Inhaltsverzeichnis1. Wissende Ignoranz – wie man das Offensichtliche übersieht
Die Behauptung, das Private sei politisch, war einmal eine rebellische Parole, wurde dann zur Binsenweisheit, bis der Satz schließlich als leere Hülle auf den Grund des Banalitätenstroms sank. Doch plötzlich wird sie wieder aktuell und erfährt einen neuen Sinn. Die Menschen, wir, zerstören die Natur und setzen eine potenziell katastrophale Entwicklung in Gang, durch unser bloßes Alltagsverhalten, durch die Art, wie wir produzieren und konsumieren, durch den Verbrauch metallischer und organischer Ressourcen, durch den fossilen Stoffdurchsatz, den wir brauchen, um leidlich glücklich und stabil zu sein. Erst diese Umstände bringen den aus der zweiten Frauenbewegung der 70er-Jahre stammenden Satz zurück. Für die Klimakrise gilt: Das Politische ist geradezu intim.
Weil der Alltag ganz und gar davon durchzogen ist, Material und Energie zu verbrauchen, wird der einzelne Mensch heute unfreiwillig politisiert. Sein Leben ist durchsetzt mit Tausenden Wertentscheidungen, man könnte auch sagen: davon verdorben. Wie um alles in der Welt halten die Menschen in den reichsten Ländern, wo der persönliche CO2-Fußabdruck im Schnitt am größten ist, das aus? Wie steuern sie ihr Leben so, dass sie es trotzdem als einigermaßen gut und richtig empfinden? Was machen die Leute, was machen wir damit, dass der Spaß oft mit potenziell drastischen Nebenfolgen verbunden ist? Was machen wir mit den Dilemmata, die sich aus dem Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen ergeben: Plastik- oder Papiertüte? Das eine ist besser für die Abfallbilanz, das andere für die Energiebilanz. PET-Flasche oder Glasflasche? Da gilt dasselbe. Und darf man als Veganer dann wenigstens mal nach Mallorca fliegen? Woher kommt das Fleisch, das ich vor mir auf dem Teller habe, wie viel Wasser wurde dafür verbraucht? Und wie viel für meine Avocado? Und überhaupt, was bringt es, wenn der Einzelne sich durchökologisiert, wenn die Politik die Dinge schleifen lässt? Der Ökologische ist dann der Dumme. Um dies schon einmal vorwegzunehmen: Die Einzelnen sind damit völlig überfordert. Jeder Versuch, ressourcenverantwortlich und klimapolitisch glimpflich durch den Tag zu kommen, ist unter den gegebenen Bedingungen buchstäblich heillos. Ohne eine durchgreifende, übergeordnete Klimapolitik ist der Einzelne zu etwas verurteilt, was er nicht bewältigen kann: zu privatem Heroismus.
Außerdem geht es um weit mehr als nur um Mobilität und Konsum, es geht um das Lebensgefühl. Denn was macht es wohl mit den Menschen auf Dauer, wenn das schöne Wetter mutmaßlich zugleich das schlimme Wetter ist? Das Reden über das Wetter stand einst emblematisch für die harmloseste denkbare Unterhaltung, heute muss man sagen: dann lieber über Politik oder über Religion reden.
Dass man insbesondere in den reichen Ländern auf dem besten Weg ist, die Erde in eine tiefe ökologische Krise zu führen, ist einer breiteren Öffentlichkeit seit mindestens drei Jahrzehnten bekannt. Seither ist vieles geschehen, auch viel Gutes, das Umweltbewusstsein hat enorm zugenommen, grüne Tonne, grüne Lunge, grüne Partei, grüne Energie – nur eben der Natur geht es unter dem Strich immer schlechter.
Im Nachhinein lässt sich der Wandel des ökologischen Problems leicht erkennen. In den 60er- und 70er-Jahren waren die Umweltprobleme vor allem lokal und akut: saurer Regen in Industrieregionen, Chemieunfälle in Fabriken, Seuchen durch falsche Tierhaltung. In den 80er- und 90er-Jahren trat dann ein ökologisches Phänomen von ganz anderer Art in den Vordergrund, der damals sogenannte Treibhauseffekt. Die mögliche und immer wahrscheinlichere Erwärmung der Erdatmosphäre fand nicht lokal statt, sondern global, doch zum Ausgleich war sie wenigstens nicht akut. Man glaubte, noch etwa drei Jahrzehnte Zeit zu haben, bis ernsthaftere Rückwirkungen der fossilen Lebensweise auf den Menschen eintreten würden.
Von Jahr zu Jahr wusste man genauer, wie ernst es war. Wie Nathaniel Rich in seinem erschütternden Buch »Losing Earth« nachweist, war sich die US-Regierung schon seit 1979 der Gefahr bewusst. US-Präsident Jimmy Carter ließ eine Solar-Anlage auf das Dach des Weißen Hauses bauen. Zu ernsthafteren Maßnahmen kam es gleichwohl nicht. Eines der ersten populären Bücher zum Klimawandel erschien 1989, der Autor hieß Bill McKibben, sein Buch wurde zum Bestseller. Das Kyoto-Protokoll, das erste halbwegs verbindliche zwischenstaatliche Klimaabkommen, wurde 1997 unterschrieben. Ein Oscar und ein Friedensnobelpreis für Al Gore im Jahr 2007 machten den Klimawandel endgültig zu einem gesellschaftlich anerkannten Problem, und Leonardo DiCaprio wurde schließlich zum nahezu hauptberuflichen Klimaaktivisten. Doch, und das ist die kalte Wahrheit: In diesen letzten 30 bis 40 Jahren der ständig wachsenden Bewusstwerdung haben die Menschen mehr Emissionen verursacht als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor, als sie noch nicht wussten, was sie taten. Das wirft nicht zuletzt einen beunruhigenden Zweifel am Wert der Aufklärung auf. Irgendetwas scheint zwischen Wissen und Handeln im Weg zu stehen, etwas, das stärker ist als jede Einsicht. Und man darf angesichts der Größe des Klimaproblems, seines Tragödienformats annehmen, dass in dieser Kluft mehr wohnt als nur die ganz gewöhnliche menschliche Nachlässigkeit, sondern das seelische Betriebsgeheimnis dieser Gesellschaft, so etwas wie unsere Zentralneurose. Es ist eines der größten Rätsel unserer Tage.
Nun jedenfalls sind die drei Jahrzehnte um, die man in den 80er-Jahren zu haben glaubte. Die Klimakrise ist in der Gegenwart angekommen. In den USA gab es in den vergangenen Jahren gleich mehrere Jahrtausendstürme, ja, sogar einen sogenannten »Jahrmillionen-Regenguss« in Texas. Das polare Eis verliert seinen Ewigkeitsstatus und geht noch deutlich schneller dahin, als es von den meisten Klimaforschern erwartet worden war. Unübersehbar verschärft die Klimakrise auch alle anderen ökologischen Probleme wie das Artensterben und die Verbreitung von Seuchen. Sie schafft unfruchtbare, unbewohnbare Regionen und maritime Todeszonen, wo vorher lebensvolle Korallenriffe waren, die Klimakrise beeinflusst kurzum alles Leben auf dem Planeten. Weil die Menschen in etwa so weitermachen wie bisher, weil sich nichts geändert hat, ändert sich nun alles.
Infolgedessen ist die ökologische Krise heute nicht mehr nur lokal und akut oder global und zukünftig, sie ist vielmehr alles zugleich: lokal, global und akut. Fast unser gesamtes Tun, beinahe jede und jeder tragen zum Klimawandel bei, und so gut wie alle sind von den Folgen betroffen. Zurzeit bewegt sich die Menschheit mit ihrem fossil befeuerten Leben keineswegs auf die berühmten 1,5 oder zwei Grad Erwärmung zu, die als gerade noch verträglich erachtet werden. Nein, wenn es in etwa so weitergeht wie bisher, dann landen wir im Jahr 2300 bei sechs Grad. Das würde dann nicht bloß eine unwirtlichere, bedrohlichere oder irgendwie schwierigere Welt. Sechs Grad, das bedeutete eine sich exponentiell entwickelnde, heute schon beginnende Katastrophe. Wie gehen wir mit diesen Aussichten um, gehen wir überhaupt mit ihnen um?
Jeder Mensch versteht und empfindet das Leben ein bisschen anders. Und doch ist nicht alles nur subjektive Wahrnehmung. Es gibt auch Tatsachen, und manchmal nehmen diese Tatsachen eine solche Größe und Wirkmächtigkeit an, dass sie die Geschichte der Völker und das Leben einzelner Menschen zutiefst prägen.
Es war schon lange klar, dass das Wachstum der Bevölkerung, vor allem aber das Wachstum der materiellen Bedürfnisse und das auf ständige Ausdehnung zielende Wirtschaftssystem von der Erde selbst begrenzt werden würden. Unklar war nur, wann dieser Effekt mit voller Wucht eintreten würde und ob sich das materielle Wachstum eher an den begrenzten Ressourcen oder an der begrenzten Aufnahmefähigkeit der Natur für die Ausscheidungen der ungeheuren Steigerungsmaschinerie stoßen würde. Nun aber herrscht Klarheit: Der Zeitpunkt der Grenzüberschreitung ist jetzt. Genau zu unseren Lebzeiten stößt die Menschheit an dieses Limit – und es sind eher zu viel Emissionen, als dass die Quellen des Reichtums versiegten. Auch nicht sicher war, welches der drei großen Gemeinschaftsgüter – Erde, Wasser oder Luft – zuerst seine Aufnahmefähigkeit erschöpfen würde. Und auch wenn die Gewässer heute durch Gifte und Dünger ähnlich stark belastet sind wie die Böden durch Insektizide und Pestizide, so ist doch offenkundig und wissenschaftlich bewiesen, dass es die Luft ist, deren Duldungsfähigkeit endgültig überstrapaziert wird. Die Atmosphäre vermag nicht noch mehr zusätzliche menschengemachte Gase aufzunehmen, ohne sich selbst so stark und so schnell zu verändern, dass sie zum geschichtsmächtigen Faktor für den Menschen wird und ihm das Leben im besten Fall, nun ja, massiv erschwert.
Was nun kommt, sind nur Zahlen, aber es sind die Schicksalszahlen unserer Zeit, sie stehen am Anfang aller Debatten über das Klima, auch wenn damit ihr Ausgang keineswegs vorherbestimmt ist.
Der Kohlendioxid-Anteil in der Atmosphäre ist von Beginn der Industrialisierung bis Ende 2018 von 280 auf über 409 parts per million gestiegen. Aufgrund von Analysen geologischer Ablagerungen schätzen Wissenschaftler, dass es eine solch hohe CO2-Konzentration wie heute zuletzt vor drei bis fünf Millionen Jahren gegeben hat. Damals war es vermutlich zwei bis drei Grad wärmer. Das Eis in...