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E-Book

Ausgrenzungen

Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft

AutorSaskia Sassen
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783104034669
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Eine klare und harte Kritik der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts Zunehmende Ungleichheit, krasse Einkommensunterschiede, Flüchtlinge, Zerstörung von Land, Wasserknappheit: Die aktuellen Verwerfungen in der globalisierten Welt können nicht mehr mit den üblichen Begriffen von Armut und Ungerechtigkeit verstanden werden. In ihrem neuen Buch schlägt die renommierte Soziologin Saskia Sassen vor, dass man sie viel besser als Ausgrenzungen verstehen muss: aus dem Berufsleben, dem Wohnort, aus der Biosphäre. Erst dieser gemeinsame Gesichtspunkt macht eine luzide politische Analyse möglich, welche die grundlegende Logik und den Zusammenhang dieser scheinbar getrennten Effekte sichtbar macht.

Saskia Sassen,geboren 1949, ist Professorin für Soziologie an der Columbia University. Ihre Bücher sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden. Für ihr Werk hat sie zahlreiche Preise erhalten, u.a. 2013 den Prinz-von-Asturien-Preis für Sozialwissenschaften. Sie ist Mitglied im Club of Rome und wurde von dem politischen Magazin »Foreign Policy« in die Top-100-Liste Globaler Denker aufgenommen.

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Leseprobe

Kapitel 1 Schrumpfende Wirtschaft, wachsende Ausgrenzung


In diesem Kapitel möchte ich meinen Kerngedanken ein wenig genauer erläutern: Wir sind seit den 1980er Jahren in eine neue Phase des Kapitalismus eingetreten, in der die Mechanismen der ursprünglichen Akkumulation neu erfunden wurden. Die heutige Form der ursprünglichen Akkumulation wird durch komplexe Vorgehensweisen und viele spezialisierte Neuerungen umgesetzt; das Spektrum reicht dabei von der Logistik des Outsourcing bis zu den Algorithmen der Finanzindustrie. Nach 30 Jahren mit solchen Entwicklungen haben wir es in großen Teilen der Welt mit einer schrumpfenden Wirtschaft zu tun, aber auch mit der eskalierenden Zerstörung der Biosphäre auf der gesamten Erde und der Wiederkehr extremer Formen von Armut und Brutalität, von denen wir geglaubt hatten, sie seien beseitigt oder im Verschwinden begriffen.

Die wirtschaftliche Entwicklung, wie sie gewöhnlich genannt wird, war lange davon abhängig, dass Waren in einem Teil der Welt erzeugt und in einen anderen transportiert wurden. In den letzten Jahrzehnten hat sich diese Geographie der Produktion – nicht zuletzt durch komplizierte neue technische Verfahren – stark erweitert, und heute ist sie durch ein immer krasseres Ungleichgewicht in ihrem Verhältnis zu den natürlichen Ressourcen und ihrer Nutzung gekennzeichnet. Die vielen Innovationen, die unsere Fähigkeit zur Rohstoffgewinnung stärken, bedrohen heute Kernbestandteile der Biosphäre und hinterlassen weite Gebiete mit toten Landstrichen und Gewässern.

Manches davon ist historisch uralt. Wirtschaftswachstum war nie gutartig. Dennoch ist mit der Eskalation der letzten drei Jahrzehnte ein neues Zeitalter angebrochen: Heute ist eine wachsende Zahl von Menschen und Orten auf der ganzen Welt gefährdet. Solches Wachstum findet in charakteristischer Form und mit charakteristischen Inhalten auch heute noch statt: einerseits in den vielgestaltig entwickelten Ländern, die wir als globalen Norden bezeichnen, andererseits aber auch in den weniger oder anders entwickelten Ländern des globalen Südens. Räuberische Eliten wurden beispielsweise lange Zeit mit armen, rohstoffreichen Ländern in Verbindung gebracht, nicht aber mit den Industrieländern. Heute dagegen können wir zunehmend beobachten, wie eine solche Abschöpfung an der Spitze auch in Letzteren stattfindet, in der Regel allerdings in einer Form mit weitaus mehr Zwischenstufen.

Meine These lautet: Wir beobachten weniger die Entstehung räuberischer Eliten als vielmehr die räuberischer »Formationen«; damit meine ich eine Mischung aus Eliten und systembedingten Fähigkeiten, die eine akute Konzentration vorantreiben, wobei das Finanzwesen die entscheidenden Voraussetzungen schafft.[1] Konzentration an der Spitze ist nichts Neues. Sorgen macht mir aber, dass sie heute in immer mehr Bereichen in einem beträchtlichen Teil der Welt extreme Formen annimmt. Die Möglichkeit, dass sich extreme Konzentration entwickelt, sehe ich unter anderem in folgenden Bereichen – um nur einige zu nennen: Der Reichtum des obersten einen Prozents der Weltbevölkerung hat in den letzten 20 Jahren um 60 Prozent zugenommen; an der Spitze dieses einen Prozents »haben die 100 reichsten Milliardäre ihr Vermögen 2012 um 240 Milliarden Dollar vermehrt – genug, um die Armut auf der Welt viermal zu beseitigen«.[2] Die Bankguthaben wuchsen von 2002 – ein gutes Stück vor der eigentlichen Krise – bis 2012, als die Erholung des Finanzwesens begonnen hatte, um 160 Prozent von 40 Billionen auf 105 Billionen Dollar, das ist mehr als das Eineinhalbfache des globalen BIP.[3] Im Jahr 2010, noch während der Krise, stiegen die Gewinne der 5,8 Millionen Unternehmen in den Vereinigten Staaten gegenüber 2009 um 53 Prozent, aber trotz solcher explodierender Profite gingen die Unternehmenssteuereinnahmen um 1,9 Milliarden Dollar oder 2,6 Prozent zurück.

Allein hätten reiche Einzelpersonen und Weltkonzerne eine solche extreme Konzentration des weltweiten Vermögens nicht bewerkstelligen können. Sie brauchen dazu gewissermaßen eine systemimmanente Hilfe: komplexe Wechselbeziehungen zwischen den genannten Akteuren und Systemen, die neu ausgerichtet wurden und nun die extreme Konzentration möglich machen. Bei solchen systembedingten Möglichkeiten handelt es sich um eine vielgestaltige Mischung aus Neuerungen von Technik, Märkten und Finanzwesen sowie staatlichen Rahmenbedingungen. Sie sind ein partiell globaler Zustand, der seine Wirkung aber häufig über die besonderen Gegebenheiten der einzelnen Länder mit ihrer politischen Ökonomie, ihren Gesetzen und ihren Regierungen entfaltet.[4] Dazu gehört auch eine ungeheure Kapazität für Vermittlungsvorgänge, die als eine Art Nebel wirken und unseren Blick auf die Vorgänge verschleiern – aber anders als vor hundert Jahren finden wir heute in diesem Dunst keine zigarrerauchenden Mogule mehr. Bei den Strukturen, durch die es zur Konzentration kommt, handelt es sich heute nicht mehr um die Lehensgüter weniger Raubtierkapitalisten, sondern um komplizierte Kombinationen zahlreicher Elemente.

Nach meiner Überzeugung ist ein System, das Konzentration in diesem Umfang möglich macht, etwas Eigenes. Es ist beispielsweise etwas anderes als ein System, das die Entstehung und Ausweitung einer wohlhabenden Arbeiterklasse und Mittelschicht ermöglicht, wie es über weite Teile des 20. Jahrhunderts im globalen Norden, in großen Teilen Lateinamerikas und mehreren afrikanischen Ländern – insbesondere Somalia – geschah. Dieses frühere System war alles andere als vollkommen: Es gab Ungleichheit, Konzentration von Reichtum, Armut, Rassismus und anderes. Aber dieses System hatte das Potential, einen wachsenden mittleren Sektor der Gesellschaft hervorzubringen, der mehrere Generationen lang immer größer wurde, wobei es den Kindern meist besser ging als ihren Eltern. Außerdem hing die Verteilung, die es bewirkte, nicht einfach von den beteiligten Personen ab. Hinzukommen mussten bestimmte systembedingte Möglichkeiten. In den 1980er Jahren hatten sich diese früheren Fähigkeiten abgeschwächt, und man konnte die Entstehung neuer Potentiale beobachten, die nicht mehr für die Entwicklung einer breiten gesellschaftlichen Mitte sorgten, sondern eine verstärkte Konzentration an der Spitze vorantrieben. So ist beispielsweise die Tatsache, dass die obersten zehn Prozent der Einkommensskala in den Vereinigten Staaten in den zehn Jahren seit 2000 in den Genuss von 90 Prozent der Einkommenssteigerungen gekommen sind, kein Zeichen für individuelle Fähigkeiten; sie wurde vielmehr nur durch die komplizierte Mischung möglich, die ich als räuberische Formation bezeichne.

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels lege ich dar, wie es auf unterschiedlichen Wegen zu Wirtschaftswachstum kommen kann und wie sich daraus unterschiedliche Verteilungseffekte ergeben. Nach meinen Beobachtungen gibt es in unserer modernen Welt eine Flut von ursprünglichen Formen der Akkumulation, wie man sie in der Regel mit Wirtschaftsordnungen der Vergangenheit in Verbindung bringt. Sie haben heute nicht mehr die Form der eingezäunten Wiese eines Bauern, auf der man Wolle produzierende Schafe halten kann, wie es im England der industriellen Revolution geschah, als die Nachfrage der Textilfabriken befriedigt werden musste. Heute bedarf es ungeheuer komplexer technischer und juristischer Voraussetzungen, damit letztlich sehr elementare Gewinnungsvorgänge ablaufen können. Dazu gehören – um nur einige Beispiele zu nennen – die Einzäunung der Ressourcen eines Landes und der Steuern seiner Bürger durch Finanzkonzerne, die Umwidmung immer größerer Landstriche zu Orten für die Rohstoffgewinnung und die Neuausrichtung der staatlichen Etats in liberalen Demokratien weg von sozialen Notwendigkeiten und den Bedürfnissen der Arbeitskräfte. Auf diese Themen werde ich im dritten Abschnitt zurückkommen.

Im zweiten Abschnitt betrachte ich durch diese kritische Brille die globale Ungleichheit. Wenn sie weiter wächst, kann man sie irgendwann zutreffender als eine Form der Ausgrenzung bezeichnen. Für diejenigen, die sich in der Gesellschaft ganz unten oder in der armen Mitte befinden, bedeutet das Ausgrenzung aus einem Lebensraum; für die an der Spitze bedeutet es offenbar, dass sie sich durch Rückzug, extreme Konzentration des in einer Gesellschaft verfügbaren Reichtums und die fehlende Neigung, diesen Reichtum neu zu verteilen, aus der Verantwortung einer Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft verabschieden. Der dritte Abschnitt baut auf der Betrachtung extremer Ausprägungsformen der Ungleichheit auf und konzentriert sich auf vertraute Situationen, die uns plötzlich nicht mehr vertraut sind, wenn wir sie ins Extrem treiben – die andere Seite der Kurve. Um deutlich zu machen, wie die heutige beschleunigte Kapazität des Systems das Vertraute zu etwas Extremem machen kann, konzentriere ich mich auf die Industrieländer. Insbesondere Griechenland und Spanien sind in eine Phase der aktiven wirtschaftlichen Schrumpfung eingetreten und mittlerweile an einem Punkt angelangt, den wir in den Industrieländern noch vor wenigen Jahren...

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