachsten Dinge nicht mehr wissen
In Zeiten der rasanten Zunahme von Informationen gewinnt der einzelne Mensch nicht etwa an Wissen, sondern verliert es dramatisch. Intuitives Wissen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, das Wissen um das menschliche Maß, Handlungswissen - was über Generationen überlebenswichtig war, werfen wir zugunsten von 'immer mehr' und 'immer schneller' über Bord.

In sieben Exkursen veranschaulichen Ernst Pöppel und Beatrice Wagner, warum wir in so vielen Bereichen so wenig wissen und plädieren für die Intelligenz der Langsamkeit, der Pausen, des Unperfekten. Anhand von prägnanten Beispielen entlarven sie größenwahnsinnige Projekte, aber auch individuelle Dummheiten. Die Dummheit ist nicht zu vermeiden, sie gehört zu unserem biologischen Erbe, ihre Fallen zu kennen, kann aber helfen.

Prof. Dr. Ernst Pöppel ist einer der führenden Hirnforscher Deutschlands. Er ist Professor für Medizinische Psychologie ist an der Universität München und Gastprofessor an der Peking University. Zudem ist er Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.

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Leseprobe

PISA und Co. – der Ranking-Wahnsinn

Brauchen Schulen und Universitäten die Anerkennung von außen genauso wie Anni und Claudio? Oder läuft hier nicht etwas aus dem Ruder und führt womöglich erst zur Bildungsdummheit, wenn es nur noch um vergleichbare Zahlen und möglichst gute Werte geht? Anerkennung suchen derzeit viele Schulen und Universitäten, und zwar in Form eines hohen Platzes bei einem Ranking. Das bekannteste heißt PISA (Programme for International Student Assessment) und basiert auf den Schulstudien der OECD. Ein Pendant auf universitärer Ebene ist das weltweite Uniranking der TIMES (genauer: TIMES Higher Education – THE). Beide Rankings können zu absurden Situationen führen. Das sehen wir uns nun am Beispiel von PISA und dem jungen Studenten Kim aus Südkorea an.

Reproduktive versus kreative Intelligenz

Südkorea befindet sich regelmäßig in der Spitzengruppe bei der PISA-Auswertung. Im Jahr 2009 erreichte das Land in Mathematik Platz 4, Deutschland Platz 16. In den Naturwissenschaften kam Südkorea auf Platz 6, Deutschland auf Platz 13. In puncto Leseverständnis sah es so aus: Südkorea Platz 2, Deutschland Platz 20. Der südkoreanische Student Kim war nicht nur ein glänzender Schüler gewesen, sondern hatte auch das Studium der Neurowissenschaften mit Bravour zum Abschluss gebracht und kam zu einem Doktorandenstudiengang nach Deutschland. Im Humanwissenschaftlichen Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München erhielt er die Chance, unter Ernst Pöppel zu promovieren. Kim hatte ein unglaublich großes Wissen. Er kannte die Funktionsbereiche des Gehirns, die Arbeitsweise der Neuronen, die Anatomie der kleinsten Hirnwindungen und was sich noch alles an Geheimnissen unter unserer Schädeldecke verbirgt. Aber es war eine rein reproduktive Intelligenz. In der kreativen Phase als Wissenschaftler war er ein absoluter Versager. Er konnte sich keine ungewöhnlichen Zusammenhänge vorstellen, keine neuen Studien designen, keine eigenen Ideen entwickeln. Ein junger Wissenschaftler, randvoll mit Wissen – und trotzdem dumm?

»Das ist die PISA-Dummheit«, kritisiert Ernst Pöppel. »Es ist Dummheit, wenn wir nur solche Schüler produzieren, die in Mathe, Naturwissenschaften und im Lesen gut sind, in den Disziplinen eben, die mit PISA getestet werden.« Dahinter steht ein völlig missverstandenes Bild vom Menschen. Denn der Mensch braucht auch soziale Intelligenz, emotionale Intelligenz, er wendet sich den Künsten, den Geisteswissenschaften oder dem Sport zu. In der bayerischen Verfassung § 131 ist sogar festgelegt, dass junge Menschen in allen Anlagen gefördert werden sollen. In Absatz 1 steht explizit, dass es in den Schulen auch um Herzensbildung gehen soll. »Wenn wir das Bildungssystem nur danach ausrichten, uns im PISA-Ranking zu verbessern, lassen wir die vielen anderen Qualitäten eines Menschen verkommen. Und damit machen wir die Gesellschaft kaputt«, so Pöppel. Denn es kommt für eine stabile Gesellschaft nicht darauf an, dass wir alle gut in Mathe, Physik, Chemie und Lesen sind. Es braucht auch Menschen, die kreativ sind und neue Ideen haben. Es braucht Menschen, die den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern. Es braucht Menschen, die inspirieren, unterhalten, integrieren. Diese Fähigkeiten aber kommen durch die PISA-Dummheit zu kurz. Unsere Gesellschaft wird zu einem System von möglichst funktionalen Menschen ummodelliert, die sich am besten unauffällig in den Mainstream einordnen. Das ist nicht von Vorteil.

Kim aus Südkorea ist ein gutes Beispiel dafür, dass die rein reproduktive Intelligenz nichts Neues schafft. Und ein Blick auf die Hochschulen zeigt: Die reine Ansammlung von Wissen, das angepasste Denken und der Mainstream werden auch bei uns mittlerweile gewollt und gefördert. Ein Hinweis dafür ist die Wissensabfrage mithilfe der Multiple-Choice-Fragen, die immer mehr eingesetzt werden. Je mehr Fakten ein Student weiß und je vertrauter er mit dem Instrument der Multiple-Choice-Fragen ist, desto besser wird er voraussichtlich seine Prüfungen bestehen. Und was kann er dann? Er hat, wie ein Lexikon, jede Menge Fakten parat. Aber kann er sie deswegen auch sinnvoll zusammenfügen? Befähigt eine große Anzahl von Fakten, dass man sich der Welt vertraut fühlt? Oder brauchen wir nicht vielmehr auch eine Landkarte des Wissens, um die Einzelfakten einordnen zu können?

Ein Wissen, das über das spezielle Fachwissen hinausgeht, also ein Orientierungswissen. Was aber ist damit gemeint? Nach dem Bildungskonzept von Ernst Pöppel sollte jeder Mensch in einem Gebiet so sehr Spezialist sein und ein in die Tiefe gehendes Wissen besitzen, dass niemand ihm in diesem Bereich ein X für ein U vormachen kann. Darüber hinaus sollte er sich aber auch auf breiter Ebene orientieren können, also auch einen gewissen Einblick in Wissensbereiche fernab des eigenen Fachgebiets haben. Wer also beispielsweise geisteswissenschaftlich veranlagt ist und hier ein tiefes Spezialwissen besitzt, sollte sich auch mit einem grundlegenden naturwissenschaftlichen, mathematischen oder statistischen Wissen schmücken. Letzteres ist das Orientierungswissen.

Ein solches Orientierungswissen aber wird kaum mehr in Universitäten vermittelt, was auch an der Faulheit und Dummheit derer liegt, die es besser wissen könnten. Und so kommt es, dass etwa ein Urologe seinem Patienten erklärt: »Ich habe beim Ultraschall der Prostata auch auf Ihre Leber geschaut, aber ich will mir kein internistisches Urteil anmaßen.« Der Mensch als Puzzle aus verschiedenen Organen, für die verschiedene Experten zuständig sind, welche nicht über »ihr« Organ hinausschauen. Ist das wirklich mit der von uns täglich erlebten Realität vom Menschen als Ganzes vereinbar?

Professor Pöppel sagt: Wer viel weiß, ist nicht automatisch intelligent

Vor 40 Jahren hatte Ernst Pöppel am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) die unglaubliche Gelegenheit, im Hause seines Mentors Hans Lukas Teuber Privatunterricht von dem berühmten russischen Neuropsychologen Alexander Romanovich Lurija (1902–1977) zu erhalten. Pöppel schätzt Lurija bis heute sehr und würde sich sogar als seinen wissenschaftlichen Enkel bezeichnen, so sehr hat er Pöppels Arbeit als Neurowissenschaftler geprägt: »Ich sehe es als eine meiner Lebensaufgaben an, eine Kategorisierung von psychischen Funktionen zu erstellen. Zu dieser Idee inspirierte mich Alexander Lurija, der erstmals wissenschaftlich darüber nachdachte, ob es nicht möglich sei, psychische Funktionen auf ähnliche Weise zu kategorisieren, wie es den Chemikern mit ihrer Tabelle von Elementen gelungen ist. Psychische Funktionen könnten doch auch auf logische Weise dargestellt und zueinander in Beziehung gebracht werden? Lurija ist diese Darstellung nie gelungen und mir bislang auch nicht. Doch ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ein solches System möglich ist.«

Der russische Neuropsychologe Alexander Romanovic Lurija auf einem Foto der LomonosovUniversität in Moskau.

(Alexander Luria, Lomonosov Universtität, Moskau)

Als Psychologieprofessor beschäftigte sich Lurija in den 1930er-Jahren mit der Zwillingsforschung sowie mit Untersuchungen über das Denken und Sprechen. Parallel dazu studierte er Medizin. Im Zweiten Weltkrieg behandelte er als Sanitätsoffizier hirnverletzte Soldaten an einer Neurochirurgischen Klinik im Ural. Hier konnte er täglich beobachten, welche Schädigungen am Gehirn welche Funktionsausfälle und Denkstörungen hervorrufen. Lurija versorgte nicht nur die Patienten medizinisch, sondern schuf zudem aus seinen Beobachtungen einen neuen Wissenschaftszweig, der heute international etabliert ist: die Neuropsychologie. Diese beschäftigt sich mit psychischen Störungen, die durch Schädigungen und –Anomalien des Hirns verursacht werden. Damit verfolgt sie einen ganz anderen Ansatz als die Tiefenpsychologie, die psychische Störungen unter anderem auf frühkindliche Traumata zurückführt.

Heute weiß man, dass Traumata ebenfalls Auswirkungen auf die Funktionsweise von Neuronen im Gehirn haben. Somit lässt sich sowohl der tiefenpsychologische Ansatz von Freud als auch der neurobiologische Ansatz von Lurija begründen. Laut Pöppel werden in der Neuropsychologie diese beiden Ansätze gekonnt zusammengebracht.

Lurija legte schließlich die Grundlage für die Rehabilitation von Funktionen bei hirngeschädigten Patienten, wie sie heute in dem weltbesten Rehabilitationszentrum von Hirntraumata in Moskau von Victor Markowich Shklovski betrieben wird. Und auch in Deutschland ist Lurija präsent: In den Kliniken Schmieder am Bodensee, wo schwerste Gehirnschädigungen ebenfalls erfolgreich therapiert werden, wurde zusammen mit der Universität Konstanz das Lurija Institut gegründet, in dem die wissenschaftlichen Grundlagen für die Restitution von Funktionen nach Hirnschäden genauer untersucht werden.

Zum Weiterlesen

Lurija, Alexander R.: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992, Originalausgabe 1968.

Allgemein bekannt wurde Lurija durch zwei herausragende psychologische Einzelfallstudien. In der einen Studie untersuchte er einen Patienten mit einem ungewöhnlich ausgeprägten Gedächtnis, die zweite handelt von einem Mann mit einer traumatischen Hirnverletzung. Beide Fälle zusammen sind in dem Buch »Der Mann, dessen Welt in Scherben ging« veröffentlicht worden. Und wer jetzt an den Neurowissenschaftler Oliver Sacks denkt, dessen bekanntestes Buch den...

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