Warum ein Tinderdate mir bis heute schlaflose nächte bereitet
.Ariana.
Ich möchte die folgende Geschichte so beginnen: Wie viele Menschen kennt ihr, die offen damit umgehen, dass sie ihre Popel essen? Oder beim Baden ins Wasser pinkeln? Oder ihre Unterhosen länger als einen Tag tragen? Eben. Und ähnlich verhält es sich bei mir mit Onlinedating. Man macht es, spricht aber nicht so gerne darüber.
Warum niemand von seinen Frühstückspopeln, seinem Pipi-Bad oder seinen Langzeitunterhosen erzählt, liegt auf der Hand. Aber was ist eigentlich das konkrete Problem mit Datingseiten? Wahrscheinlich, weil es irgendwie den Anschein erweckt, man möchte dringend etwas an seiner Situation, also der Singlesituation, ändern, so dringend, dass man sich dafür sogar stundenlang durch Dating-Apps wischt, als würde man im Sommerkatalog einer Bekleidungsmarke blättern, auf der Suche nach einem ansehnlichen Paar Flip-Flops. Das hat nichts mehr von unnahbar und abenteuerlustig durch die nächtlichen Bars ziehen und sich verstohlene Blicke zuwerfen. Das ist mehr wie sonntags auf der Couch liegen und sich eine von zehn Pizzen von der Internetseite aussuchen. Problem an der Sache: Die Pizza sieht in echt niemals so gut aus wie auf den Fotos. Aber das ist nur eine der Schattenseiten.
Ich kam für einige Zeit ganz gut damit durch zu behaupten, ich sei aus »Recherchegründen« bei Tinder. Das sagte ich immer superlässig und cool, also so wie ich mir vorstellte, dass es superlässig und cool wirken würde, mit einem Blick wie James Dean, nur als Frau eben. Bis ich mal gefragt wurde, wofür ich denn recherchiere. Da brach mein Lügenkonstrukt so jäh in sich zusammen wie Walter Whites Meth-Geheimnis in Breaking Bad. Da ich von da an mit der bitteren Wahrheit herausrücke, kann ich eine meiner denkwürdigsten Tinder-Ereignisse auch hier erzählen. Jetzt ist eh egal.
Ich war also zu »Recherchezwecken« bei Tinder angemeldet und hatte dort eine Zeit lang mit einem ganz witzigen Typen Kontakt. Was man halt so macht: Man schickt sich über Wochen, manchmal Monate hinweg, lustige GIFs, pointierte Memes und versucht, all seine Macken gekonnt zu überspielen.
Dann ist das Absurdeste, Merkwürdigste und Verrückteste passiert, das hätte eintreten können: Er hat gefragt, ob wir uns treffen. Treffen, im echten Leben! Irre.
Dafür hat er eine Party in einem Club vorgeschlagen, auf die er mit einem Freund gehen wollte. Wieso nicht, dachte ich, macht das Ganze bestimmt weniger gezwungen, als sich alleine zu treffen und zwei Stunden in einer langweiligen Bar abzuhängen, obwohl man schon nach zwei Minuten gemerkt hat, dass man nichts miteinander anfangen kann.
Ich war mit Freunden unterwegs und verabschiedete mich irgendwann, um zu dem Club zu fahren. Dazu sei gesagt, dass es Winter war, und mein Handy litt an einem technischen Defekt: Wenn es sehr kalt draußen war, sank die Akkuladung mit dreifacher Geschwindigkeit. So schnell ungefähr, wie die Karriere von David Hasselhoff, nachdem das Video öffentlich wurde, in dem er betrunken am Boden liegend einen Burger in sich reinstopft.
So kam es, dass ich weniger als zehn Prozent Akku hatte, als ich an der Bahnhaltestelle ausstieg. Zehn Prozent. Es reichte vielleicht für noch einmal den Bildschirm entsperren. Dann würde mein Handy den Dienst verweigern. Während ich noch darüber nachdachte, wie ich den Typen gleich im dunklen Club finden sollte mit einem fast nicht mehr funktionsfähigen Handy und fehlender Erinnerung daran, wie er eigentlich genau aussah, hatte ich ein ganz anderes Problem: Ich konnte den Club an sich schon nicht finden. Das hatte ich nun von meinem coolen Berlin mit seinen coolen Clubs in irgendwelchen alten Fabrikhallen, die nach außen unscheinbare Teppichlager waren und sich erst als Technohölle offenbarten, wenn man genau wusste, wo der Eingang war.
Da ich auf keinen Fall wertvolle Akkuladung riskieren konnte, rief ich ihn nicht an, was die Sache sicherlich erheblich erleichtert hätte, sondern versuchte stattdessen, den Club auf eigene Faust zu finden. Ebenso gut hätte ich mir ein Augenbrauenhaar ausreißen, mich dreimal im Kreis drehen, es in die Luft werfen und dann rufen können: »Wer es findet, bekommt von mir eine Million Euro.« Es war absolut unmöglich, dort in der Dunkelheit entlang einer gefühlt kilometerlangen Backsteinmauer einen Eingang zu einem Club zu finden. Jetzt wusste ich, wie der arme Harry Potter sich gefühlt haben musste, als er am Bahnhof Kings Cross Gleis neundreiviertel gesucht hatte.
Ich war sehr erleichtert, als mich ein Mädchen im Glitzerrock und mit schwarzem Ledertop ansprach, ob ich etwa auch »die Party« suchen würde, sodass wir gemeinsam loszogen. Mich wunderte, dass sie etwas von »Fetisch« gesagt hatte, aber da sie Englisch mit sehr französischem Akzent sprach, war ich recht sicher, ich hatte mich verhört. In Wirklichkeit hatte sie sicherlich irgendwas von Baguettes und Fröschen gesagt. So sind sie, die Franzosen!
Ich freute mich wie ein Wanderer, der seine letzte Pilgerherberge auf dem Jakobsweg erreichte, als wir endlich die Clubtür fanden, ein großes Tor. Sobald das Tor sich geöffnet hatte, verlor ich die französische Latexfrau – was ich dafür im Austausch bekam, ließ mich erst mal erstarren. Im Eingangsbereich dieses Clubs, einer riesigen Industriehalle, sah es aus wie auf einer Sexparty. Nein – es WAR eine Sexparty! Überwiegend lesbische und schwule Frauen und Männer in Stoffen unterschiedlichster Couleur tummelten sich hier. Leder, Latex, und hier und da ein nackter Penis.
Ich wusste gar nicht, was mich gerade mehr verstörte, der Anblick dieser halb nackten Menschenmenge oder die Tatsache, dass mein Handy sich in genau dem Moment, als ich mein Date dann doch anrufen wollte, bis zur nächsten Akkuladung verabschiedete. Es war aus. Tot. Nicht wiederbelebbar.
Ich verbrachte ungefähr eine Viertelstunde damit, möglichst unauffällig zu wirken, nicht zu sehr zu starren, aber trotzdem Ausschau nach dem Tinder-Typen zu halten. Keine Chance. Ich versuchte, mein Handy anzumachen. Keine Chance.
Da ich es absolut nicht einsah, mitten in der Nacht durch halb Berlin gefahren zu sein und mit einer ledernen Französin eine Ewigkeit den Club gesucht zu haben, nur um unverrichteter Dinge nach Hause zu gehen, hielt ich einen Krisenrat mit mir selbst ab. Was würde Beyoncé jetzt tun?
Versuch 1: Ich fragte an der Garderobe jeden einzelnen Mitarbeiter, ob er oder sie ein passendes Ladekabel für mich hätte. Es waren wirklich viele Mitarbeiter, denn der Club und die Party waren riesig, aber entweder hatte niemand eins oder sie logen mich an und wollten mir keins geben. Was auf das Gleiche hinauslief: Ich stand ohne Ladekabel da.
Versuch 2: Ich fragte einige der Gäste. Nach fünf Personen, die mir natürlich nicht helfen konnten, gab ich auf, aber die Frage war sowieso dumm von mir. Wo sollten sie das Ladekabel haben, in ihrer Poritze? Es war wirklich so gut wie niemand bekleidet. Außer mir. Ich habe mich selten komplett bekleidet so fehl am Platz gefühlt.
Da mir langsam die Ideen ausgingen – nach gerade mal zwei Ideen, wow to myself –, versuchte ich aus lauter Verzweiflung noch mal, mein Handy wieder anzuschalten. Ich weiß nicht, ob es der heilige Geist von Steve Jobs war, der noch mal kurz über die Erde huschte, aber das verdammte Ding ging tatsächlich an! 1 % Akku. Mir bleib nicht viel Zeit.
Wieder klapperte ich alle Garderobenmitarbeiter der Reihe nach ab, dieses Mal rannte ich aber, und fragte panisch nach einem Stift.
»Nein.«
»Nein.«
»Leider nein.«
Sollte das ein Scherz sein? Ja, okay, Technik ist wirklich faszinierend und bietet ja so viele Möglichkeiten – aber es musste doch irgendwer einen völlig normalen Kugelschreiber haben!
Es hatte niemand einen völlig normalen Kugelschreiber. Wirklich keiner.
Alles, was mir übrig blieb, war, die Handynummer vom Tinder-Typen auswendig zu lernen. Unter Zeitdruck. Ich kam mir vor wie bei einer schlechten Gameshow im Fernsehen, bei der ich mit begrenzter Zeit eine Aufgabe lösen musste, andernfalls würde sich unter mir eine Falltür öffnen und ich in ein Gehege voll mit Krokodilen fallen.
Ich murmelte die Zahlen immer wieder manisch vor mich hin, versuchte, mir Eselsbrücken zu bauen – dann wurde das Handydisplay wieder schwarz. Time over. Jetzt würde sich entscheiden, ob die Krokodile noch einen Late Night Snack bekamen oder nicht.
Zeit für Idee 3.
Im Kopf immer wieder die Handynummer durchgehend fragte ich den Typen, der am nettesten aussah, am meisten anhatte und in meiner Nähe stand, ob ich kurz von seinem Handy aus jemanden anrufen dürfte, ganz kurz, wirklich nur ganz ganz kurz, ist auch kein Ferngespräch. War es aber irgendwie doch. Der nette Typ kam nämlich aus China und hatte eine chinesische SIM-Karte in seinem Telefon. Der Anruf hätte ihn wahrscheinlich mehr gekostet als mein komplettes Handy beim Neukauf.
Next.
Diesmal fragte ich eine Frau in meinem Alter. Sie war nackt, sah aber nett aus. Das Aber möchte ich streichen. Sie war nackt und sah nett aus. Dafür kommt das Aber jetzt: Sie war nur zu Besuch in Deutschland und hatte ein Handy mit Prepaidkarte, die nicht aufgeladen war, sodass sie nur Anrufe annehmen, aber keine tätigen konnte.
Das durfte doch alles nicht wahr sein. Als ich dem Aufgeben schon nahe war und die imaginären Krokodile unter der Falltür die Köpfe langsam nach oben richteten, tippte mich plötzlich ein Typ von hinten an – und ja, ich bin mir bewusst, wie...