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Augen-Spiel

Jean Pauls optische Metaphorik der Unsterblichkeit

AutorSabine Eickenrodt
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl391 Seiten
ISBN9783835320161
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis36,99 EUR
Blinde Protagonisten und Augenoperateure gehören bei Jean Paul zum geläufigen Romanpersonal. Sabine Eickenrodt widmet sich diesen Figuren vor dem Hintergrund der Unsterblichkeitsschriften im 18. Jahrhundert: Jean Paul stand sowohl physikotheologisch tradierten 'Aussichten in die Ewigkeit' (Lavater) als auch einer moralphilosophischen Begründung der Unsterblichkeit der Seele (Kant) skeptisch gegenüber. Ausgehend von der programmatischen Bestimmung der Poesie in der Vorschule der Ästhetik fragt die Autorin nach den poetologischen Konsequenzen von Jean Pauls sprachtheoretischen Prämissen. An der Mikrostruktur der Texte weist sie nach, daß Jean Pauls optische Metaphorik der Unsterblichkeit als modern zu gelten hat. Sein Bildfundus entstammt den populären, innovativen Wissensdiskursen des 18. Jahrhunderts: Augenheilkunde, Ballonfahrt und Chinamode entwarfen Horizonte von einer 'anderen Welt', die es in den Texten als das Undarstellbare mit dem Opaken zu verbinden galt. Die Arbeit analysiert das poetische Verfahren in ausgewählten Schriften und Romanen Jean Pauls von 1790 bis 1803 - mit einem Exkurs zum späten Selina-Fragment.

Sabine Eickenrodt, geb. 1956, Privatdozentin an der FU Berlin. Publikationen u.a. zur Freundschaft im 18. Jahrhundert, zu Günderrode, Kleist, Tieck, Bobrowski, Robert Walser und Christa Wolf.

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Leseprobe
V. Sympathetische Ophthalmie Jean Pauls Rezeption der »Friendship in Death« im Titan und Selina-Fragment: Ausblick ins Spätwerk (S. 315-316)

Jean Paul war mit der englischen pietistischen Tradition der Friendship in Death1 bei Elizabeth Singer Rowe, mit Edward Youngs Night Thoughts2 und auch mit Wielands Rowe-Rezeption Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde3 vertraut – mit einem literarischen Genre also, das vom Autor beerbt und nach 1800 sukzessive in eine Theorie des Gedächtnisses, der Vision und des Traums überführt wird.

Eine Untersuchung dieser Umwertungen im Gesamtwerk Jean Pauls hätte insbesondere in den Mutmassungen über einige Wunder des organischen Magnetismus (1813/14) anzusetzen, in denen die Frage des »Scheintods und Sterbens in Beziehung des Magnetismus« (II/2,914- 918) neu reflektiert wird.

Die im folgenden präsentierte Lektüre des Titan und des Selina-Fragments, zwischen denen fast ein Vierteljahrhundert liegt, ist deshalb als ›Probe aufs Exempel‹, als Ausblick ins Spätwerk zu verstehen. Ihre Legitimation zieht diese vergleichende Studie aus der Parallele, die Jean Paul selbst zwischen dem »verdeutscht[ en] Kampanertal« (I/6,1109) und Albanos ›Biographie‹ (I/3,146) hat sehen wollen.

Die vorliegenden Studien finden ihren Abschluß also dort, wo sie auch hätten beginnen können: bei dem Befund, daß die Jahrhundertdebatte über Unsterblichkeit nicht abzulösen ist von den Topoi der Freundschaft und Sympathie. Jean Pauls humoristische Romane sind in dieser Tradition zu lesen, in die er das humanum humoris als Signatur der literarischen Moderne einträgt.

V.1. Augenleiden und Jenseitsblicke: Die Freundinnen der Toten


Anders als in den heroischen Freundschaften zwischen den ›hohen Menschen‹, anders auch als in den sympathetischen Bindungen zwischen den Humoristen haben die toten Freundinnen – Karoline, die Freundin der Liane im Titan, oder Gione, die verstorbene Mutter und Freundin Selinas im gleichnamigen Fragment – eine unerklärliche Macht über jene hinterbliebenen ätherischen weiblichen Wesen, die ihnen bereits zu Lebzeiten nachzusterben suchen oder ihnen ähnlich werden.

Lianes Augenkrankheit im Titan trägt alle Symptome einer ›migraine ophthalmique‹ (vgl. I/3,154)6 und hängt aufs engste mit Selinas »Selbermagnetismus« (I/6,1191) und hellseherischer Kraft im – Fragment gebliebenen – Neuen Kampaner Thal (später Selina) zusammen. Der Autor beläßt diese Freundinnen der Toten ein für allemal im Banne der Verstorbenen und unterstellt sie zugleich einem Einfluß ihrer Mütter, der auch durch irdisch-pragmatische Gefährtinnen wie Lianes Rabette oder Selinas Nantilde nur unzureichend relativiert wird.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
I. Clavis Pauliana: Einleitung10
I.1. Voraussetzungen: Textauswahl und Fragestellung13
I.2. Der Register-Artikel »Auge/Augen« im Nachlaß Jean Pauls19
I.3. Witz, Metapher und Allegorie in der Vorschule der Ästhetik22
I.4. Das zeitgenössische Bildreservoir Jean Pauls: Ophthalmologie, Sinologie und Aeropetomanie – Voraussetzungen und Thesis der Arbeit31
II. Poetisches Starstechen: Optische ›Palingenesien‹ des Erzählens in der Unsichtbaren Loge37
II.1. Starstecher und Starinhaber: Das Paradoxon des blinden Starstechens43
II.2. Die »Erlebensunmöglichkeit« des Todes oder vom »Sinn des Sehens« – über Bonnet, Moritz und Kant57
II.3. Mumien und künstliche Augen: Zum Titel der Unsichtbaren Loge und zu Kästners aufgeklärtem Unsterblichkeitsbeweis70
II.4. »Ägyptisches Predigen der Sterblichkeit«: Barocke Spuren in der Unsichtbaren Loge80
II.5. Augenschneiden und Starstechen: Das poetische Verfahren im frühen Roman-Fragment89
II.6. Zerschnittene Augen: Die Blendung des Amandus und die Blindheit des Erzählers108
II.7. Ein optischer Betrug:125
Jean Pauls Zeitpoetik125
III. Sinesische Sprachgitter: Schriftbilder der anderen Welt im Hesperus137
III.1. Zweiwertigkeit des Sinesischen: Philosophiekritik und Semiotik139
III.2. Selbstgespräch eines Autors: Hamann und das ›Manifest‹ einer sinesischen Poetologie145
III.3. Blindes Denken: Atheismus und Sprachtheorie150
III.4. Schleier und Sprachgitter: Metaphern einer anderen Welt159
III.5. Ein »Buch der Wandlungen«: Namensvielfalt und Namenlosigkeit im »Hesperus«168
III.6. Auge und Ei: Jean Pauls moderne Experimental-Poetik179
III.7. Augenarzt des Vaters: Viktors Blindenheilung182
III.8. Die »schöne Verfinsterung der Sonne«: Jean Pauls allegorisches Verfahren188
IV. »Horizontale Himmelfahrt« Poetische ars volandi im Kampaner Tal und in Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch195
IV.1. Satirische Weltfahrt: Jean Pauls Rezeption barocker Flugdichtung und der Ballon-Satire im 18. Jahrhundert203
IV.2. »Globe de compression«: Experimentalkraft des bildlichen Witzes212
IV.3. Ascension der Vernunft: Die »idealistischen Saifenblasen-Montgolfieren« der Kritischen Philosophie215
IV.4. »Outside-Passenger«: Blanchard und Lavaters Aussichten in die Ewigkeit im Seebuch224
IV.5. »Bergperipatetiker«: Das Modell des Höhenblicks237
IV.6. Exkurs: Das »Gesez der Schwere«: Karoline von Günderrodes Jean-Paul-Rezeption. Das Gedicht Der Luftschiffer (1803)255
IV.7. »Luftige Promenaden« und blinde Orientierung: Zur Dislozierung des Auges im Seebuch269
IV.8. Blindheit und Endzeit: Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht – ein Prätext des Seebuchs281
IV.9. Augen und Kugeln: Die optische Metaphorik in Jean Pauls Unsterblichkeitsschrift Das Kampaner Tal285
V. Sympathetische Ophthalmie Jean Pauls Rezeption der »Friendship in Death« im Titan und Selina-Fragment: Ausblick ins Spätwerk316
V.1. Augenleiden und Jenseitsblicke: Die Freundinnen der Toten317
V.2. Der blinde Spiegel Liane: Zur Selbstreferentialität des ›Körperzeichens‹319
V.3. Hartnäckige »Ophthalmie an beiden Augen«: Liane, Selina und Diderots Lettre sur les Aveugles320
V.4. Diamant und Auge: »Vereinigung von fortschwebender Phantasie und fortgrabender Philosophie« im Selina-Fragment323
V.5. »Beweis des Gedächtnisses«: Das Vorbild Rousseau (La Nouvelle Héloïse)326
V.6. »Sonnen- und Seelenfinsternis«: Bilder des Traumgedächtnisses329
VI. ›Sehen im Wort‹. Benjamins Umwertung von Kommerells Jean Paul: Epilog335
Siglenverzeichnis345
Bibliographie347
Jean Paul347
Quellen348
Forschungsliteratur361
Register der Werke Jean Pauls380
Personenregister382
Dank391

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