Roland Geisselhart: Wie ich zum Gedächtnistraining kam
Mit 16 Jahren hat sich mein bis dahin bequemes Schüler-Leben drastisch verändert: Wir bekamen Französisch als zweite Fremdsprache – bei einem Französisch-Lehrer, der frisch motiviert von der Universität kam und mich und meinen Freund Helmut sofort als freizeitorientierte Lern-Außenseiter identifizierte.
Ich war damals Bodybuilder und Kanufahrer und mein Freund gehörte zu den besten Tennisspielern in der Region. Unsere gesamte bis dahin üppige Freizeit verbrachten wir mit Sport, Jiu-Jitsu und Yoga. Schule war bis dato Nebensache gewesen, und irgendwie hatte der neue Lehrer das sofort gemerkt:
Wir kamen öfter dran als andere, fanden uns häufig vorne an der Tafel wieder, mit einem Stück Kreide in der Hand – und einer völligen Leere im Kopf: zu wenig gelernt! Schließlich begannen wir sogar vor lauter Stress, regelmäßig Hausaufgaben zu machen, was vorher nur in Ausnahmefällen vorgekommen war.
Bis zu dieser Zeit hatte ich geglaubt, eine perfekte körperliche Verfassung sei das, worauf es im Leben vor allem ankommt, doch nun nahm ich sogar die Französisch-Vokabeln mit zum Sport, um jede Pause zum Lernen zu nutzen – diese grundsätzliche Veränderung meiner Lebenseinstellung beschäftigte mich sehr.
Ich begann nach Lernhilfen zu suchen, blieb aber zunächst erfolglos. Bis ich eine Anzeige in der Zeitschrift Reader’s Digest las, in der ein amerikanischer Gedächtnisakrobat zwei Bücher mit Gedächtnistechniken anbot. Im Folgesatz der Anzeige stand: »Es hilft auch in der Schule.« Da meine Mutter sehr skeptisch war und mir das Geld dafür nicht geben wollte (24,50 DM pro Buch war damals eine große Summe), ging ich in den Herbstferien zu einem niedrigen Stundenlohn beim benachbarten Bauern zum Äpfelauflesen, und nach den Ferien kaufte ich mir das erste der beiden Bücher.
Jetzt begann das Abenteuer. Bereits am ersten Abend machte ich eine Übung nach der anderen. Als eifriger Kinogänger und Comicleser konnte ich die Anleitungen zum Visualisieren und das Vorstellen von inneren Bildern gut nachvollziehen. Als ich mir 16 Begriffe merken konnte, sprang ich noch mal aus dem Bett, lief zu meiner Mutter und bat sie, mir 16 Gegenstände zu diktieren und selbst aufzuschreiben. Ich konnte sie alle in der richtigen Reihenfolge wiederholen, und meine Mutter war recht erstaunt über dieses Ergebnis. Ich selbst übrigens auch …
Es sollte allerdings noch Monate dauern, bis der Erfolg auch in der Schule sichtbar wurde, denn ich stellte schnell fest, dass man sich Gegenstände wesentlich leichter merken kann als französische Vokabeln. Doch meine Mutter unterstützte mich, indem sie mir jeden Tag 20 Wörter diktierte, die ich dank der Visualisierungsübungen aus meinem Buch immer leichter und souveräner erinnern und wiedergeben konnte.
Nach ein paar Wochen erkannte ich, dass das genauso gut mit kleinen Sätzen funktionierte, und fortan nutzte ich mein Können, um bei den gelegentlichen Besuchen im Familien- und Bekanntenkreis das eine oder andere zusätzliche Taschengeld herauszu-schlagen.
Meine Mutter hielt meine Fähigkeit, mir Dinge bildhaft vorzustellen, für angeboren. Ich glaube eher, dass meine Begeisterung für Comics und Action-Filme mir damals die Grundlage lieferte: Ich war begeisterter Kinogänger, musste aber die 5 km Entfernung zum Kino zu Fuß gehen, und so gewöhnte ich mir bald an, auf dem etwa einstündigen Heimweg alle wichtigen Szenen des Films noch einmal in meiner Fantasie Revue passieren zu lassen. Mit so mancher Filmsequenz, die ich mir dadurch einprägte, motivierte ich mich dann später beim Bodybuilding und Kanutraining, ganz intuitiv.
Trotz allem war mir noch nicht klar, wie ich meine neuen Kenntnisse für Französisch einsetzen konnte. Ich lernte noch nach herkömmlichen Methoden und musste aus Zeitgründen auf so manche Kanu-Regatta verzichten.
Zu Weihnachten schenkte meine Mutter mir das zweite Buch. Ich verschlang es begeistert, und noch in den Ferien schaffte ich es, mir 100 Gegenstände zu merken. Ich war stolz – und wurde wieder leichtsinnig.
Das heißt, ich hörte wieder auf, Hausaufgaben zu machen. In allen Fächern. Bis eines Morgens die Kameraden fragten, ob ich für die bevorstehende Arbeit in Geschichte gelernt hätte. Hatte ich natürlich nicht. Es ging um Jahreszahlen und Ereignisse aus der Zeit um 1500. Und ich mochte die Geschichtslehrerin, wollte mich also nicht blamieren.
In der Pause vor der Geschichtsstunde setzte ich mich mit meinem Freund Helmut zusammen, der die Bücher und Symbole mittlerweile auch kannte, und wir machten uns an die Arbeit: Die Symbole für die Zahlen von 1 bis 100 waren uns geläufig. Wir halbierten die vierstelligen Jahreszahlen zu jeweils zwei zweistelligen Zahlen und kombinierten die zugehörigen Bilder zu einer kleinen Geschichte, in die wir anschließend noch das entsprechende historische Ereignis einfügten. So lernten wir rasch die sechs Seiten Unterrichtsstoff, die wir für die Klassenarbeit hätten vorbereiten sollen.
Die Arbeit wurden geschrieben, und mein Freund und ich waren unter den Besten. Dieser Erfolg machte mich übermütig. An einem der folgenden Tage bat ich unseren Klassenprimus, mir die Französischvokabeln vorzulesen, die wir zur nächsten Stunde lernen sollten. Er las mir die 18 Wörter mit der jeweiligen deutschen Bedeutung langsam vor – und ich schaffte es tatsächlich, sie alle korrekt und in der gleichen Reihenfolge wiederzugeben.
Ich erinnere mich heute noch genau daran, wie unser Klassenprimus kreidebleich wurde. Innerlich wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Er war neugierig geworden und wollte die Methode auch kennenlernen – und er bot mir an, dass ich neben ihm sitzen durfte. Das war für mich in der Folgezeit sehr, sehr nützlich und rettete mir vermutlich sogar meinen Schulabschluss …
Nun galt es noch, vor dem Französisch-Lehrer zu bestehen. Dieser hatte die Angewohnheit, am Ende seiner Stunde etwa 20 Vokabeln auf Französisch und Deutsch vorzulesen und anschließend – mit erhobenem Zeigefinger – zu drohen: »Die könnt ihr aber bis morgen!« Mittlerweile gelang es Helmut und mir, eine solche Aufzählung zeitgleich abzuspeichern und in der gleichen Reihenfolge wiederzugeben. So klappten wir ganz lässig das Französischbuch zu und meldeten uns, ob wir die vorgelesenen Vokabeln auch sofort wiederholen dürften.
Obwohl wir gehöriges Lampenfieber hatten, gelang es uns auf Anhieb. Unser Lehrer war verwirrt und konnte es kaum glauben: ausgerechnet wir beiden, die er von Anfang an als Faulenzer eingeschätzt hatte? Wir sollten freiwillig gelernt haben? Das wolle er genauer wissen: Am nächsten Tag gebe es ein Diktat.
Wir vermuteten, dass er uns einen bestimmten Text aus der eben gelernten Lektion diktieren wollte, und so setzten wir uns am Nachmittag hin und bereiteten uns vor: Wir nummerierten die einzelnen Sätze des Textes und prägten sie uns genau ein. Dann überprüften wir unsere Erinnerung, schrieben die Sätze sofort hin und korrigierten kleine Fehler und Auslassungen. Es war mühsam und zeitaufwendig, doch am Abend konnten wir uns an den Text wortgetreu erinnern.
Das Diktat kam erst am übernächsten Tag, und wir investierten noch einen halben Nachmittag, um das Gelernte auch langfristig im Gedächtnis zu verankern. Dann kam die beste Situation meiner ganzen Schulzeit:
Der strenge Französischlehrer diktierte tatsächlich genau den Text, den wir gelernt hatten. Als er etwa zwei Drittel vorgelesen hatte, gaben Helmut und ich unsere Blätter ab – mit dem vollständigen niedergeschriebenen Text. Unser Lehrer war sehr überrascht, ließ uns aber nicht gehen, sondern durchsuchte uns gründlich nach Spickzetteln oder anderen Hilfsmitteln. Natürlich fand er nichts – und von diesem Tag an ließ er uns tatsächlich in Ruhe. Und wir versprachen einander, ihm niemals zu verraten, wie wir das geschafft hatten.
Auch in meiner späteren Lehrzeit konnte ich meinen Lehrherrn bei festlichen Anlässen mehrfach mit ähnlichen Vorführungen überraschen, und er pflegte zu sagen: »Der Geisselhart hat eine außergewöhnliche mathematische Begabung, aber ob er das beruflich jemals anwenden kann, das steht noch in den Sternen.«
Nach meinem Schulabschluss absolvierte ich zunächst eine »normale« Ausbildung und arbeitete bei einem Freund in Stuttgart als rechte Hand des Verwaltungsleiters einer Klinik. Es war ein ruhiger Job, für mich zu ruhig, sodass ich mir bald noch etwas zur Ergänzung suchte und einem »inneren Ruf« folgte: Ich wurde Yogalehrer und unterrichtete Gruppen.
Dabei beschäftigte ich mich viel mit asiatischer Philosophie und mit Entspannungstechniken. Die Bilder, die wir in den Kursen verwendeten, waren oft so »realistisch«, dass die Teilnehmer sich fühlten, als wären sie tatsächlich an einem schönen Ort in der Natur. Wir schlugen also sozusagen eine innere Brücke zwischen...