Kapitel 2
Weniger ist (manchmal) mehr
Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht noch einfacher.
Albert Einstein22
Die Kinderstation einer führenden US-amerikanischen Universitätsklinik gehört zu den besten im Land. Vor Jahren wurde dort ein einundzwanzig Monate alter Junge eingeliefert – nennen wir ihn Kevin.23 Fast nichts war so, wie es sein sollte: Er war blass und verschlossen, hatte für sein Alter dramatisches Untergewicht, wollte nichts essen und litt unter ständigen Ohrentzündungen. Als Kevin sieben Monate alt war, verließ der Vater die Familie. Die Mutter, die häufig »um die Häuser zog«, versäumte es gelegentlich, ihn zu füttern, oder stopfte ihm unter Zwang Babybrei aus Gläsern und Kartoffelchips in den Mund. Ein junger Arzt nahm sich des Falls an; nur mühsam konnte er sich dazu durchringen, diesem ausgemergelten Kind Blut abzunehmen, und bemerkte, dass es die Nahrungsaufnahme verweigerte, nachdem es mit Nadeln gestochen worden war. Intuitiv schränkte er alle invasiven Untersuchungen auf ein Minimum ein und versuchte stattdessen, ihm möglichst viel Fürsorge angedeihen zu lassen. Der Junge begann zu essen und erholte sich.
Doch der junge Arzt stieß bei seinen Vorgesetzten auf wenig Verständnis für seine unkonventionellen Bemühungen. Schließlich konnte er den diagnostischen Apparat nicht mehr aufhalten, und die Verantwortung für Kevin wurde auf einen Schwarm von Spezialisten aufgeteilt, von denen jeder bestrebt war, seine ganz besondere Diagnosetechnik anzuwenden. Nach ihrem Verständnis ärztlicher Fürsorge hatten sie die Aufgabe, die Ursache für die Krankheit des kleinen Jungen herauszufinden. Man dürfe kein Risiko eingehen:»Wenn er ohne Diagnose stirbt, haben wir versagt.« Im Lauf der folgenden neun Wochen wurde Kevin einer ganzen Reihe von Untersuchungen unterzogen: Computertomografie, Barium-Breischluck, zahlreiche Gewebeproben und Blutkulturen, sechs Lumbalpunktionen, Ultraschall und Dutzende anderer klinischer Tests. Was brachten die Untersuchungen? Nichts Eindeutiges. Doch unter diesem Bombardement von Untersuchungen hörte Kevin wieder auf zu essen. Den Folgen von Entzündungen, Unterernährung und Untersuchungen wirkten die Spezialisten mit intravenöser Ernährung durch Dauertropf und Blutinfusionen entgegen. Vor einer weiteren angesetzten Untersuchung, einer Biopsie der Thymusdrüse, starb Kevin. Die Ärzte setzten ihre Tests bei der Autopsie fort, in der Hoffnung, die verborgene Ursache zu finden. Ein Assistenzarzt meinte nach dem Tod des Jungen: »Wissen Sie, einmal hing er sogar an drei Schläuchen gleichzeitig! Um herauszufinden, was mit ihm los war, haben wir keine Untersuchung ausgelassen. Er starb trotz allem, was wir getan haben.«
Vom Nutzen des Vergessens
Eines Tages in den 1920er-Jahren traf sich der Chefredakteur einer russischen Zeitung wie jeden Morgen zu einer Besprechung mit seinen Mitarbeitern. Er las die für diesen Tag anstehenden Aufgaben vor – eine längere Liste von Ereignissen und Orten, über die berichtet werden sollte, Adressen und Anweisungen. Während er sprach, fiel ihm ein frisch angestellter Reporter auf, der sich keine Notizen machte. Der Chefredakteur wollte ihn gerade zurechtweisen in der Annahme, dass er nicht aufpasste, als dieser begann, die ganze Auftragsliste Wort für Wort zu wiederholen. Der Reporter hieß Schereschewski. Kurz nach diesem Ereignis begann der russische Psychologe Alexander R. Luria, Schereschewskis fantastisches Gedächtnis zu untersuchen. Luria las ihm bis zu dreißig Wörter, Zahlen oder Buchstaben vor und forderte Schereschewski auf, sie zu wiederholen. Während ein normaler Mensch rund sieben (plus/minus zwei) wiederholen kann, merkte sich der Reporter alle dreißig. Luria erhöhte die Zahl auf fünfzig, dann auf siebzig, doch der Reporter wiederholte alle einwandfrei und konnte sie sogar in umgekehrter Reihenfolge wiedergeben. Luria untersuchte ihn über drei Jahrzehnte hinweg, ohne an die Grenzen dieses Gedächtnisses zu stoßen. Er forderte Schereschewski rund fünfzehn Jahre nach ihrer ersten Begegnung auf, die Sequenz von Wörtern, Zahlen und Buchstaben zu reproduzieren, die er ihm damals genannt hatte. Schereschewski schloss die Augen und rief sich die Situation ins Gedächtnis: Sie hatten in Lurias Wohnung gesessen; Luria hatte einen grauen Anzug getragen, in einem Schaukelstuhl gesessen und ihm die Folge vorgelesen. Nach all diesen Jahren sagte ihm Schereschewski dann die Sequenz exakt auf. Das war zu diesem Zeitpunkt wirklich eine ganz außerordentliche Leistung, denn inzwischen war Schereschewski ein berühmter Gedächtniskünstler geworden, der öffentlich auftrat und sich in jeder Vorstellung viele Fakten einprägte und sie wiederholte – insgesamt eine ungeheure Informationsmenge, die eigentlich seine alten Erinnerungen hätte überlagern müssen. Warum hat Mutter Natur ihm ein vollkommenes Gedächtnis gegeben und nicht Ihnen oder mir?
Solch ein unbegrenztes Gedächtnis hat auch seine Schattenseiten. Schereschewski konnte praktisch alles, was ihm jemals zugestoßen war, detailliert aus dem Gedächtnis abrufen – die wichtigen wie die trivialen Erlebnisse. Nur eines konnte sein brillantes Gedächtnis nicht – vergessen. Beispielsweise wurde es von Bildern aus der Kindheit überflutet, die ihm Kummer und Leid verursachten. Er war unfähig, mit einem Gedächtnis, das mit Einzelheiten vollgestopft war, abstrakt zu denken. Er klagte darüber, dass er Schwierigkeiten habe, Gesichter wiederzuerkennen. »Die Gesichter der Menschen verändern sich ständig«, sagte er, »das wechselnde Mienenspiel verwirrt mich und macht es schwer, sich an Gesichter zu erinnern.«24 Wenn er eine Geschichte las, konnte er sie Wort für Wort wiedergeben, doch wenn man ihn aufforderte, den Kern dieser Geschichte zusammenzufassen, hatte er zu kämpfen. Im Allgemeinen stand Schereschewski auf verlorenem Posten, wenn es eine Aufgabe erforderte, über die gegebenen Informationen hinauszugehen, etwa Metaphern, Gedichte, Synonyme und Homonyme zu verstehen. Einzelheiten, die andere Menschen einfach vergaßen, setzten sich in seinem Gedächtnis fest und erschwerten es ihm, aus dem Strom der Bilder und Empfindungen auf eine höhere Ebene des Bewusstseins davon zu gelangen, was das Leben letztlich ausmacht: Wesen, Abstraktion, Bedeutung. Mehr Gedächtnis ist also nicht immer besser.
In der Nachfolge von Luria argumentieren prominente Gedächtnisforscher seither, dass die »Sünden« unseres Gedächtnisses notwendige Nebenprodukte eines Systems seien, das an die Erfordernisse unserer jeweiligen Umgebung angepasst sei.25 Nach dieser Auffassung verhindert das Vergessen, dass die bloße Menge der Einzelheiten den Abruf der wenigen relevanten Erfahrungen verlangsamt und die Fähigkeit unseres Verstands beeinträchtigt, zu abstrahieren, zu schlussfolgern und zu lernen. Schon Freud war ein früher Vertreter der These vom adaptiven Vergessen. Durch Verdrängung von Erinnerungen, die unangenehme emotionale Eigenschaften beinhalten oder beim Abruf aus dem Gedächtnis negative Emotionen auslösen, könne man, so Freud, kurzfristige psychologische Vorteile erlangen, wenn auch die langfristigen Kosten der Verdrängung schmerzlich und schädlich seien. Der Psychologe William James vertrat eine ähnliche Ansicht, als er schrieb: »Wenn wir uns an alles erinnerten, erginge es uns in den meisten Situationen ebenso schlecht, wie wenn wir gar nichts erinnerten.«26 Ein gutes Gedächtnis arbeitet funktional und stellt Vermutungen darüber an, was als Nächstes erinnert werden muss. Das gleiche Prinzip wird im Dateimenü vieler Computerprogramme verwendet, etwa bei Microsoft Word, wo nur die zuletzt aufgerufenen Dateien aufgelistet werden. Word setzt darauf, dass die Dateien, welche die Nutzer zuletzt geöffnet haben, auch die Dateien sind, die sie bald wieder aufrufen werden.
Daraus ergibt sich jedoch nicht notwendig der Schluss, dass weniger Gedächtnis immer besser ist als ein vollkommenes Gedächtnis oder umgekehrt. Die Frage ist, welche Strukturen der jeweiligen Umgebung ein nicht ganz vollkommenes Gedächtnis wünschenswert machen und welche Strukturen ein vollkommenes Gedächtnis begünstigen. Ich nenne das eine ökologische Frage, weil es darum geht, wie die Kognition an ihre Umwelt angepasst ist. Wie sähe eine Welt aus, in der ein vollkommenes Gedächtnis von Vorteil ist? Eine solche Welt war diejenige des professionellen Gedächtniskünstlers, in den sich Schereschewski verwandelt hatte, wo man keinerlei Abstraktion von ihm verlangte. Philosophisch wäre eine Welt, in der das vollkommene Gedächtnis seinen Platz hätte, eine absolut vorhersagbare ohne jegliche Ungewissheit.
Abbildung 2.1: Das Word-Programm bewahrt nur die zuletzt geöffneten Dateien im Speicher und »vergisst« die anderen. Das sorgt im Allgemeinen dafür, dass wir rascher finden, was wir suchen.
Besser klein anfangen
Die Welt des adaptiven Vergessens ist größer, als wir denken. Die Fähigkeit zu vergessen kann nicht nur Menschen mit schmerzlichen und traumatischen Erfahrungen Erleichterung verschaffen, sondern scheint auch für den Spracherwerb von Kindern von wesentlicher Bedeutung zu sein. Als der Kognitionswissenschaftler Jeffrey Elman ein großes neuronales Netz mit einem umfangreichen Speicher dazu bringen wollte, die grammatischen Beziehungen in einer Stichprobe von mehreren tausend Sätzen zu lernen, geriet das Netz ins Stocken.27 Statt sich für das nahe liegende Vorgehen zu entscheiden, das Problem durch Erweiterung der Speicherkapazität zu lösen,...