2.2 Vorlesungsmitschrift
Selbstverständnis der VorlesungVorlesungen präsentieren meist in rein monologischer Form einen größer umrissenen systematischen oder historischen Teilbereich der Literaturwissenschaft, oft aus der aktuellen Forschungsarbeit der oder des Lehrenden heraus perspektiviert – ein Wissen also, das einerseits umfängliches Grundwissen des Faches darstellt, andererseits aber auf die Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkte der oder des jeweiligen Lehrenden zurückgeht. Die Aneignung dieses Wissens im Zuhören und intensiven Nacharbeiten verhilft also dazu, sich größere literarhistorische oder systematische Wissenbestände des Faches zugänglich und verfügbar zu machen.
Grundsätzlich sind Basiswissen oder Forschungsorientierungzwei verschiedene Arten von Vorlesung an jeder Universität denkbar: einerseits Vorlesungen, die ›einfach‹ Grundwissen vermitteln, andererseits Vorlesungen, die neueste Forschungsperspektiven präsentieren. Beispielsweise ist eine Vorlesung zum »Sturm und Drang« wahrscheinlich weitgehend eine Vorlesung, die das literaturgeschichtliche Grundwissen zu dieser Epoche ausbreitet. Wenn sie allerdings von jemandem gehalten wird, der sich intensiv forschend mit Gegenständen dieses literaturgeschichtlichen Bereichs beschäftigt, dann heißt das natürlich, dass hier eben nicht nur Grundwissen, sondern auch aktuelle Forschung präsentiert wird. Häufig auch verlässt die Lehrveranstaltungsform der Vorlesung den Bereich der bloßen Grundlagenvermittlung völlig: Sie präsentiert einen nur scheinbar klaren Gegenstand aus völlig neuer methodologischer Perspektive – und dadurch verändert sich natürlich auch der Gegenstand selbst. Als Beispiel wäre hier etwa eine Vorlesung zur Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts aus systemtheoretischer Perspektive zu nennen, die, sowohl was den Zuschnitt epochaler Segmente als auch was die Begründung und inhaltliche Füllung der einzelnen Epochenbegriffe angeht, zu Ergebnissen kommt, die vom alten Grundwissen deutlich abweichen.
Eine Vorlesung zu besuchen ist also ›Sinn‹ des Vorlesungsbesuchssinnvoll, weil man erstens Grundwissen präsentiert bekommt und zweitens im Idealfall am Prozess der Herstellung eines Wissens teilnehmen kann, über das in dieser Form noch niemand verfügt. An einer Vorlesung intensiv teilzunehmen heißt im besten Fall, ganz aktuelle Ergebnisse avancierter Forschung präsentiert zu bekommen. Und ebenso sinnvoll ist es, diese Ergebnisse in irgendeiner Weise aufzuschreiben. Auch das Grundwissen aufzuschreiben, macht Sinn. Denn der oder die Vortragende hat dieses Wissen selbst ja aus mehr oder weniger unzähligen literaturwissenschaftlichen Werken, literaturgeschichtlichen Darstellungen, Biographien und Werkinterpretationen zusammengetragen – in einer Dichtheit, wie sie selten ein einzelnes Lehrbuch zu bieten vermag, und zusätzlich noch aus der Perspektive einer Forscherin oder eines Forschers, die/der Freude an diesem Gegenstand hat, vielleicht sogar noch etwas Neues an ihm entdeckt.
Nutzbarkeit und Zweck der VorlesungsmitschriftVorlesungsmitschriften begleiten oft das gesamte Studium und dienen selbst noch in der Prüfungsvorbereitung der Selbstverständigung über ganze Themenkomplexe. Die gute Vorlesungsmitschrift gibt es nicht, ihre Qualität ist auch nicht von der Kongenialität des Zuhörers abhängig, von seiner Ausdauer o. Ä. – Hier handelt es sich um eine eigentlich schlichte und einübbare handwerkliche Technik, deren positive Effekte allerdings nicht zu unterschätzen sind.
Generell hat die Vorlesungsmitschrift doppelten Sinn: Sie ist einerseits die Möglichkeit, an einem kompetent aufbereiteten, mehr oder weniger brillant vorgetragenen und ebenfalls mehr oder weniger an der neuesten Forschung orientierten Wissen zu partizipieren, andererseits aber schon die Chance, in der nachbereitenden Aneignung dieses Wissens grundlegende wissenschaftliche Verfahren einzuüben.
Wenn eine Vorlesung durch eine intensive Mitschrift begleitet werden soll, dann geht das natürlich nur bei Nur eine Vorlesung pro Semester intensiv nacharbeiteneiner Vorlesung pro Semester. Das Ergebnis einer solchen Mitschrift ist im besten Fall ein selbst geschriebener 50- bis 100-seitiger Text, der erstens selbst für die intensivste Prüfungsvorbereitung zu diesem Gegenstand noch völlig ausreicht, der zweitens damit auch Mitstudentinnen und -studenten zur Verfügung gestellt werden kann und der drittens auf der Festplatte des Computers auch ein reichhaltiges Reservoir differenzierten und ausformulierten Wissens darstellt, auf das man etwa im Falle von Referat oder schriftlicher Hausarbeit ruhig zurückgreifen darf.
Ein sorgfältiges Protokoll ist also schon allein aus studienökonomischen Erwägungen ein sinnvolles Unterfangen. Zu Beginn des Studiums basiert dieses Protokoll auf einer Ausgangspunkt: Mitschrift des GehörtenMitschrift, die zunächst möglichst alles umfassen sollte, was vorgetragen wird. Hierbei stellen sich natürlich sofort mehrere Probleme ein: Anderthalb Stunden intensiv zuzuhören und gleichzeitig alles Gesagte so vollständig wie möglich mitzuschreiben, führt erstens an die Grenze der Kondition und des Konzentrationsvermögens – ist aber ein gutes, wenn auch hartes Training: beide Vermögen wachsen schnell, Konditions- und Konzentrationsprobleme sind bald überwunden; zweitens mangelt es dem möglichst vollständigen Protokoll meist an Lesbarkeit – die Einübung in bestimmte handschriftliche Abkürzungen und Routinen lässt auch dieses Problem schon im ersten Semester geringer werden; drittens stellt sich schnell der Eindruck ein, die Mitschrift sei zwar in irgendeiner Weise vollständig, aber lasse jede sichtbare Struktur vermissen. Eine Strukturiertheit der unmittelbaren Mitschrift ist jedoch nicht notwendig, die fehlende Struktur wird in der Umsetzung der Mitschrift in einen vollständig ausformulierten selbst geschriebenen Text eingezogen.
Ein möglichst vollständiges Protokoll des Vorgetragenen ist also die Basis einer guten Vorlesungsmitschrift – nach und nach bilden sich Hören lernenFertigkeiten des selektiven Hörens und Mitschreibens heraus: Das Systematische, für die Argumentation des Vortrags Zentrale lässt sich dann schon beim Zuhören vom Exemplarischen trennen. Das Systematische sollte so vollständig wie möglich protokolliert werden, das Exemplarische nur in Stichpunkten und in im Nachhinein nachvollziehbaren, reproduzierbaren Hinweisen: Akt, Szene, Vers, Kapitel, Seitenzahl und Ausgabe, Titel und ungefähre Ortsangabe. Gegebenenfalls muss man unmittelbar in der Vorlesung nachfragen!
Fallen in der Vorlesung unbekannte Nacharbeiten: Begriffe und KontexteBegriffe oder Fremdwörter, setzt der Vortrag Allgemein- oder Spezialwissen voraus, über das man noch nicht verfügt, sollten diese Wörter und Zusammenhänge auf jeden Fall notiert werden – entweder ergibt sich in der Vorlesung selbst die Möglichkeit der Nachfrage, spätestens aber zu Hause am Computer, bei der Umsetzung des Protokolls in die Mitschrift, sollten diese Begriffe und dunklen Stellen nachgeschlagen oder aufgeklärt werden: Diese Informationen dürfen ruhig in der Vorlesungsmitschrift ihren Platz finden.
Die Ausarbeitung der Mitschrift sollte in größtmöglicher Zeitfenster für die Vorlesungsmitschriftzeitlicher Nähe zur Vorlesung erfolgen – es wäre also sinnvoll, sich schon bei der Stundenplanung für ein Semester etwa den Nachmittag nach einer Vormittagsvorlesung ganz freizuhalten oder wenigstens einige Abendstunden. Das ausführliche Protokoll sollte unbedingt in den Computer geschrieben werden: Die Mitschrift kann dann, wie schon angedeutet, Textbausteine für spätere schriftliche Hausaufgaben und Referate bereitstellen, die einfach in die neue Datei kopiert und gegebenenfalls redaktionell eingepasst werden müssen.
Für die Vorlesungsmitschrift gilt grundsätzlich: So schnell wie möglich ist das so umfassend wie möglich Mitgeschriebene in eine saubere Form zu bringen.
Bei dem Übungseffekte der VorlesungsmitschriftVersuch, eine Vorlesung auf das Intensivste mitzuschreiben, wird sich schon während des ersten Semesters, in welchem man diesen Versuch macht, herausstellen, dass man im Laufe der Zeit ganz anders zuhört und mitschreibt:
Man wird sehr schnell nicht mehr alles mitschreiben, sondern feststellen, dass man zügig gelernt hat, selektiv zuzuhören, selektiv mitzuschreiben. Eine Vorlesung hat immer Anteile systematischen Wissens, Fakten des Grundwissens sowie zentrale Schritte der vorgetragenen Argumentationsabfolge – und diese müssen natürlich möglichst vollständig mitgeschrieben, nachvollzogen und dann bearbeitend umgesetzt werden;
Daneben bietet eine Vorlesung eine große Fülle exemplarischen Materials, das die Professorin oder der Professor präsentiert, um das Argument zu illustrieren, zu verdeutlichen, um eine These zu stützen o. Ä. Dieses exemplarische Material muss natürlich nicht in seiner Fülle protokolliert werden in dem Sinne, dass die Exempel narrativ ausgestaltet werden, sie müssen vielmehr nur benannt und aufgelistet werden – allerdings in der Form, dass sie im Nachhinein, auch sehr viel später noch, identifizierbar und erinnerbar im Blick auf das Argument bleiben;
Diese Differenz zwischen systematisch-argumentativem Gerüst und exemplarischem Material des Vorlesungsvortrags muss schon beim Hören erkannt und realisiert werden: Was ist zentrales Argument...