Prolog
Das Böse im Fadenkreuz
Ende März 2003. In der Gegend von Nasiriyya, Irak
Ich blinzelte durch das Zielfernrohr des Scharfschützengewehrs und ließ meinen Blick über die Straße der irakischen Kleinstadt schweifen. In 45 Metern Entfernung erschien eine Frau in der Tür eines kleinen Hauses und trat mit ihrem Kind hinaus.
Ansonsten war die Straße menschenleer. Die Einwohner hatten sich verängstigt in ihren Häusern verbarrikadiert. Nur einige Neugierige lugten hinter Vorhängen hervor. Sie konnten das Donnern der herannahenden amerikanischen Einheit hören und warteten vorsichtig ab. Kurze Zeit später erschien eine Schar Marines auf der Straße; sie waren auf dem Weg nach Norden, um das Land von Saddam Hussein zu befreien.
Ich hatte die Aufgabe, sie zu beschützen. Bereits mehrere Stunden zuvor hatte mein Zug das Gebäude eingenommen und Stellung bezogen – um den Feind von einem Angriff gegen die Marines abzuhalten, deren Einmarsch wir erwarteten.
Diese Aufgabe schien nicht besonders schwierig – vor allem, weil die Marines ganz gut auf sich selbst aufpassen konnten. Ich kannte die Durchschlagskraft ihrer Waffen und hätte mich höchst ungern mit ihnen anlegen wollen. Die irakische Armee war chancenlos und schien die Gegend tatsächlich schon verlassen zu haben.
Der Krieg hatte vor etwa zwei Wochen begonnen. Mein Zug, »Charlie« (später »Cadillac«) vom SEAL-Team 3, leistete am frühen Morgen des 20. März seinen Beitrag dazu. Wir landeten auf der Halbinsel Faw und sicherten die dort gelegene Ölanlage, damit Saddam sie nicht wie im Ersten Golfkrieg in Brand setzen konnte. Nun hatten wir den Auftrag, den Marines zur Seite zu stehen, als diese in Richtung Bagdad marschierten. Ich war ein SEAL, ausgebildet für Spezialeinsätze der US Navy. SEAL steht für »SEa, Air, Land«, und das beschreibt ganz gut unsere vielfältigen Einsatzgebiete. In diesem Fall waren wir weit ins Landesinnere vorgedrungen, viel weiter als sonst. Doch dies sollte immer mehr zur Routine werden, je länger der Krieg dauerte. Ich hatte fast drei Jahre damit zugebracht, mich zum Krieger ausbilden zu lassen, und ich war bereit für diesen Einsatz – so bereit man eben für einen Krieg sein kann.
Mein Scharfschützengewehr war eine Repetierwaffe mit hoher Präzision, die meinem Zugführer gehörte und Patronen vom Kaliber .300 Winchester Magnum verschoss. Er hatte die Straße eine Zeit lang beobachtet und brauchte eine Pause. Ich empfand es als großen Vertrauensbeweis, dass er mich zu seinem Vertreter ernannt und mir das Gewehr überlassen hatte. Immerhin war ich der Neue im Team, ein Anfänger. Nach SEAL-Maßstäben hatte ich meine Feuerprobe noch nicht bestanden.
Zudem stand meine Ausbildung zum SEAL-Sniper noch aus. Ich wollte unbedingt ein Scharfschütze werden, hatte bis dahin aber noch einen weiten Weg vor mir. Indem er mir an jenem Morgen sein Gewehr überließ, wollte der Chief herausfinden, aus welchem Holz ich geschnitzt war. Wir befanden uns auf dem Dach eines alten, heruntergekommenen Gebäudes am Rande einer Stadt, welche die Marines durchqueren mussten. Der Wind wirbelte Staub und Papier über die mit Schlaglöchern übersäte Straße, die sich unter uns erstreckte. Der Ort stank nach Fäkalien – ein ekelhafter Geruch, an den ich mich niemals gewöhnen sollte.
»Marines im Anmarsch«, sagte mein Chief, als das Gebäude zu beben begann. »Augen offen halten.«
Ich sah durch das Zielfernrohr. Die einzigen Menschen, die sich im Freien bewegten, waren die Frau und vielleicht ein oder zwei Kinder in der Nähe. Ich sah zu, wie unsere Truppen eintrafen. Zehn junge, stolze Marines stiegen in voller Montur aus ihren Fahrzeugen und versammelten sich für eine Fußpatrouille. Während sie sich formierten, zog die Frau etwas unter ihrer Kleidung hervor und zerrte ruckartig daran.
Sie hatte eine Handgranate gezündet. Ich erkannte das zuerst nicht.
»Das Ding ist gelb«, gab ich meine Beobachtung an den Chief weiter, während er sich selbst ein Bild machte. »Es ist gelb, der Kopf …«
»Sie hat eine Handgranate«, sagte der Chief. »Das ist ’ne chinesische Granate.«
»Mist!«
»Du musst schießen!«
»Aber …«
»Nun schieß endlich! Die Granate darf keinen Schaden anrichten. Die Marines …«
Ich zögerte. Jemand versuchte die Marines über Funk zu erreichen, aber ohne Erfolg. Sie schritten die Straße entlang, geradewegs auf die Frau zu. »Schieß!«, sagte der Chief.
Mein Zeigefinger umschloss den Abzug. Die Patrone verließ den Lauf. Ich feuerte. Die Granate fiel zu Boden. Ich schoss erneut und die Granate ging hoch.
Es war das erste Mal, dass ich jemanden mit einem Scharfschützengewehr tötete. Und das erste – und einzige – Mal, dass ich im Irak einen Angreifer unschädlich machte, der kein männlicher Kämpfer war.
Es war meine Pflicht, diesen Schuss abzugeben, und ich bereue es nicht. Die Frau hatte im Grunde Selbstmord begangen. Ich sorgte nur dafür, dass sie keine Marines mit in den Tod riss.
Es war klar, dass sie die Soldaten nicht nur töten wollte, sie scherte sich auch keinen Deut darum, ob unschuldige Personen in der Nähe in Stücke gerissen werden oder in dem anschließenden Schusswechsel umkommen könnten. Kinder auf der Straße, Anwohner aus den umliegenden Häusern, vielleicht ihr eigenes Kind …
In ihrem Wahn verschwendete sie keinen Gedanken daran. Sie wollte nur Amerikaner töten, um jeden Preis.
Es war das schiere, unbeschreibliche Böse, dem wir im Irak den Kampf angesagt hatten. Deswegen nannten viele Militärangehörige, ich eingeschlossen, unsere Feinde »Wilde«. Es gab kein anderes Wort, um treffender zu beschreiben, mit wem wir es zu tun hatten.
Ich werde häufig gefragt, wie viele Menschen ich getötet habe. Meine Standardantwort darauf lautet: »Sinke oder steige ich mit der genauen Anzahl in deinem Ansehen?«
Die Zahl spielt für mich keine Rolle. Ich bedaure nur, nicht noch mehr Feinde erschossen zu haben. Nicht, um damit prahlen zu können, sondern weil ich glaube, dass die Welt ein besserer Ort ist ohne diese Wilden, die einzig darauf aus sind, Amerikanern das Leben zu nehmen. Jeder, den ich im Irak erschoss, versuchte Amerikanern oder Irakern zu schaden, die auf der Seite der neuen Regierung standen.
Ich hatte als SEAL einen Auftrag. Ich tötete den Feind – einen Feind, der tagein, tagaus danach trachtete, meine Landsleute zu töten. Die Erfolge dieses Feindes lassen mich bis heute nicht zur Ruhe kommen. Es gab zwar nur wenige, aber selbst ein einzelnes Leben war ein Leben zu viel.
Ich mache mir keine Gedanken darüber, was andere Leute von mir denken. Das war eines der Dinge, die ich als Jugendlicher an meinem Vater bewunderte. Er scherte sich nicht darum, was andere von ihm dachten. Er war, wie er war. Dieser Eigenschaft habe ich es zu verdanken, dass ich zuweilen nicht den Verstand verlor.
Zu dem Zeitpunkt, als dieses Buch in Druck geht, fühle ich mich immer noch unwohl bei der Vorstellung, meine Lebensgeschichte zu veröffentlichen. Ich habe früher stets die Meinung vertreten, dass jeder, der wissen will, wie das Leben eines SEAL ist, sich selbst den Dreizack verdienen sollte: Erwirb erst einmal unser Abzeichen, das Symbol unserer Identität. Durchlaufe unsere Ausbildung, bringe dieselben physischen und psychischen Opfer. Nur dann wirst du es begreifen.
Der zweite und vielleicht wichtigere Punkt ist: Wen interessiert mein Leben überhaupt? Ich bin wirklich nichts Besonderes.
Ich habe ein paar richtig brenzlige Situationen erlebt. Mir wurde gesagt, dass das interessant ist, aber ich kann diese Haltung nicht ganz nachvollziehen. Der eine oder andere Schreiberling schlug mir bereits früher vor, meine Biografie zu verfassen oder ausgewählte Erlebnisse festzuhalten, die mir widerfahren sind. Ich finde das zwar seltsam, aber da es nun einmal mein Leben ist und meine Geschichte, halte ich es für besser, wenn ich sie selbst zu Papier bringe – und zwar genau so, wie sie sich tatsächlich ereignet hat. Außerdem kommen in meiner Geschichte viele Menschen vor, die große Anerkennung verdienen, aber unerwähnt bleiben könnten, wenn ich diese Geschichte nicht selbst niederschreibe. Diese Vorstellung missfällt mir zutiefst. Meine Kameraden verdienen mehr Lob als ich.
Die Navy schreibt mir mehr tödliche Schüsse zu als jedem anderen Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte, der jemals gedient hat. Dann muss es wohl stimmen. Sie ändern die Zahl ständig. In einer Woche liegt sie bei 160 (die »offizielle« Angabe bei Redaktionsschluss, obwohl das nicht viel heißen muss), dann ist sie wieder wesentlich höher oder liegt irgendwo dazwischen. Wenn Sie eine Ziffer haben wollen, dann fragen Sie die Navy – mit etwas Glück sagt man Ihnen...