Lauf, Bella, lauf!
Mai 2015,
Lincoln, Nebraska
»Können wir uns über die Röntgenbilder hinten unterhalten?«, fragt die Tierärztin. Beim Klang ihrer Worte rieselt es mir kalt über den Rücken. Das kann nichts Gutes bedeuten, wenn man für ein Gespräch ins Hinterzimmer gebeten wird.
Ich verlasse den Warteraum und folge der Ärztin den Flur entlang in den hinteren Praxisbereich. Zwei Tassen Orangen-Zimt-Tee und ein heißer Kakao schwappen in meinem Magen hin und her. Bei kostenlosen Getränken greife ich hemmungslos zu. Bella, mein geliebter schokoladenbrauner Labrador, läuft neben mir an der Leine. Ihre Pfoten erzeugen klickende Geräusche auf dem Linoleum. Wie immer ist Bella zufrieden und gut gelaunt. Sie fühlt sich überall wohl, solange sie an meiner Seite ist. Und das ist sie schon seit acht Jahren, gemeinsam haben wir zahlreiche Abenteuer erlebt.
Als wir im hinteren Zimmer stehen, bücke ich mich, um Bella über ihr seidig weiches Fell zu streichen, beginnend oben am Kopf, direkt oberhalb der Augen. Ich liebe mein Mädchen über alles. Sie ist glücklich, wenn wir zusammen sind, stets positiv und wundervoll. Mir kommt es dann so vor, als würde sie die ganze Zeit lächeln. Wir brauchen nichts außer Essen, ein Dach über dem Kopf und die Anwesenheit des anderen. Ich nehme ihr Ohr zwischen Zeigefinger und Daumen und kraule die kleine Ausbuchtung unweit der Stelle, wo es mit der Kopfhaut verwachsen ist. Schon als sie noch ein Welpe war, habe ich sie gerne dort gestreichelt.
Die Tierärztin knipst den Röntgenmonitor an, auf dem zwei Bilder erscheinen: einmal Bellas Oberarmbein, dann ihre Lungen. Oben am Humerus, dem kürzeren der beiden Knochen, die die vorderen Extremitäten ausmachen, sitzt ein haarfeines Netz aus fedrigen Verästelungen. Der Knochen scheint in das umliegende Gewebe hineinzuwachsen. Bellas Lungen wirken unklar umrissen und weisen leuchtend weiße Flecken auf, wie ein marmorner Himmel, der sich gegen den aufziehenden Sturm wappnet.
»Tut mir leid«, sagt die Veterinärin. »Es handelt sich um ein Osteosarkom im fortgeschrittenen Stadium. Das sind leider keine guten Nachrichten. Knochenkrebs. Sie hat bereits Metastasen in der Lunge.«
Mir schnürt es die Kehle zu, aber ich reiße mich zusammen. Nicht weil ich als Marine übertrieben männliche Härte zeigen sollte, sondern um mich zu sammeln. Ich konzentriere mich auf jedes einzelne Wort, das die Tierärztin sagt, damit ich genau im Bilde bin, wie die nächsten Schritte aussehen. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass aufmerksames Zuhören die beste Methode ist, wenn die Kacke am Dampfen ist. Die Welt scheint dann für einen Moment völlig stillzustehen.
Dass Bella todkrank sein soll, kann ich nicht begreifen. Ich blicke nach unten und sehe diesen lebensfrohen Hund neben mir. Bella schaut zu mir auf, ihre Augen strahlen. Sie ist abenteuerlustig, athletisch, ein liebenswertes Bündel reinster Hundeliebe. Sie ist meine Konstante im Leben. Sie liebt mich bedingungslos und zuverlässig, egal ob ich am Boden zerstört bin, traurig, wütend, mich irre oder versagt habe. Sie wedelt freudig mit dem Schwanz, immer wenn ich zur Tür hereinkomme. In den vergangenen Jahren, die für mich nicht leicht waren, ist sie mir zu einem weisen Ratgeber geworden wie Meister Yoda für den jungen Luke. Sie hat mich gelehrt, wie wenig man im Leben zum Glücklichsein braucht, wie man ganz im Augenblick lebt und jede einzelne Sekunde genießt. Ich kann ohne eine Spur von Scham sagen, dass dieser Hund mein bester Freund ist. Meine einzig wahre Liebe.
Die Tierärztin runzelt die Stirn. Ich sehe ihr in die Augen. Das ist vermutlich der härteste Part ihres Jobs. »Welche Möglichkeiten gibt es?«, taste ich mich behutsam vor.
»Wir haben es hier mit einem äußerst aggressiven Krebs zu tun. Natürlich könnten wir den Vorderlauf amputieren. Aber wenn Sie das nicht wollen, sollten wir sie am besten noch heute einschläfern, um ihr weiteres Leid zu ersparen. Sie hat große Schmerzen.«
Bella einschläfern? Unter gar keinen Umständen lasse ich das zu. Sie ist meine Welt! Sie war stets an meiner Seite bei allem, was ich durchmachen musste. Sie verkörpert für mich das, was das Leben schön macht: Glück, Freiheit, Hilfsbereitschaft, Entschlossenheit, Freude, Spaß. Sie würdigt den Akt des Daseins an sich. Nein. Solange es andere Optionen gibt, werde ich nicht zulassen, dass man dem Leben dieses Hundes ein Ende setzt. Aber genauso wenig ertrage ich den Gedanken, dass Bella Schmerzen erleidet. Sie ist für mich wie eine Tochter. Meine Familie.
»Wenn wir ihr das Bein abnehmen lassen, wie viel Zeit bleibt ihr dann noch?«, frage ich.
»Der Krebs sitzt leider auch in ihrer Lunge. Die Operation würde lediglich dafür sorgen, dass sie schmerzfrei ist. Wir sprechen also von maximal drei bis sechs Monaten.«
Drei bis sechs Monate.
Diese Neuigkeit trifft mich hart wie eine Kugel. Bella ist erst acht Jahre alt, in mittleren Jahren sozusagen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Labrador bis zu fünfzehn Jahre lebt. Wieder blicke ich hinunter zu Bella und tätschle ihr weiches Fell am Kopf. Sie wedelt unbeirrt mit dem Schwanz und sieht zur Tierärztin auf. Offenbar wundert sie sich, woher die gedrückte Stimmung plötzlich kommt. Die Amputation ihres Vorderbeins ist also die einzige Option, die uns bleibt, eine Option, die mir viel zu heftig erscheint und gleichzeitig nicht genug ist. Ich erkundige mich nach einer Chemotherapie, bekomme aber gesagt, dass eine solche angesichts des fortgeschrittenen Befalls der Lunge wenig Sinn hat. Ich müsste wegen der Amputation jetzt eine Entscheidung treffen, aber es bringt mich um, ich schaffe es nicht, dem zuzustimmen. Als letzte Ausflucht frage ich: »Kann ich wenigstens eine Nacht darüber schlafen?«
Selbstverständlich. Eine Nacht. Bella und ich fahren nach Hause, ich gebe ihr Futter, dann bereite ich Abendessen für mich selbst zu. Mein Gehirn läuft auf Hochtouren, die Gedanken rasen. Es kommt mir vor, als hätte ich sie erst gestern bekommen. Ein Mädchen im Teenageralter aus einer Kleinstadt in Nebraska, das später einmal Tierärztin werden wollte, hatte ihren schokobraunen Labrador zur Zucht freigegeben. Sie hatte den Wurf gut hochgepäppelt, den Welpen die nötigen Impfungen geben und ihre Afterkrallen entfernen lassen. Meine Freundin stieß in einer regionalen Zeitung auf die Anzeige. Wir fuhren hin, um uns die Tiere vor Ort anzusehen. Ein halbes Dutzend munterer kleiner Energiebündel tobte in einem abgeschlossenen Gehege im Garten vor dem Haus des Mädchens herum. Die jungen Hunde flitzen hintereinander her. Stupsten sich gegenseitig an die Nasen. Es war ein lustiger Anblick, der uns zum Lachen brachte. Ein blauäugiger Welpe kam tollpatschig auf uns zugeschossen, legte die winzigen Pfoten an den Zaun und wedelte wild mit dem Schwanz. Das Ding sah aus wie der Propeller eines Hubschraubers. Als ich den Welpen hochnahm, leckte er mir mit der Zunge übers Gesicht. Das kleine Tier war einfach perfekt. Aber wir waren an diesem Tag noch nicht in der Lage, eine endgültige Entscheidung zu treffen, deshalb setzten wir den Welpen wieder zurück ins Gehege. Sofort flitzte er zu den anderen, um mit ihnen zu spielen.
In den kommenden Monaten sollte ich mit meiner Marine-Reserveeinheit in den Irak entsandt werden. Meine Freundin und ich kamen deshalb zu dem Schluss, dass ein Hündchen ein prima Gefährte für sie wäre, solange ich weg war. Wir fuhren nach Hause, ließen uns alles noch einmal durch den Kopf gehen und kehrten am nächsten Tag zurück. Hoffentlich würden wir diesen einen Welpen wiedererkennen, mit dem wir am Tag zuvor bereits Bekanntschaft geschlossen hatten. Die Hunde sahen nämlich aus wie kleine Klone, einer wie der andere.
Doch kaum gingen wir durch den Garten auf das Gitter zu, kam derselbe blauäugige Welpe auf uns zu gesaust, legte die Pfoten an den Zaun und wedelte mit dem Hinterteil. Es schien so, als würde er unsere Herzen direkt ansprechen: Hey, Leute. Da seid ihr ja wieder! Ihr habt gestern wohl vergessen, mich mitzunehmen. Wir hoben ihn hoch, bezahlten das Mädchen und stiegen wieder ins Auto.
Der Name unseres kleinen Hundes sollte etwas ganz Besonderes sein. Ein Name mit Bedeutung, weil ein Hund seinem Namen meistens gerecht wird. Als ich in diese riesigen blauen Welpenaugen blickte, die sich so drastisch von dem schokobraunen Fell abhoben, konnte ich nicht fassen, wie wunderschön dieses kleine Hundemädchen war.
Wunderschön.
Ich zog mein Laptop heraus und googelte nach dem Wort »wunderschön« in anderen Sprachen. Zunächst versuchte ich es mit den Sprachen meiner eigenen Herkunft, ich hatte irische und deutsche Wurzeln. Dabei stieß ich auf das irische spéiriúil und auf das deutsche schön. Doch keines von beiden schien mir als Name zu passen, ganz abgesehen davon, dass ich Schwierigkeiten mit der korrekten Aussprache hatte. Deshalb suchte ich weiter: Linda, Hermosa, Bonita – ich kannte die spanischen Wörter für Schönheit, und trotzdem schien mir keines passend für dieses winzige Wesen. Dann stieß ich auf das italienische bella. Ich blickte hinunter auf den kleinen Welpen und fragte zum Spaß: »Was hältst du davon?« Als sie daraufhin an meinem Computerkabel herumkauen wollte, musste ich lachen: »Bella, aus!«
So bekam Bella ihren Namen.
Am Morgen nach unserem Besuch bei der Tierärztin lasse ich mir einen Termin für die Amputation von Bellas Bein geben. Die Operation ist in zwei Tagen angesetzt, uns bleibt also noch ein wenig Zeit. Am selben Nachmittag wollen wir zum Spielen in den Park gehen. Es ist ein besonders freundlicher Tag Anfang Mai, das Gras ist vom Frühlingsregen saftig grün. Die Sonne Nebraskas...