1. Die Grundlagen
Ohne den vollständigen Inhalt des Buches „Seine Emotionen besser verstehen lernen“ wiederholen zu wollen, erscheint es mir dennoch wichtig, dessen grundlegende Erkenntnisse einleitend zu erklären. So wird besser verständlich, wie ich die Ergebnisse der Untersuchung gewann. Die spezifische Vorgehensweise, um die es in diesem Buch geht, bezeichnete ich mit „Tipi“, dem Akronym aus den französischen Wörtern „Technique d’Identification sensorielle des Peurs Inconscientes“. Übersetzt bedeutet dies „Technik zur Identifizierung unbewusster Ängste mit allen Sinnen – auf Körperebene“. Es geht in der Tat darum, Ängste als Schlüssel unserer emotionalen Schwierigkeiten zu erkennen. Und dabei zu verstehen, dass sie am stärksten diejenigen unserer Reflexe konditionieren, mit denen wir reagieren, wenn Unbehagen und Schmerzen das erträgliche Maß übersteigen. Diese Reflexe umfassen vermeidende Verhaltensweisen und Flucht, das Erleben innerer Blockaden oder Hemmungen, Aggressivität und – dies eher unerwartet – auch Machtausübung1.
Angst entsteht in einem Menschen dann, wenn er zuvor eine erste unangenehme Erfahrung gemacht hat. Bei Tipi geht es darum, diese Erfahrung auf dem Weg über ihre konkreten Auswirkungen im Alltagsleben wiederzufinden, um die von ihr hervorgerufenen spezifischen Verhaltensweisen deaktivieren zu können. Noch kennen wir nicht mit absoluter Sicherheit den biologischen Mechanismus zu dem von uns erforschten Phänomen. Jedoch zeigen die Resultate der Untersuchungen: Wenn ein Mensch eine emotionale Situation wiedererlebt, die auf der Konfrontation mit einer ursprünglichen Angst beruht, wird diese Angst vollkommen aufgelöst. Voraussetzung dabei ist, dass dieses „Wiedererleben“ keine intellektuelle Projektion darstellt, sondern als emotionale und körperbezogene Realität erlebt wird. Oder anders ausgedrückt: Es ist notwendig, dass die Person den Ursprung der Angst über die eigenen Körperempfindungen sucht und erlebt und nicht über ihren Intellekt. Und genau an dieser Stelle ergeben sich häufig die größten Schwierigkeiten: Wir sind es so viel mehr gewohnt nachzudenken, als nachzuempfinden. Dabei sind es unsere Sinne, die es jedem von uns erlauben, bis zu den ältesten Spuren unserer Ängste zurückzugehen. Zu jenen Ängsten, die in unserem Leben die entscheidende Rolle spielen. Kurz und gut: Es ist möglich, auf diese Art und Weise mit den vielfältigen Erlebnissen in Kontakt zu kommen, die beispielsweise während unserer Geburt stattfanden, ja selbst mit Erfahrungen aus der Zeit im Mutterleib.
Es gibt heute eine Vielzahl von anderen therapeutischen Herangehensweisen, die mehr oder weniger in diese Richtung gehen. Was den besonderen Erfolg von Tipi erklären kann, hängt mit dem Zusammentreffen von vier entscheidenden Grundsätzen zusammen, die im Folgenden dargestellt werden.
1.1 Angst
Angst ist definiert als eine Emotion, die bei Gefahr oder Anzeichen von Gefahr auftritt. Auf der ursprünglichsten Ebene offenbart sich Angst in zwei verschiedenen Formen: Bei der passiven Angst fühlen sich Menschen gehemmt, blockiert oder wie gelähmt. Bei der aktiven Form der Angst reagieren sie kopflos in ihren körperlichen Bewegungen und verbalen Ausdrucksweisen. Die spezifischen Reaktionen auf Anzeichen von Angst können sehr unterschiedlich ausfallen. Zu ihnen gehört der Ausdruck von Sorgen und Furcht, physische und psychische Stressreaktionen, Unruhe, Ängstlichkeit bis hin zu regelrechter Panik. Alle diese Reaktionen entstehen durch ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber der Gefahr und der als bedrohlich erlebten Welt. Der Begriff „Gefahr“ sollte in diesem Zusammenhang in seiner stärksten Bedeutung verstanden werden: als Konfrontation mit dem Tod. Bei einer direkten Auswirkung führt sie zum physischen Tod. Indirekt spürt ein Mensch die Wirkung von Gefahr, wenn er beispielsweise materielle oder soziale Verluste erleidet, die seine Überlebenschancen vermindern.
Für unsere Vorgehensweise ist der Zusammenhang zwischen Angst und Konfrontation mit dem Tod wesentlich. Es handelt sich in der Tat darum, über die Manifestation der Angst die Gefahr herauszufinden, die sie hervorgerufen hat. Wie wir im Weiteren sehen werden, führte uns unsere Forschungsarbeit im Fall von schwerwiegenden Pathologien und bei allen Formen von Phobien in die vorgeburtliche Phase oder zum Erlebnis der Geburt. Dabei wurde stets eine direkte Konfrontation mit dem eigenen Tod als verantwortlich für die aktuellen Leiden identifiziert. Der Fötus im Bauch der Mutter kann beispielsweise durch einen Mangel an Sauerstoff, ungenügende Nährstoffzufuhr, Vergiftungserscheinungen oder eine interne Funktionsstörung mit dem physischen Tod konfrontiert werden. Auch eine äußere Störung kann im Fötus unerträgliche Zwänge oder körperliche Empfindungen hervorrufen. Tatsächlich werden auf dieser ursprünglichen Ebene des Lebens spezifische Ängste erzeugt, die für die Entstehung der hartnäckigsten emotionalen Leiden verantwortlich sind.
Es ist klar, dass die ursprüngliche Angst auslösende Gefahr mit einem traumatischen Erlebnis verknüpft sein kann. Dieses ist gewöhnlich der Schlüssel, der von den Therapeuten bei ihren Patienten gesucht und für die weiterführende Therapie genutzt wird. Die Trauma-Suche ist jedoch im Allgemeinen psychologisch gefärbt und betrachtet das ursprüngliche Erlebnis hauptsächlich auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenn beispielsweise ein Fötus im Mutterleib mit einem Zwilling zusammen gewesen ist, der nicht überlebte, wird das Trauma (falls es identifiziert wird) in der Regel insbesondere vom Beziehungsaspekt aus analysiert werden. Bei einem Menschen, der im Bauch der Mutter einen solchen Verlust erlebt hat, können tiefe Traurigkeit und Einsamkeit festgestellt werden, das Gefühl des Verlassen-worden-Seins, die verzweifelte Suche nach einem Seelen-Gefährten, die Unfähigkeit, dauerhafte Beziehungen zu leben oder Trennungen verarbeiten zu können ... Dasselbe Ereignis kann wie bei der Vorgehensweise mit Tipi ausgehend von den Manifestationen der damit verbundenen Angst analysiert werden. Bei dieser Vorgehensweise erlebt ein Mensch über den Weg der körperlichen Empfindungen beispielsweise eine Ohnmacht wieder, die durch den extrem starken Sog bei dem natürlichen Abgang eines Zwillings hervorgerufen wurde. Grundlage sind hier also die unangenehmen körperlichen Empfindungen, die durch eine bestimmte Situation hervorgerufen werden. Die erlebte physische Gefahr steht hier im Vordergrund. Bei der psychologischen Analyse desselben Ereignisses hingegen wird die gefühlsmäßige Beziehung der Person zu ihrer Umgebung ergründet.
Um es noch einmal anders zu beschreiben: Von der physischen Seite aus erscheint das Verschwinden des Zwillings als ein heftiges Erlebnis, da hier das körperliche Überleben des verbleibenden Zwillings in Gefahr war. Von der psychologischen Seite aus wird dieses Verschwinden des Zwillings insbesondere als ein enormer Mangel auf der Gefühlsebene angesehen, der schwer zu überwinden ist.
Zusammenfassend erscheint folgender Zusammenhang eindeutig: Es sind die von einem unangenehmen physischen Ereignis ausgehenden körperlichen Empfindungen, welche im Menschen unerwünschte psychologische Phänomene hervorrufen. Wenn die Bearbeitung dieser Phänomene nur die psychologischen Auswirkungen umfasst, erreicht sie nicht den Ursprung des physischen Leidens. Der bleibt im Körpergedächtnis erhalten und wird immer wieder aktiv. Sicherlich hilft uns der psychologische Ansatz dabei, uns wohler zu fühlen. Eine Heilung im Sinne des vollständigen Auflösens eines Leidens aber führt über das körperliche Empfinden.
1.2 Körperliche Empfindungen
Die Suche nach dem Ursprung eines Leidens über den Ausdrucksweg der Angst erlaubt, sich auf ganz konkrete und leicht zu identifizierende körperliche Empfindungen zu stützen. Wer sich bei Feuer unwohl fühlt, kann beschreiben, was er in diesem Moment im Köper spürt. Vielleicht wird er überrascht sein, einen heftigen Schmerz an der Schulter und am Arm zu spüren, als würde ihn jemand gewaltsam nach hinten ziehen und so aus dem Gleichgewicht bringen. Diese körperliche Empfindung kann ein Hinweis auf eine Situation sein, in der dieser Mensch eine Angst erlebte, für die das Feuer gar nicht verantwortlich war, eine Situation aus der Zeit als Kleinkind. Damals hatte jener Mensch womöglich einmal erlebt, dass jemand ihn heftig gepackt und von einem lodernden Feuer weggezogen hatte, damit er sich nicht verbrennt. Seine Angst vor dem Feuer ist also nicht die Angst, dass er sich verbrennen könnte, sondern vielmehr Angst davor, dass ihn jemand plötzlich angreifen und aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Jemand anderes wiederum könnte dazu vollkommen unterschiedliche Empfindungen beschreiben, die auf einer völlig unterschiedlichen, aber ebenso persönlich geprägten Situation beruhen.
Das Beispiel mit dem Feuer illustriert übrigens gut, auf welche Art und Weise Angst sich während eines unangenehmen Ereignisses in unserem Körper einprägt: Die physische Empfindung, die in dem Moment der Konfrontation vorhanden ist, wird genau in dieser Form gespeichert und ist bereit, sich in einer ähnlichen Situation erneut bemerkbar zu machen. Das bedeutet: Sie wird sich in genau jener Form manifestieren, in der sie damals abgespeichert wurde, und zwar immer wieder, sobald wir eine Situation erleben, die wir – meist unbewusst – als ähnlich empfinden. Genau diese sensorische Spur, die Spur unserer Körperempfindungen, eröffnet die Möglichkeit, verlässlich und präzise bis zum ursprünglichen Ereignis, jenem Ereignis, das die Angst auslöste, zurückzugehen.
Dazu müssen wir uns lediglich dem...