Große Liebe, große Herausforderung
Werde ich ihn sofort erkennen? Soll ich ihm die Hand geben, ihn umarmen oder gleich küssen? Soll ich hier sitzen bleiben oder ihm lachend entgegenlaufen? Wie sehe ich aus? Meine Nervosität am Tag unseres ersten Treffens steigert sich von Minute zu Minute – fast bis ins Unerträgliche. Ich sitze auf einer Bank im Thuner Bahnhof, bin nervös, rastlos, innerlich aufgewühlt, versuche aber, möglichst ruhig zu wirken, während ich die Menschenmenge wie mit einem Radar absuche. Mehr als zwei Jahre lang haben wir uns zahllose E-Mails geschrieben, nun werden wir uns zum ersten Mal sehen. Der Funke zwischen Reno und mir ist irgendwann zwischen »Posteingang« und »Gesendet« gesprungen – je mehr ich von ihm erfuhr, desto intensiver fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Dass wir uns endlich treffen, erscheint mir surreal.
Plötzlich entdecke ich einen schwarzen Wuschelkopf. Dieser lässige, wild aussehende Mann sticht aus der Menge heraus, irgendwie passt er überhaupt nicht ins Bild und sieht aus, als wäre er am falschen Ort ausgestiegen. Er ist kleiner und dünner, als ich ihn mir vorgestellt habe; ich hatte einen Bären von einem Mann erwartet! Er sieht mich, lacht, wir laufen uns entgegen und schließen uns in die Arme. Eine wohltuende Vertrautheit vertreibt meine Aufregung innert Sekunden. In den ersten zwei Tagen, die wir miteinander verbringen, verwandeln wir uns in »Lovebirds«. Wir sind über beide Ohren ineinander verliebt; schon der Gang zur Toilette fühlt sich wie eine Trennung an, die Tage vergehen wie im Flug. Dann muss Reno wieder weg, um in Zürich seine Vortragsreihe zu beenden; auf mich wartet meine Arbeit als medizinische Praxisassistentin. Noch ahne ich nicht, dass dieser Mann zu meiner großen Liebe – und gleichzeitig zu meiner größten Herausforderung werden wird. In der Folge explodiert die Punktesammlung auf unseren Air-Miles-Konten. Entweder reise ich zu Reno nach Kanada oder er zu mir in die Schweiz. Wir leben wie Zigeuner. 2008 lerne ich Isha kennen, Renos damals achtjährige Tochter. Ich erinnere mich noch gut, wie sie bei ihrer Zürcher Großmutter Claire unter dem Türrahmen stand, als wir uns zum ersten Mal sahen. Durch Renos Erzählungen wussten wir bereits viel voneinander.
Zwei Monate nach unserem Treffen zeigt mir Reno in Alaska meine ersten Bären. Wir paddeln mit den Kajaks über einen fünf Kilometer breiten Meeresarm in eine Bucht. Lange bevor wir mit unseren Plastikbooten das Ufer erreichen, halten wir Ausschau nach Lachs fischenden Bären und müssen nicht lange warten. Das Wasser spritzt auf, wenn die mächtigen Tiere ihrer glitschigen Beute nachjagen. Ich bin beeindruckt von ihrer Geschicklichkeit, Kraft und Schnelligkeit. Reno weiß unglaublich viel über sie zu erzählen. Einige Bären sind talentierte Fischer und fangen ihren Lachs innert kürzester Zeit, andere verschwenden dabei so viel Energie, dass man sich wünschte, sie würden grad einem Walfisch begegnen.
Wir ziehen unsere Kajaks weit an Land, denn zwischen Ebbe und Flut kann die Differenz bis zu sechs Metern betragen. Was jetzt noch im Trockenen steht, wird in ein paar Stunden tief unter Wasser sein. Kaum angekommen, entdecken wir einen Braunbären, der sich langsam auf uns zubewegt. Reno ermahnt mich, still zu sein, keine hastigen Bewegungen zu machen und – wichtig! – keinesfalls schreiend davonzulaufen. Wir setzen uns zwischen zwei große Steine und beobachten den Bären aufmerksam. Je näher er kommt, desto heftiger klopft es in meiner Brust. Mein Adrenalinspiegel steigt und beschert mir einen Höhenflug der Gefühle. Besser denn je kann ich mir in diesem Moment vorstellen, dass nicht jeder die Nerven behält, wenn so ein Tier direkt auf ihn zusteuert! Der Braunbär zottelt nur wenige Meter an uns vorbei, wir scheinen ihn nicht zu interessieren.
Reno zeigte mir in Alaska auf eindrückliche Weise, dass die Bären – ob jung oder alt, mit oder ohne Junge – tolerante Tiere sind. All die Märchen und Schauergeschichten, mit denen ich aufgewachsen bin, verlieren durch diese Erlebnisse ihre prägende Wirkung. Nach einigen weiteren positiven Begegnungen traue ich mir den Weg von unserer abgelegenen Hütte durch den märchenhaften Regenwald bis ins drei Kilometer entfernte Dorf auch ohne Renos Begleitung zu. Ich weiß nun einigermaßen, worauf ich zu achten hätte, wenn ich einem Bären begegnen würde.
Renos Denk- und Lebensweise, seine Achtung vor den Tieren und die Wertschätzung der Natur lerne ich nicht nur auf unseren Ausflügen und Reisen kennen. Auch im Alltag spielen diese Faktoren eine wichtige Rolle. Reno träumt von Bären, liest über Bären, philosophiert über Bären, sorgt sich um die Bären, schreibt über Bären, fliegt zu den Bären, spricht über Bären, fotografiert Bären, isst wie ein Bär – und er sieht auch aus wie einer. Man könnte sagen, er sei ein Besessener. Manchmal schaue ich kritisch in den Spiegel, um zu überprüfen, ob ich mich inzwischen ebenfalls mit dem Bären-Virus angesteckt habe und mir Barthaare wachsen!
Nicht selten ergeben sich aus Renos totaler Naturverbundenheit auch Meinungsverschiedenheiten. Wenn jemand versucht, mir seine Überzeugungen aufzudrängen, bringt mich das in Rage; ich kann dann ziemlich stur reagieren. In Banff, wo wir wohnen, benutzt Reno das Auto nur selten. Er geht meist zu Fuß oder fährt mit dem Velo. In das nächste Dorf Canmore fährt er nur, wenn er unbedingt muss. Das Geschirr wäscht er genau nach seinem Wassersparplan ab. Sein grauer Pullover, den er das ganze Jahr über trägt, ist in der Zwischenzeit ziemlich löchrig – und noch immer fragt er nach Flickmöglichkeiten. Im Haus wird die Temperatur tief gehalten, um Energie zu sparen. Reno hat eine starke Vorstellung davon, wie die Dinge ablaufen sollten, während mich seine fixen Ideen auf die Palme treiben. Sie sind für mich auch eine Art Umweltverschmutzung.
Ob wir Freunde treffen oder neue Leute kennen lernen, es dauert selten lange, bis wir beim Thema Bär, Mensch und Umwelt angelangt sind. Die meisten hören sich die Geschichten staunend oder gar mit Bewunderung an. Manche sagen, sie hätten auch schon davon geträumt, ihrem geregelten und nicht selten einengenden Leben den Rücken zu kehren. Oftmals staunen sie, dass Reno überhaupt noch lebt, wo er den Bären doch dauernd so nahe kommt. Seit dem Dokumentarfilm »Die Suche nach Sky« im Schweizer Fernsehen und seinem ersten Buch »Ungezähmt« wird er in der Öffentlichkeit immer wieder angesprochen. »Ah, der Bärenmann!«, tönt es, oder: »Ich habe deinen Film gesehen!« Wir erleben das selbst in den Ferien im Ausland, was nicht immer angenehm ist. Jede Medaille hat eben auch ihre Kehrseite.
Dabei war der Weg zur Bekanntheit ziemlich beschwerlich. Bevor Reno in der Schweiz seine Vorträge hielt, fuhren wir jeweils mit unserem vollgepackten kleinen Auto von Ort zu Ort, klebten Plakate an die Wände und verteilten stapelweise Flyer. Wir gingen fest davon aus, dass die Säle voll sein würden und sogar Leute draußen bleiben müssten. Die Realität sah freilich anders aus: In Chur stand Reno vor einem Publikum, das aus sieben Personen bestand! Das war der absolute Tiefpunkt. Zu meinem Erstaunen reagierte er mit Humor auf die deprimierende Situation. Als wir wieder im Auto saßen, sagte Reno zu Isha und mir, der Bergsteiger Ueli Steck präsentiere am selben Abend im Kirchgemeindehaus seine Show, er sei gespannt, wie viele Tickets er verkauft habe. Also fuhren wir hin. Reno ging hinein, während wir müde im Auto sitzen blieben. Minuten später kam er zurück und schilderte uns niedergeschlagen, wie ihm in der Eingangshalle der tosende Applaus der zahlreichen Zuschauer entgegengeschlagen habe. Anschließend strömten Hunderte von strahlenden Besuchern aus dem Saal. Diese Erfahrung wurde zum Wendepunkt. Reno suchte die Zusammenarbeit mit Stefan Pfander vom Atelier Terra. Mit ihm produzierte er eine professionelle Full-HD-Multimedia-Show, die zu einem vollen Erfolg wurde. Von da an füllten sich die Säle.
In jener Zeit verspürte ich immer stärker den Wunsch nach einem eigenen Kind. Zum einen, weil ich bald vierzig wurde, vor allem aber auch, weil Reno diesbezüglich ein Verlangen in mir weckte, das ich vorher so nicht gekannt hatte. Das Problem war, dass sich Reno vor Jahren hatte unterbinden lassen. Er unterzog sich im Berner Inselspital einer Rückoperation, doch die Ärzte sagten, wir sollten uns nicht zu große Hoffnungen machen. Die Erfolgsquote liege nur etwa bei dreißig Prozent.
Damals liefen die Vorbereitungen für die zwei geplanten Exkursionen nach Alaska und nach Kamtschatka auf Hochtouren. Fünf Fotografen hatten Reno als Guide für die Alaskareise gebucht, um an Nahaufnahmen von Braunbären zu kommen. Vor Ort bezogen Reno und ich eine kleine, rustikale Hütte am Strand mit phänomenaler Sicht auf die Bucht. Vom Mittagstisch aus konnten wir Buckelwale beobachten. Welch ein Spektakel, als die...