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Aufklärung

Das deutsche 18. Jahrhundert - ein Epochenbild

AutorSteffen Martus
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl1040 Seiten
ISBN9783644121614
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Ein Zeitalter auf der Suche nach einer neuen Ordnung: Steffen Martus zeigt, wie dramatisch die Aufklärung das Deutschland des 18. Jahrhunderts verändert hat. Seine Darstellung reicht von der Neuordnung der politischen Landkarte um 1700 über die Erschütterung Europas durch das Erdbeben von Lissabon bis zum Vorabend der Französischen Revolution. Eine Epoche, die uns nähersteht, als wir glauben: Man schwärmt von Frieden und Freiheit, aber auch vom «Tode fürs Vaterland», und ausgerechnet Friedrich der Große, Musterbild des aufgeklärten Monarchen, beginnt einen Siebenjährigen Krieg, der zum ersten Weltkrieg wird. Vor allem aber entdeckt die Aufklärung, dass der Mensch keineswegs souverän, sondern zutiefst unmündig ist: Gefühle und Gewohnheiten wirken mächtiger als die Vernunft. Steffen Martus zeigt das 18. Jahrhundert in neuem Licht. Er erzählt die Geschichte der Leidenschaften, der Politik, Kultur und Wissenschaft, er schildert den Alltag in den Universitäten, den Städten, bei Hofe und zeichnet eindringliche Porträts von Diplomaten, Dichtern und Gelehrten bis hin zu Kant, der Chancen und Grenzen der Erkenntnis erkundete. Ein einzigartiges Geschichtswerk über jene kritische Epoche, in der unsere Gegenwart beginnt.

Steffen Martus, geboren 1968, lehrt als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er schreibt regelmäßig für die «Süddeutsche Zeitung», die «Berliner Zeitung» und «Die Zeit». Seine Biographie der Brüder Grimm war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, sein Epochenporträt der Aufklärung feierte die «Süddeutsche Zeitung» als «grandiose Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts». 2015 wurde Steffen Martus für sein wissenschaftliches Werk mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet.

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Leseprobe

1. Im Fürstenstaat: die höfische Gesellschaft und ihre Projekte


Am 17. Dezember 1700 machte sich der brandenburgische Kurfürst von Berlin aus auf den Weg zu seiner Krönung in Königsberg. Das rund sechshundert Kilometer entfernte Ziel lag außerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Der Kaiser hatte dort nichts zu sagen. Hier wollte Friedrich III. sich zum Souverän erklären.

Die Familie und der Hof waren mit von der Partie. Die Reisegesellschaft teilte sich in vier Gruppen, die jeweils den Umfang eines Kriegsheers hatten. Das Gefolge des Kurfürsten bestand in einer recht groben Schätzung aus «zwey bis dreyhundert Carossen und Rüst-Wagen».[1] Allein den Wechsel der Pferde zu organisieren, war eine gewaltige Aufgabe. Insgesamt benötigte das Unternehmen mehr als dreißigtausend Tiere. Keine Armee hätte sich im Winter aus dem Quartier getraut, der Kurfürst verstieß gegen alle Regeln der Mobilisierungskunst. Es herrschte Tauwetter, die Weichsel führte Hochwasser, und die Reisegesellschaft musste einen Umweg über Danzig nehmen. Dennoch verlief alles nach Plan. Für die Fahrt waren zwölf Tage berechnet; obwohl man nur am Vormittag reiste, traf Friedrich III. pünktlich kurz vor dem Jahreswechsel am 29. Dezember am Zielort ein. Man sollte sehen: Dieser Herrscher kann kalkulieren, er setzt sich durch, und das auch unter widrigen Bedingungen.

Die hektische Betriebsamkeit mitten in der ungemütlichen Winterzeit, die wahrlich keine günstigen Voraussetzungen für ein großes öffentliches Fest unter freiem Himmel bot, hatte ihren guten Grund. Die Leistungen, die Friedrich III. im vergangenen Jahrzehnt für die Verteidigung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation erbracht hatte, waren so wenig wie die seines Vaters anerkannt worden. Selbst Emporkömmlinge wie die Niederlande hatten das Kurfürstentum erniedrigt:[2] Bei einem Treffen in Den Haag im Jahr 1696 wollte Wilhelm von Oranien Friedrich III. zumuten, auf einem einfachen Stuhl Platz zu nehmen, wohingegen er sich einen Armlehnstuhl gönnte – der Oranier war vor noch nicht allzu langer Zeit in England zu königlichen Würden aufgestiegen und ließ seinen nahen Verwandten auf diese Weise körperlich spüren, wie es um die Rangverhältnisse stand. Um die Situation zu deeskalieren, führte man die Konversation nach einigem Hin und Her schließlich im Stehen.[3]

Die Großmächte hatten in den vergangenen Jahren immer wieder über den Kopf des brandenburgischen Kurfürsten hinweg entschieden, ihn gekränkt, ihm Befehlsgewalt vorenthalten oder seine Truppen für besonders riskante Aktionen eingesetzt. Die Könige und der Kaiser demonstrierten dem Kurfürsten, dass er eine Liga unter ihnen spielte: In entscheidenden Verhandlungen erkannten sie ihn schlicht nicht als Gesprächspartner an, so etwa beim Friedenskongress von Rijswijk, mit dem 1697 der Pfälzische Erbfolgekrieg gegen den Sonnenkönig Ludwig XIV. beigelegt wurde.[4] Ob man Friedrich III. im Kreis der europäischen Großmächte hörte oder nicht, hing weniger von militärischer Stärke als vielmehr von seinem Status ab. Politische Größen, die wie der Kaiser, der französische oder englische König per definitionem als «souverän» galten, gestanden nur einem anderen Souverän das Mitspracherecht zu.

Friedrich beobachtete seine Rivalen und die kommenden Veränderungen genau und sah, dass etwa Braunschweig-Lüneburg sein Territorium erweiterte, dass Hannover sich auf dem Sprung ins Königshaus von Großbritannien befand, dass die bayerischen Wittelsbacher sich ebenfalls – allerdings vergeblich – um die Königswürde bemühten und dass August der Starke den Wettinern in Sachsen 1697 die polnische Krone errungen hatte.[5] Das System befand sich in Unruhe und Bewegung. Um 1700 wurden die politischen Strukturen des Aufklärungszeitalters definiert.

An der Jahrhundertwende stand ein weiterer großer Krieg bevor.[6] Am 1. November 1700 war Karl II., der letzte spanische Habsburger, gestorben. Alle wussten, dass es zu einem Streit um die Erbfolge kommen würde. Je ungünstiger sich dabei die Lage für den Kaiser entwickelte, desto wahrscheinlicher wurde seine Zustimmung zur Rangerhöhung des brandenburgischen Kurfürsten, denn er benötigte wie so oft Hilfe im Kampf gegen Frankreich: Am 16. November 1700 wurden die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen Leopold I. und Friedrich III. im sogenannten Krontraktat festgeschrieben. Der Kurfürst sicherte dem Kaiser Truppen für den kommenden Krieg und den Habsburgern Stimmen bei künftigen Kaiserwahlen zu. Leopold akzeptierte die Krönung. Am 4. Dezember wurde der Vertrag endgültig ratifiziert.[7]

Friedrich III. hatte seine Krönung seit 1692 vorbereitet[8] und einen sehr langen Atem bewiesen. Fast seine ganze bisherige Regierungszeit hatte ihn dieses Projekt begleitet. Nun musste alles ungeheuer schnell gehen. Der Weg nach Königsberg und damit nach Preußen sollte für ihn und die Hohenzollern der Weg in ein neues Zeitalter werden. Als Johann Gottfried Herder kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert fasziniert auf die Anfänge seiner Gegenwart zurückblickte, datierte er sie kalendarisch genau: «Man sehnte sich», so schrieb er 1802, «nach dem Jahr 1701 als nach einer neuen Epoche in Ordnung der Dinge zum Heil der Menschen; der Zahlen 1600 war man müde.» Die Zeit habe sich damals in «Gährung» befunden. «In einer solchen Krisis der Zeiten nahm Friedrich die Krone […].»[9]

Tatsächlich kündigte sich eine «Krisis der Zeiten» nicht durch das Jahr 1700 oder 1701 an, sondern dadurch, dass man an dieser Jahrhundertwende mehr als zuvor bereit war, den Wechsel eines Säkulums als historischen Einschnitt zu werten und damit die geistige Unruhe in eine epochale zu übersetzen.[10] Bis weit ins 18. Jahrhundert dominierte der Zyklus von Krisen und Krisenbewältigung das Selbstbewusstsein der frühneuzeitlichen Mangelgesellschaft. Verteilt wurde eine beschränkte Menge von Gütern; es stand kein Überschuss zur Verfügung, mit dem man Neues hätte planen können. Dennoch bahnte sich in der Aufklärung die eigentlich merkwürdige Idee der Unerschöpflichkeit den Weg. Die Bewahrung des Status quo stand nicht mehr unumstritten an oberster Stelle der Agenda. Als vormodern erschienen aus Perspektive der «Neuerer» jene Gesellschaften, die sich an längst vergangenen Ursprüngen orientierten und ihre Werte darauf gründeten. Gesellschaften erwiesen sich nun als modern, wenn sie ihre Ziele in der Zukunft bestimmten und Werte als etwas verstanden, was es nicht in erster Linie wiederzugewinnen, sondern zu realisieren galt.[11]

Man sollte sich für einen Augenblick die Leistungen einer gleichsam in Zyklen geborgenen Kultur verdeutlichen, bevor man wie selbstverständlich auf die innovationsversessene Seite der Aufklärung tritt: Was sollte so schlecht daran sein, die überlieferten Güter zu bewahren, zu sammeln, zu differenzieren und zu vertiefen? Warum sollte man in einen Prozess der intellektuellen Innovation eintreten, der notwendigerweise vieles verdrängen und dem Vergessen anheimgeben würde? Bedeutete es wirklich ein so geringes Verdienst, sorgsam und ehrfurchtsvoll mit den Gedankenlandschaften der Tradition umzugehen, sie urbar zu machen und sich in ihnen wohlig einzurichten?

Vielen erschien es um 1700 zunächst geradezu widersinnig,[12] dass Jahrhunderte von nun an – anfangs noch mit einem nur schwachen Epochenbewusstsein, dann mit immer stärkerer Emphase des Bruchs und der Zäsur – etwas Besonderes bedeuten sollten: als wechsle der Kalender an einem bestimmten Datum die Physiognomie der Geschichte aus, als fließe die Zeit nicht einfach dahin, als folgten nicht einfach Tag auf Tag, Woche auf Woche, Monat auf Monat und Jahr auf Jahr und als kümmerten sich die Ereignisse, die intellektuellen Neuerungen und sozialen Veränderungen darum, mit welchen Zahlen sie von Menschen willkürlich bedacht werden.

Selbst in der Welt der Politik schienen sich seit dem ebenso dynamischen wie stabilen System des Westfälischen Friedens die Gewichte zwar mal in die eine, mal in die andere Richtung zu verschieben; Ziel aber war während der Aufklärungsepoche die Bewahrung der Balance. Die Erfahrung bestätigte diese Haltung. Der Siebenjährige Krieg (1756–1763), in dem einige den ersten Weltkrieg sahen, führte nach jahrelangen erbitterten Kämpfen, nach der Verwüstung von Städten und dem Tod unzähliger Soldaten lediglich dazu, dass staatspolitisch die Vorkriegsverhältnisse zementiert wurden. Die entscheidende Frage an der Epochenwende zur Aufklärung war jedoch: Wer bestimmt über das Gleichgewicht?

Um 1700 wurde der Rahmen für jenes Balance-Denken gestiftet, das dann die fiebrige Bündnis- und Militärpolitik der Aufklärungsepoche beschränkte. Es gab zwar viele gute Gründe, die Jahrhundertwende mit einem gewissen Gleichmut zu betrachten, weil man die Wiederkehr von Bekanntem erwarten durfte. Wer jedoch in dieser Situation kein Gespür für das sich ankündigende Neue entwickelte, verspielte seine Möglichkeiten. Friedrich III. hatte dies erkannt. Er nutzte die Chance, seine Rangerhöhung als Zeitensprung zu verkaufen, um auf diese Weise entscheidend in das Machtgefüge der Politik eingreifen zu können. Eine der...

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