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E-Book

Berlin 1936

Sechzehn Tage im August

AutorOliver Hilmes
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641156862
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Diktatur im Pausenmodus: Stadt und Spiele im Sommer 1936
Im Sommer 1936 steht Berlin ganz im Zeichen der Olympischen Spiele. Zehntausende strömen in die deutsche Hauptstadt, die die Nationalsozialisten in diesen sechzehn Tagen als weltoffene Metropole präsentieren wollen. Oliver Hilmes folgt prominenten und völlig unbekannten Personen, Deutschen und ausländischen Gästen durch die fiebrig-flirrende Zeit der Sommerspiele und verknüpft die Ereignisse dieser Tage kunstvoll zum Panorama einer Diktatur im Pausenmodus.

Die »Juden verboten«-Schilder sind plötzlich verschwunden, statt des »Horst-Wessel-Lieds« klingen Swing-Töne durch die Straßen. Berlin scheint für kurze Zeit eine ganz normale europäische Großstadt zu sein, doch im Hintergrund arbeitet das NS-Regime weiter daran, die Unterdrückung zu perfektionieren und das Land in den Krieg zu treiben.

In »Berlin 1936« erzählt Oliver Hilmes präzise, atmosphärisch dicht und mitreißend von Sportlern und Künstlern, Diplomaten und NS-Größen, Transvestiten und Prostituierten, Restaurantbesitzern und Nachtschwärmern, Berlinern und Touristen. Es sind Geschichten, die faszinieren und verstören, überraschen und bewegen. Es sind die Geschichten von Opfern und Tätern, Mitläufern und Zuschauern. Es ist die Geschichte eines einzigartigen Sommers.

Oliver Hilmes, 1971 geboren, wurde in Zeitgeschichte promoviert und arbeitet als Kurator für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Seine Bücher über widersprüchliche und faszinierende Frauen 'Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel' (2004) und 'Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner' (2007) wurden zu großen Verkaufserfolgen. 2011 folgte 'Liszt. Biographie eines Superstars', danach 'Ludwig II. Der unzeitgemäße König' (2013) sowie 'Berlin 1936. Sechzehn Tage im August' (2016), das in viele Sprachen übersetzt und zum gefeierten Bestseller wurde. Zuletzt erschienen 'Das Verschwinden des Dr. Mühe. Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre' (2019) und 'Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe' (2023).

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Leseprobe

In der Suite von Henri de Baillet-Latour klingelt leise das Telefon. »Exzellenz, es ist sieben Uhr dreißig«, meldet sich der Portier. »Bon«, antwortet der Graf, »ich bin schon wach.« Die Mitarbeiter des Hotel Adlon, wo Baillet-Latour residiert, behandeln ihren Gast mit vorzüglicher Hochachtung, denn Henri de Baillet-Latour ist so etwas wie ein Regierungschef. Allerdings beherrscht er kein Land, er steht keiner Republik vor und ist nicht der Regent einer Monarchie. Henri Comte de Baillet-Latour ist der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Wenn heute pünktlich um 17.14 Uhr im Berliner Olympiastadion die Olympische Flagge gehisst werden wird, übernimmt der sechzigjährige Belgier für sechzehn Tage gewissermaßen die Lufthoheit über die Berliner Sportstätten.

Bis dahin hat Baillet-Latour ein straffes Programm zu absolvieren: Er wird mit seinen Kollegen des Olympischen Komitees einen Gottesdienst besuchen, eine Ehrenformation der Wehrmacht abschreiten und schließlich in der Neuen Wache, dem Ehrenmal für die Gefallenen des Weltkriegs, einen Kranz niederlegen. Im Anschluss an die militärische Zeremonie wird Hermann Göring in seiner Funktion als Preußischer Ministerpräsident die Mitglieder des IOC willkommen heißen.

Mittlerweile ist es 8 Uhr, und auf dem Pariser Platz vor dem Hotel Adlon erklingt Marschmusik, die mehrfach von Weckrufen sowie dem Lied »Freut euch des Lebens« unterbrochen wird. Das »Große Wecken«, wie das Ritual heißt, ist eine der vielen Ehrerbietungen, die die Nationalsozialisten dem IOC entgegenbringen. Während Henri de Baillet-Latour am Fenster seiner Suite steht und das Treiben beobachtet, kann er sich wie ein Staatsoberhaupt fühlen, mit dem Adlon als Regierungssitz. Das IOC residiert in bester Nachbarschaft: Dem Hotel gegenüber liegt die französische Botschaft, zur linken Seite erstrahlt das Brandenburger Tor, und direkt neben Berlins berühmtestem Wahrzeichen befindet sich das Palais Blücher, das den Vereinigten Staaten von Amerika gehört. Eigentlich sollte das weitläufige Gebäude die amerikanische Botschaft beherbergen, doch der Komplex ist 1931 ausgebrannt, und der Wiederaufbau zieht sich hin. Das Adlon wiederum grenzt zum Pariser Platz an die altehrwürdige Akademie der Künste und zur Wilhelmstraße an das Palais Strousberg, wo die englische Botschaft ansässig ist.

Henri de Baillet-Latour hat zwischenzeitlich das Frühstück beendet und macht sich bereit, das Adlon zu verlassen. Zur Feier des heutigen Tages kleidet sich der Comte besonders festlich und trägt graue Hosen, einen dunklen Cutaway, Schuhe mit Gamaschen, Zylinder sowie eine prächtige Amtskette. Als Joseph Goebbels ihn so sieht, schüttelt er innerlich den Kopf. In sein Tagebuch notiert er: »Die Olympianer sehen aus wie Direktoren von Flohzirkussen.«

Mit Pauline Strauss ist nicht gut Kirschen essen. Frau Pauline ist die Gattin des berühmten Komponisten Richard Strauss und bringt es fertig, wildfremden Menschen die schlimmsten Dinge ins Gesicht zu sagen. Doch auch Freunde und Bekannte sind vor ihrer legendären Taktlosigkeit nicht sicher. »Frau Strauss, die beim Tee noch, gegen ihre Gewohnheit, ganz liebenswürdig gewesen war, hatte jetzt wieder einen ihrer halbhysterischen Unartigkeits-Anfälle«, erinnert sich Harry Graf Kessler an eine Begegnung in einem Berliner Nobelrestaurant. Die Tische sind mit teurem Porzellan, edlem Silberbesteck und geschliffenen Gläsern bestückt, livrierte Kellner bewegen sich nahezu lautlos durch den Raum, und die Gäste unterhalten sich in gedecktem Ton. Nicht so Pauline Strauss. Als Kessler eine offensichtlich nicht sonderlich interessante Anekdote über einen berühmten Pariser Gastronom erzählt, fährt Frau Strauss lärmend dazwischen: »Der ist ja längst tot, längst tot, bis Sie die Geschichte zu End’ haben! Na ja, wenn Einer eine so fade Geschicht’ so langsam erzählt! Seht Euch lieber das Mastschwein da an …« Die Gäste sehen sie erstaunt an. »Na ja, das Mastschwein, den dicken Offizier da am Tisch«, erklärt Frau Strauss und zeigt mit dem Finger auf einen ziemlich korpulenten Leutnant an einem Nebentisch. »Na was denn? Ich will doch nur ein bisschen mit dem Mastschwein da kokettieren«, wiederholt sie und fixiert den Leutnant dabei unablässig, bis sie triumphierend ausruft: »Nun seht doch, jetzt wirft mir das Mastschwein ganz verliebte Blicke zu. I glaub wirklich, er kommt und setzt sich an unseren Tisch.« In der Runde herrscht Entsetzen, der ebenfalls anwesende Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal starrt verstört auf seinen Teller, und Richard Strauss wird abwechselnd weiß und rot. Doch Strauss schweigt zu dem skandalösen Auftritt seiner Gattin, wohl um noch Schlimmeres zu verhindern. Sie soll ihm einmal, als er ihr bei einer ähnlichen Szene Vorwürfe machte, vor allen Anwesenden laut zugerufen haben: »Noch ein Wort, Richard, und ich geh’ auf die Friedrichstrass’ und nehm mir den Ersten Besten.«

Kein Wunder, dass Pauline Strauss der Schrecken aller Hotelportiere, Kellner und Zimmermädchen ist. Gestern Vormittag sind die Eheleute Strauss in Begleitung ihrer Haushälterin Anna im Hotel Bristol eingetroffen. Das Bristol befindet sich nur einen Steinwurf vom berühmten Hotel Adlon entfernt auf Berlins Prachtboulevard Unter den Linden. Selbstverständlich bietet das Haus sämtliche modernen Annehmlichkeiten. So sind die geräumigen Zimmer und Suiten mit edlem Mobiliar eingerichtet und verfügen über eigene Badezimmer. Darüber hinaus besitzt das Hotel besonders schöne Gesellschaftsräume: Das Schreib- und Lesezimmer etwa ist im gotischen Stil gehalten, während der Teesalon mit schweren englischen Ledermöbeln ausgestattet ist.

Richard Strauss hat kaum Gelegenheit, den Komfort seiner Herberge zu genießen. Gestern war er mit Proben beschäftigt, heute Nachmittag steht die Uraufführung einer neuen Komposition auf dem Programm, und morgen Vormittag wird er Berlin schon wieder in Richtung Bayern verlassen. Als einer der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart ist Richard Strauss ohnehin eine vielbeschäftigte Person: Im März absolvierte er eine Konzerttournee durch Italien und Frankreich, die ihn bis nach Marseille führte, im April dirigierte er in Paris und Köln und im Juni in Zürich sowie erneut in Köln. Darüber hinaus findet der zweiundsiebzigjährige Strauss auch immer wieder Zeit, neue Werke zu schreiben. Das Stück, das in wenigen Stunden uraufgeführt werden wird, heißt Olympische Hymne und ist eine Auftragskomposition des Olympischen Komitees für die heutige Eröffnungsfeier der Spiele. Strauss behauptet von sich, alles in Töne setzen zu können. »Was ein richtiger Musiker sein will«, spottet er einmal, »der muss auch eine Speisenkarte vertonen können.« Komponieren ist für Strauss immer auch eine Frage des Fleißes und der Disziplin. Mit stoischer Ruhe sitzt er an seinem Schreibtisch und entwirft Werk um Werk. Theodor W. Adorno wird Jahre später das bitterböse Wort von der Komponiermaschine prägen: Strauss habe die Moderne verraten und sich dem breiten Publikum angebiedert – er sei ein Meister der Oberfläche, der komponiere, was sich für bare Münze verkaufen lässt.

Die Olympische Hymne für Chor und großes Sinfonieorchester gehört offensichtlich in die Kategorie Fleißarbeit, denn Strauss interessiert sich mitnichten für Sport. Skifahren sei eine Tätigkeit für norwegische Landbriefträger, lautet sein Urteil. Als er im Februar 1933 erfährt, dass sein Wohnort Garmisch zur Finanzierung der Olympischen Winterspiele eine Sonderabgabe plant, protestiert Strauss energisch. An den Gemeinderat schreibt er: »In der Annahme, dass die neue Bürgersteuer zur Deckung der Unkosten des Sportunfugs und der vollständig unnötigen Olympiapropaganda dient, erhebe ich dagegen Einspruch, ersuche, da ich keinerlei Sportanlage: Bobbahn, Skisprunghügel etc. benütze, auch auf die Triumphbögen am Bahnhof gerne verzichte, mich von der Steuer zu befreien und diejenigen damit zu belasten, die ein Interesse an Olympiaden und derartigen Schwindel haben. Mein Portemonnaie ist genügend belastet durch Staatssteuern für Faulenzerunterstützungen, soziale Fürsorge genannt und durch den in Garmisch besonders grassierenden Hausbettel.«

Dieser Protest hält Richard Strauss aber nicht davon ab, für die Komposition einer Hymne, mit der dieser »Sportunfug« gefeiert werden soll, ein Honorar von zehntausend Reichsmark zu verlangen – der Scheck heiligt die Mittel. Doch diese erhebliche Summe übersteigt bei weitem das Budget des Olympischen Komitees, sodass Strauss nach längeren Verhandlungen auf eine Vergütung ganz verzichtet. Es verwundert also kaum, dass er dieser Arbeit mit wenig Begeisterung nachgeht. »Ich vertreibe mir in der Adventslangeweile die Zeit damit, eine Olympiahymne für die Proleten zu componieren«, schreibt er im Dezember 1934 an Stefan Zweig, »ich der ausgesprochene Feind und Verächter des Sports. Ja: Müßiggang ist aller Laster Anfang.«

Die Textvorlage wurde mittels eines Preisausschreibens erkoren und stammt von dem arbeitslosen Schauspieler und Gelegenheitsdichter Robert Lubahn. Als Joseph Goebbels moniert, dass Lubahns Gedicht zu wenig dem Geist des »Dritten Reiches« entspräche, werden einige Textstellen verändert. Aus Lubahns Zeile »Friede soll der Kampfspruch sein« wird »Ehre soll der Kampfspruch sein«. Die Formulierung »Rechtsgewalt das Höchste sein« wird kurzerhand zu »Eidestreu das Höchste sein« verändert. Robert Lubahn muss sich wohl oder übel fügen, das Olympische Komitee als Auftraggeber der Hymne legt keinen Widerspruch ein – und Richard Strauss ist es vermutlich egal.

Unmittelbar nach der Fertigstellung des etwa...

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