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E-Book

ArabQueen

oder Der Geschmack der Freiheit

AutorGüner Yasemin Balci
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783104006956
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Ein packender und erschütternder Einblick in die andere deutsche Wirklichkeit. Mariam führt ein Doppelleben: Zu Hause die folgsame Tochter kurdischer Eltern, in der Welt außerhalb die selbstbewusste »ArabQueen«, die heimlich mit ihrer deutschen Freundin Lena Tanzen geht und Jungs trifft. Als sie ihren Cousin Walid heiraten soll, weiß Mariam, dass sie eine Entscheidung treffen muss, an der sie zu zerbrechen droht. Die Journalistin Güner Balci, die selbst jahrelang in einem Mädchentreff in Neukölln gearbeitet hat, erzählt eindrucksvoll am Schicksal Mariams, wie es ist, in zwei unvereinbaren Welten zu leben - für viele junge muslimische Frauen in Deutschland die bittere Realität - und welchen Preis die Freiheit hat.

Güner Yasemin Balci wurde 1975 in Berlin-Neukölln geboren. Bis 2010 war sie Fernsehredakteurin beim ZDF, heute arbeitet sie als freie Autorin und Fernsehjournalistin. 2012 erhielt sie für ihre Reportage ?Tod einer Richterin? den Civis-Fernsehpreis. 2016 erschien ihr Dokumentarfilm ?Der Jungfrauenwahn? (Arte/ZDF). Balci ist Kolumnistin für die »Stuttgarter Nachrichten«, ihre Texte erschienen u.a. in der »Zeit« und im »Spiegel«; im Deutschlandradio und Deutschlandfunk sind ihre politischen Features gesendet worden. Ihre Bücher bauen auf den Erfahrungen ihrer langjährigen Arbeit mit Jugendlichen aus türkischen und arabischen Familien in Neuköllns sozialen Brennpunkten auf: ?Arabboy? (2008), ?ArabQueen? (2010) und ?Aliyhas Flucht (2012).

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Anleitung zur Rebellion


Es liegt mehr als zehn Jahre zurück, dass ich die beiden Freundinnen kennenlernte, die die Hauptpersonen der Geschichte sind, die ich hier erzähle. Mariam war damals 18, Fatme 16 Jahre alt. Sie heißen anders, und erst bei mir werden sie zu Schwestern, aber sie waren so, wie ich sie in dieser Geschichte schildere: zwei aufgeweckte, schlagfertige und lebenshungrige Mädchen, beide nicht auf den Mund gefallen, und doch war ihnen auch eine untergründige Traurigkeit zu eigen, eine vage Sehnsucht nach einem anderen Leben. Beide arbeiteten in einer sozialen Einrichtung, kochten und putzten, veranstalteten Grillpartys für Kinder und Jugendliche im Kiez und waren glücklich, dass sie für einige Stunden am Tag befreit waren von dem Käfig ihrer engen und drückenden Familienverhältnisse, von denen ich nach und nach erfuhr. Sie flirteten gern mit Polizisten oder Sozialarbeitern, die in dem Viertel unterwegs waren, und freuten sich an den flüchtigen Bekanntschaften, die dabei entstanden, mussten zugleich aber immer auf der Hut sein, dass keiner aus ihrer Familie, die von Zeit zu Zeit jemanden zur Kontrolle der Mädchen vorbeischickte, davon Wind bekam.

Mariam trat als die Stärkere, die Selbstbewusstere von beiden auf. Nie war sie um einen vorlauten Spruch oder eine ironische, manchmal auch eine rüde und ätzende Bemerkung verlegen. Und sie sah tatsächlich ein bisschen wie eine junge Ausgabe von Penelope Cruz aus. Ich weiß noch genau, wie sehr mich die Energie und die Schönheit, die sie ausstrahlte, von der ersten Begegnung an fasziniert haben. Ohne dass ich ihr viele Fragen stellen musste, erzählte sie mir im Laufe der Jahre ihre Geschichte. Ich merkte, dass es ihr ein großes Bedürfnis war, sich diese von der Seele zu reden; und ich hörte ihr zu, ließ mich von ihr zum Lachen bringen und wurde immer wieder nachdenklich, wenn ich das Gefühl hatte, Mariam versuchte, über Dinge zu lachen, die alles andere als lustig waren.

Zwei Jahre ging es so, dann wurde Mariam schwanger. Fatme arbeitete weiter in der Einrichtung, und Mariam nutzte jede Gelegenheit, um ihre Freundin dort zu besuchen. Wenn wir uns trafen, rauchten wir zusammen eine Zigarette und redeten miteinander, bis Mariam meist hektisch aufstand und sich hastig verabschiedete, weil sie panisch registrierte, dass sie schon viel zu lange von zu Hause weg gewesen war. »Der Penner kommt gleich vom Sport«, sagte sie dann, »und das Essen ist noch nicht fertig!« Der »Penner«, das war ihr Mann, über den sie meist auch nicht besser sprach als über alle Männer. Ihre Verbitterung darüber, dass sie einen Mann hatte heiraten müssen, den ihre Eltern für sie bestimmt hatten, obwohl sie ihn nicht wollte, übertrug sie auf alle Männer. Vielleicht wollte sie sich damit selbst einreden, dass ihr Schicksal auch mit einem anderen Mann nicht erträglicher geworden wäre.

Von den dramatischen Umständen ihrer Verheiratung erfuhr ich erst durch Fatme. Mariam war wochenlang in ihrem Zimmer eingesperrt gewesen, bevor sie mit Jamal verheiratet wurde, den sie nie zuvor getroffen hatte, sondern nur vom Hörensagen kannte. Er war ganz anders als der Mann, von dem sie – wie so viele junge muslimische Frauen – immer geträumt hatte, ein Mann, der sie erlösen würde aus dem Gefängnis familiärer Unterdrückung, ein Mann, der mit ihr vielleicht sogar tanzen oder ins Schwimmbad gehen würde, der ihr erlauben würde, sich nach ihrem eigenen Geschmack zu kleiden, einer Arbeit nachzugehen und eigenes Geld zu verdienen. Ein Mann eben, mit dem man ein gemeinsames Leben aufbauen konnte, das anders war als das, was sie bei ihren Eltern sah.

Aber Jamal wollte von solchen Vorstellungen nichts wissen, er war geradezu durchdrungen von den alten patriarchalischen Geboten: Eine Frau habe auf der Straße nichts verloren, sie solle auch nicht arbeiten gehen, sondern sich um den Haushalt und die Familie kümmern – keine Freunde haben, keine Freizeit, keine Freiheit. Dass Mariam überhaupt arbeiten durfte, hatte sie nur den Auflagen des Jobcenters zu verdanken. Man hätte ihr sonst die Sozialhilfe gekürzt, und auf das Geld, das zum Einkommen der gesamten Familie beitrug, wollte – oder konnte – man dann doch nicht verzichten. Zumindest eine Zeitlang.

Nachdem Mariam ihr erstes Kind bekommen hatte, wurden ihre Besuche im Laden immer seltener, irgendwann blieben sie ganz aus.

Fatme wurde mit ihrem Cousin verheiratet, mit dem sie bis zu diesem Zeitpunkt wie Bruder und Schwester aufgewachsen war. Ihr Vater hatte das mit dem Onkel so ausgehandelt; dass seine Tochter darüber verzweifelt war, scherte ihn nicht. Als Fatme uns von ihrer Hochzeitsnacht erzählte, weinte sie. Ihre Tanten und ihre Mutter hatten vor der Schlafzimmertür gesessen, bis die Brautleute Vollzug melden konnten. Danach habe ihr Mann ihr nicht mehr in die Augen schauen können, und auch Fatme hätte vor Scham sterben mögen. Zwei Wochen später zerstritten sich Vater und Onkel über das Brautgeld, Fatmes Vater beorderte seine Tochter wieder zurück unter sein Dach. Von diesem Tag an galt Fatme als befleckte Frau, die froh sein musste, wenn überhaupt noch ein Mann sie heiraten würde. Inzwischen ist sie wieder verheiratet und erwartet ihr zweites Kind.

Hätte die »Gnade der Geburt« es besser mit den beiden Frauen gemeint, hätten sie gute Chancen gehabt, auch in dieser Gesellschaft »anzukommen«, wie es die Migrationsforscher nennen. Sie waren allemal intelligent genug, um einen guten Schulabschluss zu machen, zu studieren und auch im Beruf erfolgreich zu sein. Fatme wäre vielleicht Modedesignerin geworden, und Mariam hätte ich mir gut als energische und zielstrebige Leiterin eines Kindergartens oder eines Jugendclubs vorstellen können. Sie hatten so viel Energie, dass weder die Armut noch die mangelnde Bildung ihrer Eltern sie daran hätten hindern müssen, zu selbstbewussten Frauen zu werden, die ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand nehmen. Sie verfügten durchaus über das »Potential«, wie die Personalberater sagen würden, um diese Gesellschaft mit ihrer Lebenslust, ihren Talenten und ihren Fähigkeiten zu bereichern.

Aber solche Aussichten waren weit entfernt von ihrem wirklichen Leben. Und beide fanden sich im Laufe der Jahre mit dem ab, was ihre Familie und ein patriarchalisches System für sie vorgesehen hatten, in dem die Wünsche und Hoffnungen dieser Mädchen nichts zählten, sondern nur ihre »Jungfräulichkeit«, nur die »Ehre der Familie«, nur die Unterordnung der Frau unter eine von Männern bestimmte Welt.

So einfallsreich die beiden Freundinnen auch waren, wenn es darum ging, sich kleine Freiheiten zu erschleichen, oft heimlich und in ständiger Angst, dabei womöglich doch erwischt zu werden, wenn sie nur teilhaben wollten an dem, was anderen Mädchen ihres Alters erlaubt war, nie konnten sie sicher sein vor der Kontrollwut anderer Familienmitglieder und den Strafen ihrer Väter. Immer wieder versuchten sie, mit solchen Verhältnissen zurechtzukommen, sich anzupassen, sich an die Hoffnung zu klammern, dass es eines Tages ja doch vielleicht anders, nein: besser werden könnte, wenn sie sich fügten, statt aufzubegehren. Der permanente Psychoterror, dem sie unterlagen, hat ihnen nach und nach allen Mut geraubt und sie gebrochen. Sie haben sich, wie die meisten muslimischen Mädchen, in die Unfreiheit gefügt, vielleicht glauben sie inzwischen selbst, dass es ein von Gott gegebenes Gesetz ist, dies zu tun.

Warum sie nicht ausgebrochen sind? Weil die Angst, für immer allein zu sein, für solche Mädchen fast noch schlimmer ist als jede Knechtschaft. Von Geburt an sind sie in einen Familienverbund eingesperrt, der ihnen nie eine eigene, ihren individuellen Möglichkeiten und Vorstellungen entsprechende Entwicklung zugesteht; der sie nie selbst etwas entscheiden lässt, sondern sie einspannt in ein Dickicht aus Verpflichtung und Verboten, das jede Energie, jedes Wollen, jede Lust auf Dauer ersticken kann.

Wir nennen solche Familien verharmlosend »Großfamilien«, oft mit diesem schwärmerischen Unterton, als handele es sich bei ihnen um einen Hort von Geborgenheit, Aufgehobenheit, Verständnis und Nähe. Das ist eine Illusion, die mit dem Leben solcher Mädchen wenig zu tun hat. Ihnen werden von klein auf Pflichten auferlegt, die ihnen häufig selbst noch jede Möglichkeit rauben, zumindest über ein Quäntchen Zeit am Tag selbst zu bestimmen. Ihre Welt besteht meistens aus Lidl, Aldi und dem Kaufhof, sie kennen im Wedding, wo meine Geschichte spielt, vielleicht noch den Humboldthain und die großen Einkaufscenter, aber sie sind noch nie auf dem Berliner Funkturm gewesen, haben noch nie im Wannsee gebadet oder die Reichstagskuppel bestiegen – es sei denn, ein Klassenausflug hat sie dorthin geführt. Und selbst dann ist es fraglich, ob die Mädchen dabei sein durften.

Teilhabe an dieser Gesellschaft? Wir brauchen das alles nicht, sagt Mariams Vater in dieser Geschichte, wir haben ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen, seid zufrieden. Für ihn ist jeder Schritt, den seine Töchter in die Welt »der Deutschen« tun, eine »Versuchung« des Teufels, eine Gefährdung. Die Mischung aus archaischer Kultur und angeblich religiösen Geboten, die Mariams und Fatmes Familie – wie viele andere muslimische Familien – beherrscht, ist für die weiblichen Mitglieder ein Gefängnis, das von dem obersten Gesetz geregelt wird: Es gibt für eine Familie keine größere Schande als die selbstbestimmte Frau, besonders wenn diese sich auch noch die Freiheit zu sexueller Selbstbestimmung herausnimmt.

Auch ich bin in einer solchen Umgebung aufgewachsen. Aber die Verhältnisse in meiner Familie waren anders. Mein Vater hat mich nicht geprügelt, meine...

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