KAPITEL 1
Ich, Enkelin eines Massenmörders
In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte.
(Raul Hilberg)
Geboren wurde ich am 29. Juni 1970, als Tochter von Monika Göth und eines nigerianischen Vaters. Ich war vier Wochen alt, da brachte mich meine Mutter in ein katholisches Kinderheim. In der Obhut von Nonnen wuchs ich auf.
Mit drei Jahren kam ich zu einer Pflegefamilie, die mich im Alter von sieben Jahren adoptierte. Meine Haut ist schwarz, die meiner Adoptiveltern und meiner beiden Adoptivbrüder weiß. Jeder sah, dass ich nicht das leibliche Kind sein konnte. Aber meine Adoptiveltern beteuerten stets, sie würden mich genauso lieben wie ihre eigenen Kinder. Sie spielten, bastelten und turnten in Eltern-Kind-Gruppen mit mir und meinen Brüdern. Mit meiner leiblichen Mutter und meiner Großmutter hatte ich als Kind noch Kontakt, der dann später abriss. Das letzte Mal traf ich meine Mutter, da war ich einundzwanzig.
Jetzt, mit achtunddreißig Jahren, finde ich dieses Buch. Warum bloß habe ich es unter Hunderttausenden von Büchern herausgezogen? Gibt es so etwas wie Schicksal?
Der Tag hatte normal begonnen. Mein Mann war ins Büro gegangen, ich hatte meine Söhne in den Kindergarten gebracht und war weiter in die Stadt gefahren. Ich wollte noch kurz in die Bücherei. Ich bin oft hier. Ich mag die konzentrierte Stille, die leisen Schritte, das Rascheln der Buchseiten, die gebeugten Rücken der lesenden Besucher. In der Psychologieabteilung hatte ich nach Informationen über Depressionen gesucht. Auf Hüfthöhe, zwischen Erich Fromms «Die Kunst des Liebens» und einem Buch mit dem Allerweltstitel «In der Krise liegt die Kraft», stand das Buch mit dem roten Einband. Auf dem Buchrücken las ich: «Matthias Kessler: Ich muß doch meinen Vater lieben, oder?» Der Name des Autors sagte mir nichts, aber der Titel klang interessant. Also zog ich das Buch heraus.
Mein Mann Götz findet mich auf der Bank vor der Bibliothek liegend. Er setzt sich neben mich, betrachtet das Buch, blättert es kurz durch. Ich nehme es ihm schnell weg. Ich will nicht, dass er zuerst darin liest. Das Buch ist meins, der Schlüssel zu meiner Familiengeschichte. Der Schlüssel zu meinem Leben, nach dem ich all die Jahre gesucht hatte.
Mein ganzes Leben hatte ich das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt: Meine Traurigkeit, die Depressionen. Aber ich fand einfach nicht heraus, was so grundlegend falsch war.
Götz nimmt meine Hand, wir gehen zu seinem Wagen. Auf der Fahrt nach Hause spreche ich kaum. Mein Mann nimmt sich den Rest des Tages frei und kümmert sich um unsere beiden Söhne.
Ich lasse mich aufs Bett fallen, lese und lese, bis zur letzten Seite. Es ist schon dunkel, als ich den Band zuklappe. Ich setze mich an den Computer und recherchiere die ganze Nacht, lese alles über Amon Göth, was ich finden kann. Es ist, als würde ich in ein Gruselkabinett eintreten.
Ich lese über seine Ghettoräumungen in Polen, seine sadistischen Morde, seine auf Menschen abgerichteten Hunde. Erst jetzt wird mir das Ausmaß der Verbrechen bewusst, die Amon Göth begangen hat. Himmler, Goebbels, Göring – diese Figuren sind mir sofort präsent. Was Amon Göth genau getan hat, wusste ich nicht. Nach und nach wird mir klar, dass die Filmfigur in «Schindlers Liste» keine fiktive Figur war, sondern ein reales Vorbild aus Fleisch und Blut hatte. Meinen Großvater. Einen Mann, der reihenweise tötete und dem das auch noch Freude bereitete. Ich bin die Enkelin eines Massenmörders.
*
Jennifer Teege hat eine warme dunkle Stimme mit Münchner Einschlag, einem leicht rollenden «R». Ihr Gesicht ist klar und ungeschminkt, die eigentlich krausen Haare sind zu langen schwarzen Locken geglättet, die schmalen langen Beine stecken in engen Hosen. Wenn sie einen Raum betritt, drehen sich die Köpfe, die Männer schauen ihr nach. Sie geht sehr gerade, ihr Schritt ist fest und entschieden.
Ihre Freunde beschreiben Jennifer Teege als selbstbewusste Frau, voller Neugier und Abenteuerlust. Eine Studienfreundin sagt über sie: «Wenn sie von einem spannenden Land hörte, rief sie: Das kenne ich noch nicht, da fahr ich hin! Und sie zog los, nach Ägypten, Laos, Vietnam und Mosambik.»
Doch wenn sie über ihre Familiengeschichte spricht, zittern immer wieder ihre Hände, und sie weint.
Der Fund des Buches mit der Bibliothekssignatur Mcm O GOET#KESS ist der Moment, der Jennifer Teeges Leben zerschneidet, der es teilt in ein Davor und ein Danach: Davor, ohne das Wissen um ihre Herkunft. Danach, mit dem Wissen um die Geschichte ihrer Familie.
Die Geschichte ihres Großvaters kennt die ganze Welt: In Steven Spielbergs Film «Schindlers Liste» ist der grausame KZ-Kommandant Amon Göth Saufkumpan und Gegenspieler des gleichaltrigen Oskar Schindler: Judenmörder gegen Judenretter. Eine Filmszene hat sich ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt: Amon Göth, wie er vom Balkon seiner Villa aus Häftlinge erschießt, seine Form von Morgengymnastik.
Amon Göth war als Kommandant des Konzentrationslagers Płaszów in Krakau verantwortlich für den Tod Tausender Menschen. 1946 wurde er in Krakau gehängt, seine Asche in die Weichsel gestreut. Amon Göths Lebensgefährtin Ruth Irene, Jennifer Teeges geliebte Großmutter, leugnete später seine Verbrechen. 1983 brachte sie sich mit Schlaftabletten um.
Jennifer Teeges deutsche Geschichte: der Opa ein Nazitäter, die Oma eine Mitläuferin. Die Mutter aufgewachsen mit dem bleiernen Schweigen der Nachkriegszeit. Das also ist ihre Familie. Das sind ihre Wurzeln, die sie, das Adoptivkind, immer gesucht hat. Und sie, wer ist dann sie?
Ein Original der Schindler-Liste, gefunden 1999 auf dem Dachboden eines Hauses in Hildesheim, vor einem Foto Oskar Schindlers (Mitte)
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Alles, was mein Leben bis dahin ausgemacht hat, stelle ich nun in Frage: die enge Beziehung zu meinen beiden Adoptivbrüdern, meine Freundschaften in Israel, meine Ehe, meine zwei Söhne. War mein ganzes Leben eine Lüge? Ich komme mir vor, als sei ich unter falschem Namen unterwegs gewesen, als hätte ich alle betrogen.
Dabei bin ich diejenige, die betrogen wurde: um meine Geschichte. Um meine Kindheit. Um meine Identität.
Ich weiß nicht mehr, zu wem ich gehöre. Zu meiner Adoptivfamilie oder zur Familie Göth? Ich kann es mir nicht aussuchen: Ich bin eine Göth.
Als ich mit sieben Jahren, nach der Adoption, den Namen Göth ablegte, schien das leicht. Ein Dokument wurde aufgesetzt. Meine Adoptiveltern fragten, ob der Namenswechsel für mich in Ordnung sei. Ich sagte ja. Nach meiner leiblichen Mutter wagte ich danach nicht mehr zu fragen. Ich wollte endlich eine normale Familie.
Bei meinen Recherchen zu Amon Göth stoße ich im Internet auch auf einen Bericht über eine Sendung im Kulturkanal «arte»: Ein amerikanischer Filmemacher hat die Begegnung meiner Mutter mit Helen Rosenzweig, ehemals KZ-Häftling und Dienstmädchen in der Villa meines Großvaters, dokumentiert. Zufällig wird der Film schon am folgenden Abend in deutscher Erstausstrahlung im Fernsehen zu sehen sein.
Erst das Buch, dann dieser Film – es ist alles zu viel, es kommt alles zu schnell.
Mit meinem Mann sitze ich abends vor dem Fernseher. Gleich zu Beginn tritt meine Mutter auf. Ich beuge mich vor, ich will genau sehen: Wie sieht sie aus, wie bewegt sie sich, wie spricht sie? Bin ich ihr ähnlich? Ihre Haare hat sie jetzt kupferblond getönt, sie sieht verhärmt aus. Ich mag ihre Art, sich auszudrücken. Als Kind war sie für mich nur meine Mutter. Kinder registrieren nicht, ob jemand eher einfach oder gebildet ist. Erst jetzt merke ich: Meine Mutter ist eine kluge Frau, sie sagt interessante Dinge.
Im Dokumentarfilm wird auch eine Schlüsselszene aus «Schindlers Liste» gezeigt, in der die jüdische Bauleiterin dem frisch ernannten Kommandanten Amon Göth erklärt, dass die Lagerbaracken nicht richtig geplant seien – da lässt Amon Göth, gespielt von Ralph Fiennes, die Frau einfach erschießen. Sie sagt noch: «Herr Kommandant, ich bemühe mich doch nur, meine Arbeit gut zu machen.» Da antwortet Fiennes als Göth: «Ich mich auch.»
Ich erinnere mich jetzt wieder besser an den Film. Die Szene hat mich erschüttert, denn sie zeigt so klar, was man sich kaum vorzustellen vermag: Es gibt keine Grenzen und keine Hemmschwellen im Lager, Vernunft und Menschlichkeit sind abgeschafft.
Was soll ich, mit meiner dunklen Haut, mit Freunden in der ganzen Welt, bloß mit diesem Großvater? War er es, der meine Familie zerstörte? Fiel sein Schatten erst auf meine Mutter, schließlich auf mich? Kann es sein, dass ein Toter immer noch Macht hat über die Lebenden? Haben die Depressionen, die mich seit langem quälen, auch mit meiner Herkunft zu tun? Dass ich fünf Jahre in Israel gelebt und studiert habe – war das Zufall oder Bestimmung? Muss ich jetzt anders mit meinen jüdischen Freunden reden, jetzt, da ich weiß: Mein Großvater hat eure Verwandten umgebracht?
Ich träume: Ich schwimme in einem dunklen See, das Wasser zäh wie Teer. Plötzlich tauchen neben mir Leichen auf. Spindeldürre Gestalten, Skelette fast, denen alles Menschliche genommen wurde.
Weshalb hatte meine Mutter es nicht für nötig befunden, mich über meine Herkunft aufzuklären? Wieso erzählt sie anderen Dinge, die auch ich hätte unbedingt wissen müssen? Sie hat mir nie die Wahrheit gesagt. Aber ich brauche die Wahrheit. Ich muss an Theodor W. Adornos berühmten Satz denken: Es gibt kein richtiges Leben im...