Erstes Kapitel: Raus aus dem Topf
Nehmen wir einmal an, Sie, lieber Leser, sind im Westen der Republik geboren, irgendwann zwischen – sagen wir – 1950 und 1990. Sie wurden hineingeboren in eine Gesellschaft, die sich für freiheitlich und demokratisch hält. In der Schule haben Sie in allen Fächern außer in Mathematik das »Dritte Reich« durchgenommen, und wenn es überhaupt ein universelles Gesetz gab, dann lautete es: So etwas soll bei uns nie wieder geschehen. Nie wieder wollen wir Menschen zu Nummern machen. Nie wieder wollen wir per Kategorisierung zwischen wertvollen Bürgern und Feinden der Gesellschaft unterscheiden. Wir wollen keine Geheimpolizei, die ihren eigenen Gesetzen folgt. Wir wollen nie vergessen, was es bedeutet, wenn Menschen zu Objekten totalitärer Machtausübung werden. Deshalb, so hat man es Ihnen beigebracht, müssen die demokratischen Freiheiten, die wir genießen, jetzt und für alle Zukunft vom kritischen Bewußtsein der Bürger geschützt werden. Jeder ist berufen, sich für Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen und das Grundgesetz nicht nur als geltendes Recht, sondern als Wertordnung zu begreifen. Diese Lektion, meinen Sie, wurde in unserem Land gründlich gelernt.
Sind Sie sicher?
Nehmen wir an, Sie, lieber Leser, sind im Osten Deutschlands geboren. In einem System, das sich ebenfalls freiheitlich und demokratisch nannte. Doch Sie haben staatliche Repressalien selbst erlebt. Sie haben sich gewünscht, in Ihrer Wohnung ein offenes Gespräch führen zu können, ohne die Musik bis zum Anschlag aufzudrehen. Sie haben davon geträumt, nicht an fahnenschwenkenden Manifestationen teilnehmen zu müssen.Sie hätten viel dafür gegeben, unabhängig von unfähigen Parteibonzen Karriere zu machen. Sie wollten nicht auf schwarzen Listen geführt werden, Sie hatten die Nase voll von einem Staat, der Sie als Feind behandelte und Politik als Krieg gegen den Bürger verstand. Sie träumten von einer Gesellschaft ohne Überwachung und Verdächtigung, von einem Miteinander ohne Bespitzelung und Verrat. Wahrscheinlich haben Sie besser als manch einer aus dem Westen begriffen, was mit freiheitlichen Werten gemeint ist. Vielleicht haben Sie sich auch »Nie wieder!« geschworen. Mit der Wende hat sich für Sie ein Traum erfüllt.
Sind Sie sicher?
Die Anschläge vom 11. September 2001 waren spektakulär in ihrer Scheußlichkeit. Sie versetzten manche Staaten in einen Schockzustand, der seitdem für immer weitere schockierende Folgen sorgt: Der Wertekanon, den man in Deutschland und erst recht in älteren Demokratien wie Großbritannien oder Frankreich für verfestigt gehalten hatte, erwies sich mit einemmal als flüchtig. Grundlegende Auffassungen von bürgerlicher Freiheit wurden wie Ballast über Bord geworfen. Ein Grundrechtsstandard, den wir als eine unserer größten Stärken betrachtet hatten, erschien plötzlich als Sicherheitslücke. Zivilisatorische Errungenschaften, die über Jahrhunderte erkämpft und erstritten worden sind, wurden im Handumdrehen entsorgt. Zur Bekämpfung der »terroristischen Bedrohung«, die seit langem bekannt, nur niemals zuvor so medial sichtbar gewesen war, ergingen grundrechtsbeschränkende Maßnahmen, deren Durchsetzung kurz zuvor niemand für möglich gehalten hätte.
In den ersten Jahren nach dem 11. September 2001 waren die Zeitungen voll mit Warnungen vor dem Terrorismus, doch es gab kaum eine nennenswerte öffentliche Debatte über die Erweiterung der staatlichen Machtbefugnisse. Noch in den Achtzigern hatte eine geplante Volkszählung in Deutschland Massenproteste ausgelöst, weil viele Menschen eine Aktualisierung der Meldedaten als unerträglichen Eingriff in ihre persönliche Freiheit empfanden. Zwei Jahrzehnte später protestierte so gut wie niemand dagegen, daß jeder Bürger dem Staat seine Fingerabdrücke überlassen soll, obwohl es dabei offensichtlich nicht um die Fälschungssicherheit von Pässen, sondern um die Errichtung einer europaweiten Datenbank geht.
Was ist passiert? Wirkt eine Verteidigung der individuellen Freiheit seit den schrecklichen Bildern aus New York wie kleinliches Beharren auf einer zu großzügigen Verfassung, wenn nicht gar als Angriff auf die staatliche Sicherheit? Sind prognostizierte Schreckensszenarien für die Massenmedien so viel interessanter und glaubhafter als die realen Einschränkungen unserer Grundrechte? So oder so liegt der traurige Verdacht nahe, daß es mit der Verinnerlichung freiheitlicher Ideale nie so weit her war, wie wir dachten. Die Erfolgsbilanz politischer Aufklärung nach dem Ende eines Jahrhunderts der Totalitarismen sieht trist aus.
Obwohl das Bundesverfassungsgericht in einmaliger Weise einem Gesetz nach dem anderen den grundrechtlichen Riegel vorschiebt und dadurch die kritische Auseinandersetzung mit dem demokratischen Selbstverständnis befördert, hat sich am Tempo der sicherheitspolitischen Entwicklungen nichts geändert. Während in den Schulen immer noch die Idee vom alten Rechtsstaat gelehrt wird, findet draußen der große Umbau statt. Dieser Vorgang umgibt sich mit einer Aura der Unvermeidlichkeit. Gutmütig wie eine Kuh schaut der Bürger den angeblich zwingend notwendigen Entwicklungen zu und käut die dazugehörigen Argumentationen wieder: Anders als durch Freiheitsbeschränkung sei »Sicherheit« nicht zu gewährleisten, und der »unschuldige Bürger« sei von den Veränderungen doch ohnehin nicht betroffen. Unaufgelöst bleibt ein grundlegendes Dilemma, das bei ruhigem Abwägen der Sachverhalte unweigerlich zutage tritt: Kann man ein Wertesystem verteidigen, indem man es abschafft?
Wer jetzt aufsteht und sagt: »Es reicht! Ihr schlagt etwas kaputt, das sich nicht mehr reparieren läßt!«, wer jetzt mit kindlicher Unschuld ausruft: »Der Innenminister ist nackt!«, der wird mundtot gemacht. Grundrechtsalarmist! Rechtsstaatshysteriker! Es sei doch lächerlich zu glauben, die paar Veränderungen der letzten Jahre gefährdeten schon die Demokratie! Manchmal wird sogar behauptet, jene Stimmen, die vor der Überwachungsgesellschaft warnen, seien von der typischen deutschen Krankheit der Staatsverächtung gezeichnet – was die letzten fünf Jahrhunderte deutscher Untertanengeschichte auf den Kopf stellt. Oder man wirft ihnen eine Art Wehrkraftzersetzung vor, weil sie die Fähigkeit des Staates schwächten, sich gegen den Terrorismus zu wehren. Ausgerechnet den Skeptikern des gesteigerten staatlichen Kontrollbedürfnisses wird ungerechtfertigtes Mißtrauen gegenüber den Behörden unterstellt – dabei zeigen vielmehr die Forderungen der Behörden nach immer mehr Eingriffsmitteln ein tiefsitzendes Mißtrauen. Der Bürger soll auf die guten Absichten des Staates vertrauen, während der Staat den Bürger auf Schritt und Tritt überwacht. Wenn aber der Staat glaubt, sich gegen seine eigenen Bürger verteidigen zu müssen, ist manches in Schieflage geraten.
Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann eine Demokratie untergeht, wann ein Rechtsstaat zur leeren Hülle verkommt. Es gibt kein Maßband, keine Stoppuhr, keinen Lackmustest. Nirgendwo warnt ein Schild: »Vorsicht! Sie verlassen jetzt den demokratischen Sektor!«
Im historischen Rückblick mag es im jeweiligen Fall offensichtlich scheinen, ab welchem Punkt die Freiheit irreversibel beschädigt wurde – im Falle des Nationalsozialismus etwa durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Dann wird in die Vergangenheit hineingefragt: »Wie konntet ihr das drohende Unheil nicht erkennen? Das mußtet ihr doch kommen sehen! Warum habt ihr euch nicht gewehrt?« Und als Antwort hören wir nur das schwindelerregende Schweigen angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Laufs der Dinge.
Eine treffende Selbstdiagnose aus der Mitte des unmittelbaren Geschehens heraus ist ein Ding der Unmöglichkeit. Uns Zeitgenossen fehlt es am notwendigen Abstand; es fehlt schlicht an Kenntnissen über den zukünftigen Verlauf der Ereignisse. Die Folgen politischer Entwicklungen treten mal langsamer, mal schneller ein, stets aber aufeinander aufbauend, sich gegenseitig beeinflussend und daher vielschichtig.
Weil sich die Freiheit eben nicht mit einem Paukenschlag verabschiedet, krankt jedes gut funktionierende System daran, daß sich seine wohlmeinenden Anhänger in (falscher) Sicherheit wiegen. Sie vergessen, daß sie ihre Freiheit nicht etwa vom Staat erhalten, sondern daß sie, im Gegenteil, einen Teil ihrer Rechte an den Staat abgeben. Freiheit ist kein Geschenk der Obrigkeit, sondern ein Grundzustand der Natur oder eine Gabe Gottes, je nachdem, welche Schöpfungsgeschichte Sie bevorzugen. Freiheit ist kein Bonus, keine Prämie, kein dreizehntes Monatsgehalt. Sie geht unserem Staatsverständnis voraus.
Wären die Streiter für Gerechtigkeit und Freiheit so gut organisiert wie die Gegenkräfte, sähe die Menschheitsgeschichte anders aus. Wenn Millionen von Menschen auf die Straße gegangen wären, um ihre Grundrechte zu verteidigen, wäre es zu keinem der Überwachungs- und Kontrollgesetze der letzten Jahre gekommen. Es ist die Aufgabe eines jeden Bürgers, regelmäßig auszuloten, ob da, wo Freiheit draufsteht, tatsächlich noch Freiheit drin ist.
Wir können uns gegen alles wehren, was uns der Staat zumuten will. Das ist die Essenz freiheitlicher Gesellschaften. Alle Rechte, die wir heute – etwa im Umgang mit Gerichten, mit der Polizei und anderen Behörden – genießen, sind Folge von individueller Skepsis und gemeinschaftlichem Widerstand, seit Jahrhunderten. Sie wurden erfochten von Menschen, deren Namen wir auf Straßenschildern wiederfinden und an die wir, wenn überhaupt, in Sonntagsreden beiläufig erinnert werden. Diese Menschen haben für die Überwindung entrechteter Versklavung oft genug mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder ihrem...