PROLOG
März 2017
Als Kind hatte ich einfache Ziele. Ich wollte einen Hund haben. Ich wollte ein Haus mit einer Treppe – zwei Stockwerke für eine Familie. Und aus irgendeinem Grund wünschte ich mir einen viertürigen Kombi statt des zweitürigen Buick, der der ganze Stolz meines Vaters war. Ich erzählte allen, dass ich Kinderärztin werden wollte, wenn ich groß war. Warum? Weil ich gern mit kleinen Kindern zusammen war und außerdem schnell heraushatte, dass Erwachsene so etwas gerne hörten. Ach, Ärztin! Das ist aber eine prima Entscheidung! Damals hatte ich Zöpfe, kommandierte meinen großen Bruder herum und schaffte es, immer und unter allen Umständen, in der Schule die besten Noten zu bekommen. Ich war ehrgeizig, obwohl ich nicht so genau wusste, was ich dabei eigentlich im Sinn hatte. Inzwischen glaube ich, dass Erwachsene einem Kind kaum eine sinnlosere Frage stellen können als: Was willst du mal werden, wenn du groß bist? Als ob das Werden ein Ende hätte. Als ob man irgendwann etwas geworden ist, und damit hat es sich dann.
Bisher wurde ich in meinem Leben Anwältin. Ich wurde Vizepräsidentin eines Krankenhauses und habe eine gemeinnützige Organisation geleitet, die junge Menschen dabei unterstützt, sich eine erfüllende Karriere aufzubauen. Ich war eine schwarze Studentin aus der Arbeiterschicht an einem renommierten, mehrheitlich weißen College. Ich war oft die einzige Frau, die einzige Afroamerikanerin, in den unterschiedlichsten Räumen. Ich war Braut, gestresste junge Mutter, von Trauer zerrissene Tochter. Und bis vor Kurzem war ich die First Lady der Vereinigten Staaten von Amerika – ein Beruf, der offiziell gar kein Beruf ist, mir aber trotzdem ein Podium geboten hat, wie ich es mir nie hätte träumen lassen. Er hat mich herausgefordert, mich demütig gemacht, mich emporgehoben und niedergestreckt, nicht selten sogar beides gleichzeitig. Ich fange gerade erst an, all das zu verarbeiten, was in den vergangenen Jahren geschehen ist – angefangen mit dem Moment im Jahr 2006, als mein Mann erstmals von einer Präsidentschaftskandidatur zu sprechen begann, bis hin zu dem kalten Morgen im letzten Winter, als ich mit Melania Trump in eine Limousine stieg, um sie zur Amtseinführung ihres Mannes zu begleiten. Was für ein Ritt!
Als First Lady erlebt man Amerika in all seinen Extremen. Ich war bei Fundraising-Veranstaltungen in Privathäusern, die eher an Kunstmuseen erinnern; Häuser, deren Bewohner Badewannen aus Edelstein besitzen. Ich habe Familien besucht, die durch Hurrikan Katrina alles verloren hatten und Tränen der Dankbarkeit weinten, wenn ihnen wenigstens noch ein funktionsfähiger Kühlschrank und Herd geblieben war. Ich habe Menschen kennengelernt, die ich oberflächlich und scheinheilig fand, und andere – Lehrer, Ehepartner von Militärangehörigen und so viele andere –, die von ganz erstaunlicher Tiefe und Stärke waren. Und ich bin Kindern begegnet – zahllosen Kindern, überall auf der Welt –, die mich zum Lachen gebracht, mich mit Hoffnung erfüllt haben und wunderbarerweise meine Stellung einfach vergaßen, sobald wir anfingen, gemeinsam in der Erde eines Gartens zu graben.
Seitdem ich zögerlich in die Öffentlichkeit trat, hat man mich als mächtigste Frau der Welt hochgehalten und gleichzeitig als »zornige schwarze Frau« niedergemacht. Am liebsten hätte ich meine Kritiker gefragt, welcher Teil dieser Formulierung eigentlich das Entscheidende für sie war: »zornig«, »schwarz« oder »Frau«? Ich habe für Fotos mit Leuten gelächelt, die meinen Mann im Fernsehen aufs Übelste beschimpfen, sich aber trotzdem noch ein gerahmtes Andenken auf den Kaminsims stellen wollen. Ich habe von den Untiefen des Internets gehört, wo alles an mir in Zweifel gezogen wird, bis hin zu der Frage, ob ich überhaupt eine Frau oder nicht doch ein Mann bin. Ein amtierender Kongressabgeordneter hat sich über meinen Hintern lustig gemacht. Ich war gekränkt. Ich war stinksauer. Aber meistens habe ich mich einfach bemüht, über solche Dinge nur zu lachen.
Es gibt noch so vieles, was ich nicht weiß, über Amerika, über das Leben, darüber, was die Zukunft bringen wird. Aber mich selbst kenne ich. Mein Vater Fraser hat mir beigebracht, hart zu arbeiten, viel zu lachen und immer Wort zu halten. Meine Mutter Marian hat mir gezeigt, wie ich mit meinem eigenen Kopf denken und meine Stimme einsetzen kann. Gemeinsam haben sie mir in unserer beengten Wohnung in der South Side von Chicago dazu verholfen, den Wert unserer Geschichte, meiner Geschichte und der größeren Geschichte unseres Landes zu erkennen. Selbst dann, wenn sie weder schön noch perfekt ist. Selbst wenn sie realer ist, als einem eigentlich lieb wäre. Denn die eigene Geschichte ist das, was wir haben, was wir immer haben werden. Wir müssen sie für uns beanspruchen.
Ich habe acht Jahre lang im Weißen Haus gelebt, einem Ort, der mehr Treppen hat, als ich zählen kann – und dazu noch Aufzüge, eine Kegelbahn und einen hauseigenen Floristen. Ich schlief in einem Bett, das mit italienischer Bettwäsche bezogen war. Unsere Mahlzeiten wurden von einem Team erstklassiger Köche zubereitet und von Fachleuten serviert, die besser ausgebildet sind als das Personal in irgendeinem Fünf-Sterne-Restaurant oder -Hotel. Agenten des Secret Service – bewaffnet, mit Knopf im Ohr und mit betont ausdrucksloser Miene – standen vor unseren Türen und gaben sich alle Mühe, sich aus unserem Familienleben herauszuhalten. Irgendwann hatten wir uns mehr oder weniger daran gewöhnt – an die eigentümliche Pracht unseres neuen Zuhauses und auch an die ständige stumme Gegenwart anderer.
Das Weiße Haus ist der Ort, an dem unsere Töchter auf den Fluren Ball spielten und auf dem South Lawn, dem großen Rasen südlich des Hauses, auf Bäume kletterten. Es ist der Ort, an dem Barack bis spät in die Nacht im Treaty Room über Lageberichten und Redeentwürfen brütete, und es ist auch der Ort, an dem Sunny, einer unserer Hunde, hin und wieder auf den Teppich kackte. Ich konnte auf dem Truman Balcony stehen und den Touristen dabei zuschauen, wie sie mit ihren Selfie-Sticks posierten, durch den eisernen Zaun spähten und zu erkennen versuchten, was dahinter wohl so vor sich ging. Es gab Tage, da verursachte es mir Beklemmungen, dass wir die Fenster aus Sicherheitsgründen immer geschlossen halten mussten, dass ich nicht einfach ohne großes Brimborium kurz frische Luft schnappen konnte. Und dann wieder gab es Zeiten, da erfüllten mich die weißen Magnolien, die draußen blühten, der emsige Alltag des Regierungsbetriebs und die eindrucksvollen militärischen Begrüßungszeremonien mit tiefer Ehrfurcht. Es gab Tage, Wochen und Monate, da hasste ich die Politik regelrecht. Und es gab Momente, da war ich von der Schönheit dieses Landes und seiner Menschen derart überwältigt, dass mir die Worte fehlten.
Dann war es vorbei. Obwohl man weiß, dass dieser Tag kommen wird, obwohl die vorangehenden Wochen von einem emotionalen Abschied nach dem anderen erfüllt sind, rauscht der Tag selbst einfach so vorbei. Eine Hand wird auf die Bibel gelegt; ein Eid wird gesprochen. Die Möbel des einen Präsidenten werden ein-, die des anderen ausgeräumt. Innerhalb weniger Stunden werden Schränke geleert und wieder neu gefüllt. Und einfach so ruhen plötzlich neue Köpfe auf neuen Kissen – neue Temperamente, neue Träume. Und wenn es dann vorbei ist, wenn man zum letzten Mal aus der Tür der berühmtesten Adresse der Welt getreten ist, muss man in vielerlei Hinsicht wieder zu sich selbst finden.
Darum möchte ich mit einem kleinen Erlebnis beginnen, das noch gar nicht lange zurückliegt. Ich war daheim, in dem roten Backsteinhaus, das wir kurz zuvor bezogen hatten. Unser neues Haus liegt etwa zwei Meilen von unserem alten entfernt, in einer ruhigen Straße inmitten einer Wohngegend. Wir sind noch dabei, uns einzurichten. Im Wohnzimmer sind die Möbel genauso wie vorher im Weißen Haus angeordnet. Überall haben wir Andenken verteilt, die uns daran erinnern sollen, dass das alles auch wirklich passiert ist: Fotos von unseren Familienurlauben in Camp David, die handgetöpferten Gefäße, die ich von der Abschlussklasse einer Schule für amerikanische Ureinwohner geschenkt bekommen habe, ein von Nelson Mandela signiertes Buch. Das Seltsame an diesem Abend war, dass alle fort waren. Barack war auf Reisen. Sasha war mit Freundinnen unterwegs. Malia lebt und arbeitet inzwischen in New York und verbrachte gerade die letzten Wochen ihres gap years, einer Art Auszeit vor dem Beginn des Studiums. Ich war ganz allein mit unseren beiden Hunden und einem stillen, leeren Haus; etwas, das ich seit acht Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Und ich war hungrig. Gefolgt von den Hunden ging ich aus dem Schlafzimmer die Treppe hinunter. In der Küche angekommen öffnete ich die Tür des Kühlschranks. Ich nahm eine Packung Toast heraus und steckte zwei Scheiben davon in den Toaster. Dann machte ich den Schrank auf und holte mir einen Teller. Mir ist klar, wie seltsam sich das anhört, aber mir selbst einen Teller aus dem Küchenschrank zu nehmen, ohne dass irgendwer darauf beharrt, ihn für mich zu holen, und dann allein neben dem Toaster zu stehen und zu warten, bis die Scheiben braun sind, kommt mir wie die größtmögliche Wiederannäherung in mein altes Leben vor. Vielleicht ist es aber auch mein neues Leben, das sich allmählich ankündigt.
Am Ende beließ ich es nicht beim Toast – ich machte mir einen Käsetoast, legte die Brotscheiben in die Mikrowelle und ließ eine dicke Schicht sämigen Cheddarkäse dazwischen zerschmelzen. Dann ging ich mit meinem Teller in den Garten hinaus. Ich brauchte niemandem zu sagen, wo ich hinging. Ich ging einfach....