1 Familiengründung heute
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen rund um die Familiengründung haben sich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts so grundlegend geändert, dass wir sie von verschiedenen Seiten beleuchten sollten, um Paare besser zu verstehen. Eine besondere Spannung ergibt sich daraus, dass die äußere Familienrealität zu den verinnerlichten Familienbildern, die unbewusst oder aber auch als bewusst greifbare Vorbilder dienen, nicht mehr passen. Die Jahre vor der Familiengründung nehmen heute einen großen Zeitraum ein und haben einen lebenslaufbestimmenden Stellenwert bekommen. Daher sollen sie eigens betrachtet werden.
1.1 »Willst du mal Kinder?« Lebenserwartungen und Lebenserfahrungen vor der Familiengründung
»Mädchen, muss das denn sein, dass du jetzt hochschwanger nach China fliegst?« – »Oma, wenn Mia ihren Papa kennenlernen möchte, müssen wir jetzt fliegen«, antwortet die Enkelin, die zwei Jahre als Ingenieurin in China gearbeitet hat und dort mit einem Amerikaner liiert ist. Solche Herausforderungen kannten unsere Großeltern nicht.
Frei und ungebunden – über viele Jahre haben heute Männer und Frauen die Möglichkeit, sich individuell zu entfalten. Sie lernen, sich ihre Zeit einzuteilen, ihren Alltag autonom zu organisieren, entscheiden selbständig, mit welchen Personen sie sich umgeben. Sie studieren im Ausland oder arbeiten in weltweit agierenden Konzernen und lernen dort Menschen aus allen Kulturen der Welt kennen. Anders wie noch die Großeltern, die meist unmittelbar aus dem Elternhaus in die Ehe wechselten, haben heutige Erwachsene zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung viele Jahre vor der Familiengründung selbstbestimmt gelebt. Dieser große Freiheitsgrad wird später wichtiges Thema werden. Die in diesen Jahren erworbene Selbständigkeit wird eines Tages ein wichtiger Schutzfaktor für die Paarbeziehung und die Beziehung zum Kind sein, auch wenn diese Selbständigkeit gerade in der frühen Familienphase herbe Einbußen erfahren wird (Graf, 2002, S. 119).
Als Single vollzieht sich das Leben in der Regel zwischen zwei großen Lebensbereichen: zwischen Privatleben und Beruf. Singles wägen zwischen persönlichen und beruflichen Bedürfnissen ab und entscheiden, wie viel Zeit und Energie sie in diese beiden Lebensbereiche einbringen. Während der Beruf der Lebensraum ist, in dem Männer wie Frauen ihren Unterhalt verdienen, Verantwortung übernehmen und ihre Talente entfalten, hat der persönliche Lebensbereich in unseren Breiten vor allem Freizeitcharakter und wird mit Kontakt zu Freunden, Ausüben von Hobbys, Entdecken der Welt in Verbindung gebracht. Arbeit und Anstrengung beschränken sich für die meisten auf den Beruf, während in dieser Lebensphase das Privatleben in erster Linie der Regeneration dient. Wer lange Ausbildungs- und Studienjahre hinter sich hat, möchte, dass sich all die Mühe gelohnt hat, wodurch der berufliche Erfolg einen hohen Stellenwert erhält und sich die Familiengründung nach hinten verschiebt. Nicht nur in der Berufseinstiegsphase, sondern auch noch später stellt die sogenannte work-life-Balance für Männer und Frauen eine echte Herausforderung dar. Dabei sind, aus der Elternperspektive betrachtet, bislang »nur« zwei Lebensbereiche zu koordinieren.
Die Herkunftsfamilie, das Elternhaus, spielt als dritter Lebensbereich im frühen Erwachsenenalter meist eine nachgeordnete Rolle, gilt es doch in dieser Lebensphase, sich von ihnen abzulösen und eigene Lebenswege auszuprobieren. Wo die Eltern selbst noch aktiv im Leben stehen, können beide Generationen weitgehend unabhängig voneinander leben. Für die spätere Familiengründung ist diese Ablösung von entscheidender Bedeutung. Manche Familienforscher gehen sogar davon aus, dass junge Eltern von ihren Eltern bereits abgelöst sein sollten, bevor sie eine eigene Familie gründen (Wallerstein & Blakeslee, 1998). In meiner Beobachtung ist nur ein Teil der Ablösung vor der Familiengründung möglich, eine zweite Ablösung von den Eltern erfolgt gerade erst durch das eigene Elternwerden.
Frisch verliebt verschieben sich die Prioritäten: Die Partnerschaft nimmt plötzlich einen zeitlich wie emotional großen Raum im Leben von Mann und Frau ein, während individuelle oder auch berufliche Anliegen vorerst in den Hintergrund treten. Zumindest in den ersten Monaten gewinnt das Liebesleben Oberhand über alles andere. Nächtelange Gespräche, Zärtlichkeiten, Sex bestimmen das Leben, gemeinsame Urlaube lassen die Welt rundum vergessen, und eines Tages stellt sich die Frage: Wollen wir zusammenziehen? Vor 100 Jahren wäre diese Frage ohne vorherige Heirat undenkbar gewesen. Heute heiraten in Westdeutschland immerhin noch knapp 20 % der Paare unmittelbar vor dem Zusammenziehen, während in Ostdeutschland der Trauschein praktisch keine Rolle mehr spielt (Goldstein, Kreyenfeld, Huinink, Konietzka & Trappe, 2010).
Für die große Mehrheit ist eine »endgültige« Entscheidung füreinander, so wie das früher mit einer kirchlichen Trauung öffentlich deklariert wurde, noch in weiter Ferne. Vielmehr möchten Paare heute erst das Zusammenleben miteinander erproben, bzw. sie legen weniger Wert auf die Institution der Ehe, da das unverheiratete Zusammenleben heute nicht mehr sanktioniert wird.
So leben zwei Erwachsene weitgehend autonom zusammen, die sich ihre beiden bisherigen Lebensbereiche, den persönlichen Freundeskreis, die Hobbys und Interessen, aber auch die (Vollzeit-)Berufstätigkeit erhalten. Darüber hinaus steht ihnen die Paarbeziehung als zweites Regenerationsfeld zur Verfügung, in dem sie sich über die tagsüber gemachten Erfahrungen austauschen, miteinander entspannen und Lust erleben können. Sie haben Zeit, einander kennenzulernen, und finden heraus, ob sie einander vertrauen und sich gegenseitig unterstützen können. Wo dies gelingt, vertieft es die Beziehung zueinander. Zeitlich versetzt, doch nicht minder wichtig ist, dass sie lernen, ihre unterschiedlichen Ansichten, Werte und Vorlieben zu respektieren und sich einander individuelle Freiräume zuzugestehen.
Das eigene Elternhaus rückt meist noch ein Stück weiter weg, denn Rückversicherung, Trost und Nestwärme bietet jetzt der Partner bzw. die Partnerin.
In längeren Beziehungen mögen sich schon erste Auseinandersetzungen mit dem Elternhaus ergeben. Fragen, ob man nicht doch das eine oder andere Beziehungsmuster oder gar große Teile des Partnerschaftskonzepts der eigenen Eltern verinnerlicht hat, werden in Konfliktgesprächen Thema, doch längst nicht mit der Brisanz, die nach der Familiengründung ins Spiel kommen wird, wenn ein Paar gemeinsam Kinder erzieht.
Viele Erwachsene gestalten heute über viele Jahre ihr Leben im Dreieck zwischen persönlichem Freiraum, Beruf und Paarbeziehung. Mal gewollt, mal eher unfreiwillig unterbrechen partnerschaftsfreie Zeiten diese Lebensphase. Die langen Jahre der Paarbeziehung ohne Familiengründung finden nicht zwangsläufig mit ein und demselben Partner bzw. ein und derselben Partnerin statt. Nicht selten brechen Beziehungen genau zu dem Zeitpunkt, zu dem der Kinderwunsch Thema und von beiden Partnern gegensätzlich beantwortet wird.
Familiengründung ist heute nicht mehr selbstverständlich. Double income no kids – vor hundert Jahren noch war diese Lebensform so gut wie unbekannt. Sie war Paaren »vorbehalten«, die keine Kinder bekommen konnten. Entweder war jemand alleinstehend und blieb dann im Elternhaus, oder aber mit der Paarbeziehung ergab sich fast automatisch die Familiengründung, der die Eheschließung voranging – oder möglichst schnell folgte. Die Zahl der Kinderlosen hat sich in den letzten dreißig Jahren mehr als verdoppelt. Während in der Altersgruppe der heute 50- bis 75-Jährigen nur 12 % kinderlos geblieben sind, haben derzeit in der Gruppe der 35- bis 39-Jährigen 26 % keine Kinder. Von den über 40-jährigen Frauen mit hoher Bildung ist sogar knapp ein Drittel kinderlos (Pötzsch, 2011).
Was sich zunächst als nüchterne Zahlen darstellt, hat vielfältige gesellschaftliche Auswirkungen. Es beeinflusst den Lebensalltag, verändert gesellschaftliche Werte und spiegelt sich in Wirklichkeitskonstruktionen wider. Dazu ein Beispiel:
In der Zeitschrift »managerseminare«, einem Magazin für Führungskräfte und Selbstständige, widmete sich 2001 eine ganze Ausgabe der sogenannten work-life-balance. Das Heft trug den Titel: »Die Bausteine des Lebens«. Auf der Titelseite sind aus Buchstaben des Scrabble-Spiels bereits vier Worte gelegt: KARRIERE, FREIZEIT, BERUF, LIEBE. Einzelne Buchstaben liegen noch lose, ein fünftes Wort soll als weiterer »Baustein des Lebens« gebildet werden, der mit dem F des Wortes BERUF beginnt. F wie …? Was vermuten Sie? F wie FREUNDE wird gerade aus den restlichen Buchstaben gebildet! Die Bausteine des Lebens sind hier wie auch im Leitartikel des Magazins (Stoessel, 2001) die Lebensbereiche des Singles bzw. der sogenannten Dinkies (double income no kids) FAMILIE, KINDER, ZUKUNFT, Begriffe, die sich genauso ins Wörterspiel hätten einfügen lassen, fehlen! Ob diese über zehn Jahre alte Zeitschrift schon veraltet ist? Wohl kaum. Nach wie vor liegt die Geburtenrate bei knapp 1,4 – was zur Folge hat, dass jede nachfolgende Generation um etwa ein Drittel kleiner ist als ihre Elterngeneration (Seiffke-Krenke & Schneider, 2012). 1960 lag die Geburtenrate noch bei 2,5 Kindern.
Angesichts des demografischen Wandels unternimmt der Staat viel, um Anreize zur Familiengründung zu schaffen. Die Auslegung der Statistik des Familienministeriums klingt wie ein Hoffungsschimmer für alle, die sich nach mehr Kindern von gebildeten...