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E-Book

Begegnungen mit China und seinen Nachbarn

Malaysia - Hongkong - Indonesien - Taiwan - Mongolei - Tibet - Japan - Indien

AutorPankaj Mishra
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783104033297
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
+++ Im Schatten des Drachen - ein kluger Blick auf das »Reich der Mitte« und seine Nachbarn +++ Asien ist in Bewegung. Die neue Supermacht China dominiert sowohl den Kontinent als auch den Diskurs über die Region. Um besser zu verstehen, was in seinem Inneren vorgeht, lohnt sich vor allem ein Blick an die Ränder des riesigen Staates. Keiner kann das so meisterhaft und kenntnisreich wie der vielfach ausgezeichnete Publizist und Essayist Pankaj Mishra, der sich der Großmacht China über ihre Grenzen annähert und gekonnt politisches Geschehen, Reisebericht und große Historie miteinander verwebt. Er reist von Beijing über die Mongolei nach Tibet und durch Länder wie Indonesien, Malaysia und Taiwan, um herauszufinden, wie es sich im Schatten des Drachen lebt und welchen Einfluss die unmittelbare Nähe des »Reichs der Mitte« auf seine Nachbarn hat. Erhellende und ungewöhnliche Einblicke in eine der wichtigsten Regionen des 21. Jahrhunderts.

Pankaj Mishra, geboren 1969 in Nordindien, schreibt seit über zehn Jahren regelmäßig für die »New York Review of Books«, den »New Yorker« und den »Guardian« über den indischen Subkontinent, über Afghanistan und China. Er gehört zu den großen Intellektuellen des modernen Asien und hat zahlreiche Essays in »Lettre International« und »Cicero« veröffentlicht; auf Deutsch sind darüber hinaus der Roman »Benares oder Eine Erziehung des Herzens« und der Essayband »Lockruf des Westens. Modernes Indien« erschienen. Pankaj Mishra war u. a. Gastprofessor am Wellesley College und am University College London. Für sein Buch »Aus den Ruinen des Empires«, das 2013 bei S. Fischer erschien, erhielt er 2014 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Bei S. Fischer sind von ihm außerdem »Begegnungen mit China und seinen Nachbarn« und »Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart« erschienen. Er lebt abwechselnd in London und in Mashobra, einem Dorf am Rande des Himalaya. Literaturpreise: 2014 Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014 Windham Campbell Literature Prize der Yale University 2013 Crossword Book Award for Nonfiction

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Leseprobe

Blick nach Osten. Eine Einführung


Eines Nachmittags im Sommer 1992 unterhielt ich mich mit meinem Vermieter und fragte ihn, was hinter den schneebedeckten Gipfeln lag, die ich von meiner Veranda aus sehen konnte. »Tibbat«, antwortete Mr Sharma und betonte das Wort dabei auf nordindische Weise. Ich war erstaunt. War Tibet wirklich so nah? Ich war erst kürzlich in dieses kleine Dorf im Bundesstaat Himachal Pradesh gezogen, um herauszufinden, ob ich zum Schriftsteller taugte. Die physische Isolation schien mein Gefühl der Unzulänglichkeit nur noch zu verstärken. In meiner Vorstellung erschien mir dieses riesige, von Lhasa bis Hokkaido und Surabaya reichende Gebiet, ein schon damals von Politik und Wirtschaft Chinas geprägtes Asien, plötzlich wie eine beklemmende Leerstelle – ein weiterer Beweis für meine Unwissenheit im Blick auf die Welt.

Mr Sharma, ein Sanskritwissenschaftler, teilte diese Schwäche nicht. Er sprach von Tibet ganz selbstverständlich als von einer jener Kreuzungen innerhalb eines weitreichenden indischen Kulturraums, über welche indische Religionen und Philosophien durch den gesamten asiatischen Kontinent gereist und tief in den pazifischen Raum eingedrungen waren. Ich beneidete ihn um dieses Tibbat, das zu seinem privaten Asienbild gehörte, einem Bild, das auch das Bild der übrigen Welt klarer gefasst haben dürfte, ihm den Schmerz der Verständnislosigkeit nahm und ihn in der Erde verwurzelte.

Ich hatte kein solches Tibbat. Mein Asien musste erst noch mit bestimmten Kulturen, Geschichten und Völkern gefüllt werden. Ich hatte die Romane von Lu Xun und ein paar Aufsätze von Mao Zedong gelesen, wusste aber sonst kaum etwas über China, außer dass es Indien 1962 betrogen und Jawaharlal Nehrus Tod beschleunigt hatte und dass man dem Land deshalb nicht trauen durfte. Ich wusste von der nuklearen Einäscherung Hiroshimas und Nagasakis, aber Japan wurde für mich fast vollständig verkörpert von Akio Morita, dem Hersteller des Walkman und des mit einem hellen Holzgehäuse daherkommenden Sony Trinitron Farbfernsehers (die im immer noch recht armen Indien der frühen 1990er Jahre heißbegehrt waren). In meinem Denken belebten keinerlei politische oder intellektuelle Bewegungen den Osten oder Asien, wie dies für Indien und den Westen galt.

 

In unserer eng vernetzten Welt ist es heute leicht, über quasi-orientalistische Konzepte wie den »Osten« und »Asien« zu spotten. Beide betraten die Bühne gemeinsam mit ihrer dominanten Zwillingsschwester, der Idee Europas. Als Bezeichnung für das barbarische oder unterlegene »Andere« sollten sie ursprünglich das westliche Selbstbewusstsein stärken. Im späten 19. Jahrhundert jedoch nahmen diverse chinesische, japanische und indische Denker den »Osten« und »Asien« in ihre eigenen Dienste und füllten diese Kategorien mit besonderen Werten und Eigenschaften wie der Achtung vor der Natur, Gemeinschaftsorientierung, schlichter Genügsamkeit und spiritueller Transzendenz. Diese angeblich asiatische Tradition des Antimaterialismus stellten sie dann den modernen westlichen Ideologien des Individualismus, der Eroberung und des Wirtschaftswachstums gegenüber. Die Idee Asiens wurde zum Ausdruck einer kulturellen Verteidigungshaltung gegen den arroganten Westen, der ein Monopol auf Zivilisation für sich beanspruchte und solche Völker für unterlegen hielt, denen die offenkundigen Zeichen der westlichen Zivilisation fehlten: Nationalstaat, industrieller Kapitalismus und mechanistische Wissenschaft.

Eine geopolitische Dimension erlangte die vorgeschlagene kulturelle Einheit Asiens während der frühen postkolonialen Kämpfe für nationalen Wohlstand und nationale Macht – ein Vorhaben, bei dem indische, chinesische und indonesische Führer selbstbewusst Solidarität untereinander beschworen. So kam es, dass die gemeinsame Erfahrung der Unterjochung und rassischen Demütigung und die Forderung nach Freiheit und Würde, die einst Rabindranath Tagore mit Liang Qichao und Okakura Tenshin verbunden hatten, nun auch Jawaharlal Nehru mit Mao Zedong und Sukarno verband. Und Künstler wie Satyajit Ray und Akira Kurosawa, die sich mit den großen Umbrüchen und Traumata ihrer Gesellschaften befassten, teilten einen besorgten Humanismus.

Solche imaginierten Gemeinschaften sind heute im In- und Ausland nur noch bruchstückhaft vorhanden; an ihre Stelle sind pragmatische Wirtschaftsvereinigungen wie ASEAN und grenzüberschreitende Netzwerke in Produktion, Handel und Bankwesen getreten. Autoritäre Führer beschwören immer noch »asiatische Werte« und stellen die von Konfuzius geforderte Harmonie in der Gemeinschaft gegen den offensichtlich amoralischen und spalterischen Individualismus des Westens. Das ist jedoch kaum mehr als ein rhetorischer Deckmantel für Regime, die harmonische Beziehungen zu lokalen Plutokraten pflegen, aber der Mehrheit politische Rechte verweigern.

Die Idee Asiens hat heute eine andere Kohärenz. Was als geographisch disparate Erfahrungen erscheint – von ländlichen Migranten in Jakarta, Fabrikarbeitern in Manesar, Stammesangehörigen in Chhattisgarh, Nomaden in Tibet und Kunden der Gated Communities von Hermès und Jimmy Choo in Hangzhou und Gurgaon –, ist die verspätete Ankunft des Kapitalismus. Die großen Veränderungen, welche im 19. Jahrhundert Europa erschütterten, lassen sich heute in ganz Asien beobachten: die Verwandlung des Lebens und des Bodens in Waren, deren Bewertung durch die Mechanismen von Angebot und Nachfrage, der Zerfall der Gemeinschaften zu Aggregaten aus Individuen auf der Suche nach sich selbst, das Streben nach persönlichem Reichtum und Status, die Verzweiflung und Angst der Verlierer sowie der erbitterte Widerstand und die hektischen Improvisationen der Zurückgebliebenen und Zurückgestoßenen.

Die provisorische, über alle Grenzen der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der Geographie, der Schicht und der Nationalität hinwegreichende Gemeinsamkeit liegt in der Erfahrung einer oft bitter paradoxen Moderne: des Versprechens der Selbstveränderung und des Wachstums, das häufig verwirklicht wird durch die Zerstörung vertrauter Orientierungspunkte; einer Atmosphäre der Erregung und des Widerspruchs, in der mit der Erneuerung unvermeidlich der Verrat an alten Bindungen und deren Zerfall einhergehen.

 

Nachdem mir die Nähe Tibbats klargeworden war, brauchte ich noch viele Jahre, um allgemein bekannte Verwerfungen, Gefahren und Chancen in diesem neuen Asien zu erkennen – die gewaltigen kollektiven und individuellen Anstrengungen, die Gewalt, das Leid, die Frustration, die Verzweiflung und den Optimismus. Meine intellektuelle Blindheit hatte viel mit meinem ausgeprägten Wunsch zu tun, ein englischsprachiger Schriftsteller zu sein. In einer anglophonen Kultur geboren zu sein hieß nicht nur, den Westen reflexhaft ins Zentrum zu stellen und den westlichen Literaturen und Philosophien die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Es bedeutete auch die Unterstellung, dass die Institutionen (parlamentarische Demokratie, Nationalstaat), die philosophischen Prinzipien (Säkularismus, Liberalismus), die ökonomischen Ideologien (Sozialismus, gefolgt von Marktkapitalismus) und die ästhetischen Formen (der Roman), die in den langen Jahrzehnten der britischen Herrschaft eingeführt oder übernommen worden waren, zur natürlichen und außerdem auch überlegenen Ordnung der Dinge gehörten.

Dies alles werde, so nahm man einfach an, irrationaler Religion ein Ende setzten, das Regieren verbessern, die private Freiheit ausdehnen, unsere moralische Vorstellungskraft erweitern und vielen hundert Millionen unserer weniger privilegierten Landsleute Wohlstand und Zufriedenheit bringen. Das einst vom Sozialismus versprochene Wohlergehen der Nation wurde in den letzten Jahrzehnten mit einer Reihe anderer, aus dem angloamerikanischen Raum importierter Ideen assoziiert: mit Privatisierung, Deregulierung und einem schlanken Staat.

Nur wenige Menschen dürften heute behaupten, die Ereignisse hätten diese Annahmen bestätigt. Der indische Nationalstaat, der mit seiner Gründung einer überwältigend armen und vielfältigen Bevölkerung das Wahlrecht gab, ist eines der weltweit kühnsten Experimente in Demokratie und politischem Pluralismus. Er darf einige Erfolge für sich beanspruchen, insbesondere die Politisierung von lange Zeit unterprivilegierten Menschen. Doch dieser Fortschritt ist keineswegs stetig und irreversibel; er ist begleitet von großen Verlusten und gekennzeichnet durch Stagnation an mancherlei Punkten; und er bringt mächtige Gegenkräfte hervor. Es fällt leichter, die allgemeine Krise zur Kenntnis zu nehmen: Aufstände ethnischer und religiöser Minderheiten in Grenzstaaten, zu denen inzwischen auch militantere Rebellionen der Enteigneten in zentralindischen Staaten hinzukommen; eine im Zeitlupentempo ablaufende landwirtschaftliche Katastrophe, die ihren Ausdruck im Selbstmord von Hunderttausenden Bauern findet; eine rasch wachsende städtische Bevölkerung, die unmenschlichen Lebensbedingungen ausgesetzt ist; und schließlich eine auf Spaltung ausgerichtete Politik, gelenkt von Männern, die sich ohne jede Reue einer maßlosen Korruption schuldig machen – all das scheint weiter von Liberalismus und Säkularismus entfernt zu sein denn je.

Eine zunehmend amerikanisierte indische Elite sucht weiterhin Bestätigung und Unterstützung bei ihren westlichen Pendants. Aber die alten Herren der Welt, die mit diversen Wirtschaftskrisen, wachsender Ungleichheit und politischer Unzufriedenheit kämpfen, haben ihr Modell universellen...

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