Diese Arbeit untersucht ‚Angst‘ in Rainer Maria Rilkes Tagebuchroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910). ,Angst‘ ist ein durchgängiges Motiv in dem Roman. Dabei werden die philosophischen Konzepte von Kierkegaard, Heidegger und Sartre über ,Angst’als theoretischen Rahmen in Betracht gezogen. Man soll jedoch nicht aus dem Auge verlieren, dass die Arbeit sich in erster Linie mit einem literarischen Werk beschäftigt. Daher werden die Struktur des Romans, die Erzählstrategien, die Sprachnuancen und Rilkes Idee von Kunst auch analysiert. Der Roman zeigt z. B. bilinguale Tendenzen, denn Rilke verwendet gerne Französisch an einigen Stellen in dem Roman. Außerdem spielt die Handlung in Paris. Im Zentrum von Maltes Aufzeichnungen steht seine Konfrontation mit der Metropole Paris und sein Erlebnis der Großstadt. Solche Erlebnisse werden mit der ‚Angst‘ des Protagonisten Malte in Verbindung gebracht.
Die Arbeit wird in sechs Kapiteln geteilt. Das erste Kapitel befasst sich mit einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Angst‘. Der Begriff der ‚Angst‘ wird ausführlich mit besonderem Schwerpunkt auf Søren Kierkegaard, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre behandelt. Kapitel zwei ist der Biographie des Autors Rainer Maria Rilkes gewidmet. Es umfasst auch die Entstehungsgeschichte seines Romans Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) und einen Überblick über den Roman. Im dritten Kapitel wird das Angstmotiv in dem Roman analysiert. Untersucht werden der Ursprung der Angst und die verschiedenen Formen von Ängsten im Leben des Protagonisten Malte. In dieser Abhandlung soll keineswegs der Eindruck entstehen, dass die Aufzeichnungen nur als angsterfüllte Aufzeichnungen verstanden werden können. Es gibt auch andere Motive, welche eine Rolle spielen. Diese werden ebenfalls in die Analyse einfließen. Weiterhin versucht die Arbeit mit Briefen und konkreten Textstellen aus dem Roman die Zusammenhänge zu erläutern. Schließlich ist die Frage zu beantworten, inwieweit Angst die Existenz von Malte prägt und ob und auf welche Weise sie schließlich überwinden wird. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den Themen Liebe und Tod. Im fünften Kapitel werden die Sprache, Struktur und Rezeption von Rilke und die des Romans behandelt. Das sechste Kapitel ist die Schlussfolgerung.
Angst gehört zu den Grundbefindlichkeiten menschlichen Daseins ebenso wie Wut, Ärger, Trauer und Freude. Sie entwickelt sich in bedrohlichen und gefährlichen Situationen und kann sogar physiologische Reaktionen hervorrufen. Der Mensch versucht daher sie zu vermeiden oder zu überwinden. Angst hat die Fähigkeit, den Menschen zu bedrohen aber sie kann unter Umständen auch positiv wirken:
„Angst ermöglicht es dem Individuum, in einer bedrohlichen Situation maximale körperliche Leistungen zu erbringen, um so der Gefahr möglichst schnell zu entfliehen oder sich so intensiv wie möglich verteidigen zu können.“[1]
In der Regel wirkt Angst als die Bedrohung des Ichs. Die alltäglichen Gründe für unsere Ängste sind Verlust, die Sorge um die Zukunft, Einsamkeit, Distanzierung, Todesangst, Krankheit und Armut. Auch das Gefühl des Unheimlichen gilt als eine Ursache von Angst. Die Angst ist mit der Seele, dem Körper und Geist verbunden bzw. sie begleitet einem von der Geburt bis zum Tod. Sie kann einem von der Kindheit bis zum Erwachsen verfolgen. Der Mensch lebt im Umgang mit der Angst. Die Ängste können auch in gewissem Maß von den vergangenen Situationen und Ereignissen abhängig werden, besonders mit dem Erlebnis des Unheimlichen. d. h. „das Erlebnis der totalen Unheimlichkeit verdichtet sich in der Angst.“[2] Meistens basieren diese Arten von Angst auf Kindheitserlebnissen, die man nach wie vor fühlen kann. Es ist nicht ein bestimmtes, einsehbares Phänomen, sondern es ist das aufbrechende Gefühl der Unheimlichkeit.
Der deutsche Begriff ‚Angst‘ erscheint zum ersten Mal im 8. Jahrhundert und entwickelt sich über das althochdeutsche Wort angust. Er ist verwandt mit Lateinisch angustus bzw. angustie (Enge, Beengung, Bedrängnis) angor (Würgen, Beklemmung, Angst), anxietas (Ängstlichkeit) und angere (die Kehle) ebenso wie im Englischen anxiety, das bedeutet soviel wie Existenzangst, und französischen angoisse.[3]
Das Konzept der Angst kann unter sehr verschiedenartigen Blickwinkeln untersucht werden. Im Bereich der Medizin beschäftigen sich die Ärzte mit den biologischen Symptomen der Angst. Die biologischen Symptome der Angst sind vielfältig u. a. Herzklopfen, Zittern, Zucken, Schweißausbruch, Muskelverspannungen, Übelkeit, Verzweiflung, Atemnot, Prickeln in Händen und Füßen, Beklemmung in der Brust, Ruhelosität, Verlust von Appetit und ein gestörter Schlaf. Man spricht auch von Panik in Bezug auf Angst. Der Sozialpsychologe Morschitzky beschreibt in seiner Studie „Panik im Sinne eines katastrophenbedingten Massenphänomens ist eine akute Angstreaktion mit verminderter Selbstkontrolle, die zu Fluchtverhalten ohne Rücksicht auf soziale Aspekte führt.“[4]
Die Angst ist zwar biologisch bestimmt, aber auch auf der Ebene von Religion, Gesellschaft und Kultur ist sie verstehbar. Sie kann auch aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen werden. Der philosophische Aspekt ist einer davon. Das Phänomen der Angst aus Sicht der existentiellen Grundverfassung des menschlichen Daseins[5] wird von Søren Kierkegaard (1813-1855), Martin Heidegger (1889-1976) und Jean Paul Sartre (1905-1980) in ihrer Tiefe und Bedeutsamkeit beschrieben. Die Angst und Ängste verweben sich in unseren Bezug zu unserem Sein, Zeit und Welt und werden dementsprechend von diesen Philosophen ausführlich dargestellt. Die philosophische Fruchtbarkeit der Angst ist eine der großen Entdeckungen der Existenzphilosophie. Die gesamte Untersuchung der Hermeneutik des menschlichen Daseins beruht auf dem Phänomen der Angst.
Kierkegaard hat in seinem berühmten Werk Der Begriff Angst (1844) die Dialektik der Angst im Zusammenhang mit einer Deutung von dem Sündenfall verstanden. Er analysiert sie vorwiegend religiös-christlich. Er thematisiert die Angst als eine Voraussetzung der Erbsünde. Vor dem Sündenfall steht der Mensch im Stande der Unschuld. In der Unschuld ist der Mensch nicht bestimmt als Geist, sondern seelisch bestimmt in unmittelbarer Einheit. Die Angst entspringt durch Gut und Böse bzw. mit dem Essen der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Es gibt ein Verbot von Gott, dass Adam von dem Baum der Erkenntnis nicht essen darf, weil der Baum das Symbol von Gut und Böse ist. Dieses Verbot ängstigt Adam. Trotzdem sündigt Adam durch das Essen der Frucht. So sagt Kierkegaard: „Durch die erste Sünde ist die Sünde in die Welt gekommen.“[6] Nach Kierkegaard bedeutet Unschuld, dass der Mensch den Unterschied von Gut und Böse nicht kennt.
Vor allem unterscheidet Kierkegaard die Angst von der Furcht. Angst und Furcht sind verwandte Begriffe und der Sprachgebrauch wird oft ambivalent, aber sie sind philosophisch voneinander zu trennen. Die Furcht ist die Furcht der Lebewesen vor der Welt und die Angst ist die Angst vor sich selbst. Die „Furcht bezieht sich auf etwas Bestimmtes“[7] und sie ist gegenstandsgebunden, sie ist ein Affekt und gehört zum Menschsein. Man fürchtet sich vor einer Gefahr, einem Überfall, einer Beleidigung, vor Gespenstern, vor Strafe oder Entdeckung. Die Furcht bezieht sich auf bestimmte Gegenstände, Ereignisse und Erwartungen. Die Angst dagegen ist unbestimmt, hat keinen bestimmten Gegenstand vor dem sie sich ängstigt. Sie ist eine gegenstandslose Stimmung, sie ist transzendental und daher ist sie ein wichtiges Phänomen des menschlichen Daseins. Die Angst bleibt als körperliches Gefühl der Beklemmung. So heißt es bei Kierkegaard:
„Fragen wir nun näher, welches der Gegenstand der Angst ist, so ist hier allewege zu antworten: Dieser ist Nichts. Die Angst und Nichts entsprechen einander beständig. Welche Wirkung hat aber Nichts? Es erzeugt Angst.“[8]
Das Nichts erzeugt die Angst und kennzeichnet die Existenzweise des Menschen, bzw. das Nichts drückt die geistige Seinsweise des Menschen aus. Das Nichts offenbart die Angst, denn „die Angst und das Nichts entsprechen einander beständig.“ Menschen ängstigen sich, weil sie weder bloße Tiere noch körperlose Engel sind. Die Angst ist kein bloßes Gefühl, sondern sie ist ein geistiges Phänomen, „je weniger Geist, desto weniger Angst.“[9] Angst erscheint wenn die menschliche Seele bewusst gemacht wird und gleichzeitig darauf reagiert: „die Angst ist ein Ausdruck für die Vollkommenheit der menschlichen Natur“[10] in dem der Mensch in sich selber findet, sein eigenes Ich, wo der Mensch die Angst voll auf sich nimmt und wird zum selbst im eigentlichen Sinn. Nur im Umgang mit der Angst ist die eigentliche Existenz des Menschen definierbar, da die Angst das menschliche Dasein bestimmt. Die Angst...