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Bedeutung und Funktion des Buches in literarischen Dystopien

Exemplarisch anhand George Orwells Nineteen Eighty-Four

AutorDavid Richter
VerlagMainzer Institut für Buchwissenschaft
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl51 Seiten
ISBN9783945883198
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
David Richter stellt das Medium Buch und dessen gesellschaftlichen Stellenwert in den Mittelpunkt seiner Bachelorarbeit. Dabei nutzt er als Zugangsweise die literarische Dystopie, die aufgrund ihres appellierenden und extrapolierenden Charakters interessante Rückschlüsse auf ihre jeweilige Gegenwart zulässt. Exemplarisch analysiert er anhand George Orwells Nineteen Eighty-Four die zentrale Rolle des Informationsmediums Buch in der fiktionalen Welt des Romans, sowie der zeitgenössischen Welt des Autors. Entscheidende Funktionen werden mittels Aleida und Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses aufgeschlüsselt. Die aufgezeigten Konsequenzen des Missbrauchs und der Monopolisierung - insbesondere für das Speichergedächtnis - verdeutlichen hierbei die Relevanz des Mediums Buch, auch oder gerade im 21. Jahrhundert. Diese Arbeit ist Teil der Reihe Initialen, in deren Rahmen herausragende Abschlussarbeiten der Mainzer Buchwissenschaft veröffentlicht werden.

David Richter, 1987 in Kaiserslautern geboren, studierte Buchwissenschaft und Latein an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Mit seiner Arbeit zur Bedeutung und Funktion des Buches in literarischen Dystopien schloss er 2015 mit einem Bachelor of Arts ab. Vor dem Studium arbeitete er in einem Jugendzentrum und sammelte in der Buchbranche durch kürzere Praktika erste Erfahrungen. Begleitend zu seinem Studium absolvierte er ein längeres Praktikum im Archiv und in der Bibliothek des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Seit 2015 studiert er in Mainz den Masterstudiengang Buchwissenschaft und vertieft sein praktisches Wissen in einem auf Archäologie, Kunst und Geschichte spezialisierten Mainzer Verlag.

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Leseprobe
2Literarische Dystopien Nineteen Eighty-Four ist einer ganz bestimmten Gattung zuzurechnen, über deren Funktionen Aussagen über das Medium Buch in einem besonderen Licht erscheinen. Daher lohnt es, sich zuallererst diesem Genre zu nähern. Orwell selbst verortet Nineteen Eighty-Four in einem Brief vom Mai 1947 im Bereich der »fantasy, but in the form of a naturalistic novel.«[16] In einem weiteren Brief, geschrieben im Februar 1949, bezeichnet er seinen Roman dann als Utopie,[17] wohl in der Tradition seiner literarischen Vorbilder Herbert George Wells When the Sleeper Wakes (1899), dem er 1940 einen Artikel widmete, und Evgenij Zamjatins Wir (1920), das er für eine Januar-Ausgabe der Tribune von 1946 rezensierte.[18] Nach einer Jahrzehnte zurückreichenden Kette der Gattungsdifferenzierung wird heutzutage Orwells Buch der Dystopie zugerechnet. Doch egal unter welchem Begriff, Nineteen Eighty-Four galt stets als »Paradigma«[19] jener Literaturform. Eine im deutschen Sprachraum erste Annäherung an eine von der Utopie unterschiedene Form unternahm Schulte Herbrüggen. Er setzte die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert als Grenzmarke eines Wandels von einem Fortschrittoptimismus hin zu einem Entwicklungspessimismus, der sich auch in der Literatur bemerkbar machte: »Die große Utopie welkt dahin und verkümmert; das 20. Jahrhundert führt eine neue Epoche herauf.«[20] In dieser sah er die Anti-Utopie, wie er jene neue Form nannte, analog zur Utopie »mit den verlängerten Fluchtlinien der eigenen Gegenwart«[21] zeichnen, jedoch »vom Wunschtraum zum Alptraum«[22] gewandelt. Neben Jonathan Swift als Wegbereiter gelten heutzutage vier Autoren als Begründer dieser Ausformung: Fedor Dostoevskij, Herbert George Wells, Edward Morgan Forster und Evgenij Zamjatin. Dessen Roman Wir (1920) wird, ebenso wie Aldous Huxleys Brave New World (1932) und Orwells Nineteen Eighty-Four (1949), als klassischer Vertreter des Genres bezeichnet. Aus diesen Romanen lassen sich prinzipielle Themen und Motive, gerade in Gegenüberstellung zur Utopie, ableiten. So stehen einem Fortschrittsoptimismus ein -pessimismus, der Vernunft die Irrationalität, dem besseren der eingeschränkte und unterdrückte Mensch, der klaren die erzwungene hierarchische Ordnung, der säkularisierten die von einer Ersatzreligion abhängige Gesellschaft, einer Statik eine Stagnation, den Wächtern die Überwachung sowie einem idealen kollektivistischen Staat eine Betonung eines entindividualisierten Individuums ohne Privatsphäre - das erste Hauptthema - gegenüber. Weitere für die Utopie typische Konzepte werden in ihre Negativität verlängert, was sich insbesondere am Umgang mit der Vergangenheit zeigt. Die in der Utopie vorzufindende völlige Abkehr von jener aufgrund einer empfundenen Belastung, wird als bedrohlicher Verlust von Kultur, Tradition und Moral weitergedacht. Als zweites Hauptthema wird die Vergangenheit daher vielmehr als Bindeglied und Symbol betont, in die der Protagonist seine Hoffnungen gegen den vergangenheitstilgenden Staat setzt. Auch die als eher kulturfeindlich empfundene Haltung der Utopie findet im passiven Konsum und im fehlenden kritischen Nachdenken ihre Übersteigerung. Ein weiterer bewusst gebildeter Kontrast ist das Thema Natur. Steht ihr die Utopie häufig feindlich gegenüber, setzt die neue Form sie gerne in der Funktion als Fenster in eine bessere Welt ein. Einzig das dritte Hauptthema, die Sprache, findet kein Pendant. Allerdings erfüllt sie auch eher die Funktion eines Instruments, mit dessen Hilfe der Staat in der Lage ist, die beiden anderen Hauptthemen, also Entindividualisierung und Vergangenheitskontrolle, umzusetzen.[23] Jene sich also seit dem späten 19. Jahrhundert langsam herausformende »neue Spielart«[24] klassifizierte Schulte Herbrüggen als Unterart einer Großgattung Utopie von More bis Orwell, da er in ihr seine zuvor für die Utopie geltend gemachten drei Hauptprinzipien - Isolation, Selektion, Idealität[25] - in leicht abgeänderter Form wiedererkannte. An die Stelle der optimistischen Bejahung träte lediglich die pessimistische Verneinung.[26] Dieses simple Schwarzweißbild stellte sich jedoch im Versuch, jene neue Form genauer zu fassen, als äußerst problematisch heraus und sah sich im weiteren Verlauf stärkeren Differenzierungen ausgesetzt, die schließlich eine Fülle an sich (mehr oder weniger) anbietenden Begriffen hervorbrachten, wie Gegenutopie, Schreckutopie, Mätopie, Kakotopie, Groteskutopie, pessimistische, kritische, negative, schwarze, devolutionistische, apotropäische oder auch apokalyptische Utopie.[27] Unter dieser Begriffsvielfalt plädiert Meyer für Anti-Utopie, gibt sich mit Schulte Herbrüggens Begriffsanlage jedoch nicht zufrieden. In einem groß angelegten Gewaltmarsch durch die Jahrhunderte versucht er daher, die »Essenz des Anti-Utopischen« herauszustellen, wobei eine Anti-Utopie für ihn ein »Falsifikationsmodell« ist, das neben einem direkten Gesellschaftsbezug und einer Kritik an gegenwärtigen Tendenzen, auf einem »Unbehagen am Utopischen« beruhe. Um tatsächlich zu jener anvisierten Essenz zu gelangen, startet er seine Untersuchungen bereits im 16. Jahrhundert, obgleich er die Blütezeit der Anti-Utopie erst auf den Zeitraum zwischen 1890 und 1950 veranschlagt.[28] Als herausstechende Merkmale, die in einer Anti-Utopie in der Regel behandelt werden, bespricht er ausführlich Isolation, Statik, Kollektivismus, ökonomische Rationalität, Homogenität und Uniformität, Familienpolitik, Kulturpolitik, Eugenik, die utopische Staatsordnung und letztlich den Sanktionsapparat.[29] Da er George Orwells Nineteen Eighty-Four nicht nur als Anti-Utopie klassifiziert, sondern sogar als Höhepunkt der anti-utopischen Tradition ansieht,[30] können diese also auch hierfür als gültig erachtet werden. Von besonderem Interesse ist für das Anliegen der Arbeit das Merkmal Kulturpolitik, das er zu einem großen Teil sogar anhand Orwells Roman bespricht.[31] Auch wenn Meyer somit zentrale Bausteine richtig herausstellt, so ist doch seine Fokussierung auf jener sogenannten Essenz, also der Stoßrichtung gegen typisch utopische Elemente, zu eng gefasst und bringt ihn zu einer Ablehnung des Begriffs Dystopie, da diesem die gegenutopische Haltung nicht anzusehen sei. Jedoch findet sich hierauf auch eine nützliche Beobachtung zur logischen Etymologie. Der korrekte Gegenbegriff zur Utopie müsse eigentlich Topie sein, Dystopie sei lediglich das Pendant zu Eutopie.[32] Tatsächlich legt ein Blick auf die ursprüngliche Wortschöpfung jene Unterscheidung nahe. Als Erfinder des Begriffs Utopie gilt der englische Jurist und Politiker Thomas More mit seiner Schrift De optimo rei publicae statu sive de nova insula Utopia (1516). Es kann hierbei von einem bewussten Wortspiel ausgegangen werden, da die altgriechische objektive Verneinung ou und das ebenfalls altgriechische Präfix eu-, also nicht (existent) und gut- oder wohl-, in englischer Aussprache ähnlich klingen.[33] Topos ist altgriechisch und bedeutet so viel wie Ort, Land oder Stadt. Die trickreiche, wenn auch grammatikalisch nicht ganz korrekte Doppelbedeutung als sowohl Nicht-Ort oder Nirgendwo, wie auch Gut-Ort, ist für Verständnis und Verortung des Begriffs Dystopie entscheidend. Dieser ist ebenfalls eine altgriechische Wortbildung aus dem Präfix dys-, was so viel wie un- oder miss- bedeutet, und wiederum dem Substantiv Topos. Dystopie bedeutet daher so viel wie Un-Ort oder Miss-Ort.[34] Als Schöpfer wurde lange Zeit fälschlicherweise J. Max Patrick angesehen, der den Begriff 1952 in einer Publikation verwendete. Tatsächlich findet sich das Wort dystopians jedoch bereits in einem Artikel von John Stuart Mill.[35] Da es sich dabei also, zumindest etymologisch, tatsächlich um eine Reaktion auf Eutopie handelt, ist eine frühere Bildung nicht auszuschließen. Terminus post quem stellt dann Mores Schrift von 1516 dar. Zeißler weist auf die immer noch nicht abgeschlossene Diskussion um eine korrekte und einheitliche Namensfindung der Gattung hin, sieht die beiden Begriffe Anti-Utopie und Dystopie jedoch mittlerweile als weitestgehend etabliert, wobei es sich hierbei um zwei keineswegs deckungsgleiche Phänomene handele, vielmehr könne zwischen pessimistisch-konservativ und optimistisch-progressiv, zwischen Resignation und militantem Pessimismus oder auch zwischen utopiekritisch und gesellschaftskritisch differenziert werden. Orwells Nineteen Eighty-Four sei hierbei der jeweils zweiten Option, also der Dystopie zuzurechnen, bewege sich gleichzeitig aber auch sehr zwischen Enttäuschung und Appell. Die Dystopie fände sich also in einer Vermittlerrolle zwischen Utopie und Anti-Utopie wieder und meine, eben in Gegenüberstellung zur Utopie im Sinne einer Eutopie, d.h. einer Schilderung einer deutlich besseren, die Darstellung einer erheblich schlechteren Gesellschaft. Jedoch könne auch in der Dystopie wiederum eine Kategorisierung in eine einfache und in eine antiutopische Form unternommen werden. Letztere richte sich dann verstärkt - parodistisch - gegen in der Regel eindeutig benennbare Utopien.[36] Hierin liegt wohl die zuvor erfolgte Verortung von Orwells letztem Roman begründet, da sich in ihm tatsächlich satirische Elemente auf diverse Utopien vermuten lassen.[37] Andererseits ist es wohl kaum verwunderlich, dass innerhalb einer Gattung ähnliche Züge wiederholt und im Falle der beiden Pole Eutopie und Dystopie gegenübergestellt auftreten. Nach einer Definition Affeldt-Schmidts, ist eine Dystopie ein »Entwurf einer hypothetisch möglichen negativen Welt [...], der in zeitlicher Projektion und Perfektionierung von kritisch beurteilten, negativen Entwicklungstendenzen der zeitgenössischen Wirklichkeit eine idealtypisch vollendete, negative Modellwelt versinnlicht.«[38]
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