Kleine Schwester Eh
Am 19. Dezember 1999 geht eine Sternschnuppe über unserem Glärnisch nieder und verzaubert den ganz gewöhnlichen Adventstag in einen der schönsten Tage unseres Lebens: Unsere Tochter Kerstin und ihr Mann Simon sind Eltern geworden. Till Noah, unser erstes Enkelkind ist da. Wir laden unseren Sohn Nils mit seiner Freundin Marielle ins Auto und machen uns sofort auf den Weg ins Spital, weil wir es kaum erwarten können, das neue Menschlein in die Arme nehmen zu dürfen. So sehr haben wir uns auf Till gefreut. Als wir ankommen, herrscht noch immer Aufregung, weil seine Kopfgröße etwas außerhalb der Norm ist. Ein Ultraschall zeigt jedoch, dass die Besorgnis unbegründet und alles in Ordnung ist. Da liegt er nun in seinem Bettchen, so zart und wunderschön, schaut uns mit großen Augen an. Innert Sekunden hat er unsere Herzen erobert, und schwups ist klar, dass wir jeden Weg mit ihm gehen werden.
Glücklich machen wir uns wieder auf den Heimweg. Heiri und ich sind jetzt stolze Großeltern und fühlen uns großartig in unserer neuen Rolle als »Meme und Pepe«. Diese Namen haben wir gewählt, weil sie so schön klingen und mich an meine Wurzeln in der französischsprachigen Westschweiz erinnern. Wieder zu Hause in unserem gelben Haus in Netstal, lassen wir die Korken knallen und feiern dieses neue Menschlein.
Schon bald kommt uns Till mit seiner Mama zum ersten Mal besuchen. Heiri holt die beiden mit dem Auto in Zürich ab. An diesem Tag tobt der Sturm Lothar durchs Land, fällt wutentbrannt Bäume, als wären sie Streichhölzer. Ich schaue besorgt zu den Wäldern hoch, die sich in unserem engen Tal an den Berghängen zu lichten beginnen, und das Wort Weltuntergang geht mir durch den Kopf. Ich bin froh, als die drei sicher bei uns ankommen. Der erste Sturm in Tills Leben ist bezwungen. Kerstin kommt von nun an jede Woche für zwei Tage zu uns, weil sie möchte, dass Till in der Großfamilie aufwächst. Meine Mutter wohnt im Hausteil neben uns, und alle zusammen genießen wir dieses Glück wie kein anderes. Der Kleine, von meiner welschen Maman liebevollst »petit monsieur«, kleiner Mann, genannt, fühlt sich schnell zu Hause bei uns und wandert vom einen Arm in den andern. Für uns Großeltern ist es selbstverständlich, dass wir Raum schaffen für ihn in unseren Lebensplänen und Agenden. Was gibt es Bereichernderes, als so ein Menschlein zu begleiten? Till kommt auch an Wochenenden und wenn Mama und Papa mal verreisen möchten. Er liebt uns genauso innig wie wir ihn.
Als er fast zwei Jahre alt ist, bekommt er eine kleine Schwester. Sie heißt Malin Naja. Ihr zweiter Name bedeutet »kleine Schwester« in der Sprache der Inuit. Er braucht Zeit, um sich wirklich darüber freuen zu können, nennt sie nur »Eh«. Aber bald wird er, der sanfte, gutmütige, filigrane Till, zu einem wunderbaren Bruder. Doch dann wird sein Schwesterchen krank, noch nicht einmal ein Jahr ist Malin da alt. Ein Arzt hatte sie geimpft, weil in der Toskana, wo wir alle zur Hochzeit meiner Nichte eingeladen sind, eine Masernepidemie umgeht. Kaum in Grosseto angekommen, bekommt Malin hohes Fieber. Sie schreit vor Schmerzen, fast ohne Unterlass. Als Kerstin mit ihr zum Arzt geht, sagt er, das Kind sei nicht mehr transportfähig, müsse umgehend ins nächste Spital. Heiri und ich sind noch auf Elba, als unser Sohn Nils anruft und mich bittet, sofort zu kommen. Weinend und voller Angst nehme ich die nächste Fähre zum Festland, wo er mich abholt und direkt in das Spital bringt. Malin schreit und wälzt sich hin und her. Wir kommen nicht zurecht in diesem Krankenhaus, dessen Betrieb und Regeln uns unbekannt sind. Unser Italienisch ist schlecht, das Pflegepersonal vielleicht auch deswegen unfreundlich und barsch. Statt uns zu erklären, wie alles funktioniert, gibt man sich abweisend und teilnahmslos gegenüber uns Ausländern. Da ist es plötzlich weg, dieses Bella Italia aus den Hochglanzprospekten, mit den lachenden, fröhlichen Menschen. Ein anderes Italien zeigt uns sein Gesicht, macht uns bestürzt und fassungslos.
Die Ärzte vermuten eine Blasenentzündung. Malin schreit weiter, und nichts kann sie beruhigen. Wir sind außer uns vor Sorge. Die Pflegenden schimpfen, weil der Alarm am Infusionsständer ständig losgeht, und verlangen, jemand von uns müsse sich ins Kinderbett legen, um die Kleine nach unten zu drücken und ruhig zu halten. Ein Albtraum. Simon und Kerstin schalten die Schweizer Rettungsflugwacht Rega ein, die sich umgehend mit dem Spital in Verbindung setzt. Das italienische Personal wird noch unfreundlicher, und wir bekommen Panik. Malin beißt sich die Zunge und die Fäustchen wund. Und wir stehen hilflos daneben, zunehmend wütend.
Dann kündigt sich endlich dieses erlösende Flugzeug mit dem weißen und dem roten Kreuz an, das die kleine Patientin auf dem Militärflugplatz bei Grosseto aufnehmen will. Nie zuvor hat es sich so großartig angefühlt, Schweizer zu sein. Das Spitalpersonal hängt Malin einfach von allen Infusionen ab und drückt sie dem Papa in die Arme. Keine Ambulanz bringt das schwer kranke, schreiende Kind zum Flugplatz, Simon und Kerstin müssen das ganz allein schaffen. Und Wegweiser gibt es auch keine. Als sie den Flugplatz endlich finden, erklärt der Militärposten, dass nun Mittagspause und das Gelände geschlossen sei. In der Gluthitze dieses Sommertags muss die verzweifelte Familie vor dem Tor auf das Eintreffen der Maschine warten. Erst die Rega-Mannschaft schafft es dann, die Menschen aufTrab zu bringen und ihnen klarzumachen, dass es hier um Leben und Tod geht. Im Flugzeug hört Malin zum ersten Mal auf zu schreien, so als würde sie spüren, dass sie jetzt in Sicherheit ist, zusammen mit ihrer unendlich erleichterten Mama und diesen liebevollen Rettern an Bord. Simon folgt den beiden mit dem Auto.
Till bleibt bei uns in der Toskana, aber unsere heile Welt hat plötzlich Risse bekommen. Trotzdem sind wir erst mal einfach erleichtert und dankbar, Malin nun im Kinderspital Zürich zu wissen. Diese Tage im Süden sind uns unvergesslich, leicht und schwer zugleich. Till ist so glücklich und zufrieden, fröhlich vor sich hinplappernd, spielt er mit seinen Plastiktieren. Er genießt die langen Sommerabende mit all den großen und kleinen Hochzeitsgästen inmitten dieser zauberhaften Bilderbuchlandschaft.
Malin schreit auch in Zürich weiter, aber die Rahmenbedingungen sind jetzt besser. Jeden Tag werden neue Untersuchungen und Abklärungen gemacht. Es dauert zwei Monate und benötigt viele Recherchen auch vonseiten Kerstins, bis die Ärzte zu dem Schluss kommen, Malin müsse, als Reaktion auf die Masernimpfung, eine Gehirnentzündung haben. Eine Therapie gibt es dafür nicht, die Schulmedizin ist am Ende. Wir können es nicht fassen, müssen Malin, angeblich austherapiert, mit nach Hause nehmen.
Aus einem blühenden Kind ist ein empfindliches Pflänzchen geworden. Malin liegt nur noch da, isst und trinkt fast nichts mehr, und jede Berührung scheint für sie eine Qual zu sein. Die Schmerzmittel schlagen kaum an. Immerhin erreicht Kerstin mit viel Hartnäckigkeit, dass der Fall offiziell als Impfschaden anerkannt wird. Die Entschädigung vom Kanton Zürich wird einen finanziellen Spielraum schaffen. Als wir das Spital verlassen, sagt uns eine Ärztin, dass die Behandlung von Impffolgen in der klassischen Homöopathie ein wichtiges Thema sei, und so holt Kerstin die kompetente Indrani Meier an Bord. Sie ist Homöopathin und übernimmt von nun an die Verantwortung für das Kind, dem die Schulmediziner nicht mehr helfen können. Sie sagt, sie habe schon geahnt, woran Malin leide, als sie sie durchs Telefon schreien gehört habe. Auf diese Art schrien nur Kinder mit Entzündungen im Gehirn. Sie ist es nun, die das durch die Impfung gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen versucht und die uns die Hoffnung gibt, dass alles wieder gut werden könnte. Daran halten wir uns fest.
Auf einem langen, unbeschreiblich beschwerlichen Weg kämpft sich Malin in ihr Kinderleben zurück. Sie ist traumatisiert vom Erlebten, ihr Urvertrauen in die Welt ist zerbrochen. Seelisch schwer verletzt, hat sie panische Angst vor Menschen. Längst musste Kerstin ihren Plan, wieder als Primarlehrerin zu arbeiten, fallen lassen. Malins Betreuung füllt die Tage und die Nächte. Ich unterstütze die junge Familie, wo ich kann, übernehme in ihrer Wohnung in Zürich immer wieder Nächte mit Malin, die sich oft nur beruhigt, wenn wir sie im Schüttstein in kaltes Wasser setzen. Es ist, als könne nur die Kühle des Wassers ihren inneren Brand löschen. Aber zunehmend stark und mutig, erobert sich dieses zarte kleine Menschlein im Zeitlupentempo einen Teil seiner verlorenen rosa Kinderwelt zurück. Irgendwann bekommt Malin einen schweren Ausschlag am ganzen Körper. Wir geraten in Panik, doch die Homöopathin wertet das als Zeichen, dass die Behandlung anschlägt. Sie ist nun fest überzeugt, dass von der Gehirnentzündung keine schweren Schäden zurückbleiben werden.
Im April 2003, nach neun Monaten voller Sorgen und Nachtwachen, aber auch der...