Ein Plädoyer für die ärztliche Beihilfe zum Suizid
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Michael de Ridder
Es ist ein bei vielen Ärzten verbreitetes Missverständnis, ihren Auftrag allein darin zu sehen, Krankheiten zu heilen, Leben zu erhalten und zu verlängern. Diesem kurativen Auftrag des Arztes steht ein zweiter, nicht minder bedeutsamer zur Seite: wenn die verfügbaren Mittel zur Heilung und Lebensverlängerung im Zustand terminaler Erkrankung oder schwerster Versehrtheit nicht mehr von einer medizinischen Indikation und/oder vom Patientenwillen getragen sind und als Behandlungsauftrag ein friedliches Lebensende respektive Sterben in den Vordergrund tritt. Dieser palliative Auftrag steht ethisch gleichrangig neben seinem kurativen Pendant. Beide Anteile des ärztlichen Auftrags verfolgen zwar unterschiedliche Therapieziele, gehorchen jedoch in gleicher Weise dem Wohl des Patienten, dem ausnahmslos jedes ärztliche Entscheiden und Handeln verpflichtet ist. Gleichwohl neigen Ärzte zu einer Minderbewertung des palliativen Auftrags und dazu, sich selbst aus der Verantwortung für den Patienten zu entlassen und «austherapierte» Schwerstkranke nachgeordneten Einrichtungen der Pflege und der Sorge der Angehörigen zu überlassen, nicht selten begleitet von der Aussage: «Wir können nichts mehr tun.» Ein niederschmetterndes Urteil, das – Patienten oder Angehörigen gegenüber ausgesprochen – in meinen Augen einen schweren ärztlichen Kunstfehler darstellt. Medizin kann und muss immer etwas tun. Wenn nicht mehr im Sinne der Gesundung und Lebensverlängerung, dann im palliativen Sinne der Leidens- und Symptomlinderung.
Doch so hoch der Wert der Palliativmedizin auch zu veranschlagen ist und die Ausweitung ihrer Angebote allein eine Frage der Zeit sein mag, in ihrer klassischen Ausprägung stößt auch sie an Grenzen. Sei es, dass ihre Mittel versagen oder diese in terminaler Erkrankung zu kurz greifen. Sei es, dass ein Patient eine palliativmedizinische Behandlung aus plausiblen Gründen ablehnt, denn niemand kann genötigt werden, sie zu akzeptieren. Selbst von Palliativmedizinern wie den Verfassern der «Bibel der Palliativmedizin», dem «Oxford Textbook of Palliative Medicine», wird ja zugestanden, dass Palliativmedizin niemals alle Einbußen an positiven Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten für alle betroffenen Patienten kompensieren kann, zumal für Schwerstversehrte nicht, die eine unter Umständen sich nach Jahrzehnten bemessende Lebensperspektive vor sich haben.
Wie mitfühlend ist die Gesellschaft?
Die zentrale Frage lautet also: Sind wir als Gesellschaft mitfühlend genug, einsichtsfähigen Menschen, die in terminaler, schwerster aussichtsloser Krankheit oder Versehrtheit maximale Zuwendung und Therapie erfahren und dennoch weiter leiden, zu gestatten, auf ihren klar und nachhaltig geäußerten Wunsch hin mit ärztlicher Hilfe ihr Leben zu beenden?
Solche aussichtslos kranken und schwer leidenden Patienten der organisierten oder gar kommerzialisierten Sterbehilfe dilettierender Nicht-Ärzte vom Schlage des ehemaligen Hamburger Justizsenators Roger Kusch (Dr. Roger Kusch Sterbehilfe e.V.) oder des Schweizer Sterbehelfers Ludwig Minelli (Dignitas) zu überlassen, die nicht davor zurückschrecken, in klandestinen Pensionen, auf Parkplätzen und mittels eigens konstruierter Selbsttötungsmaschinen oder Helium gefüllter Tüten Terminalkranke vom Leben zum Tode zu befördern, dürfen die deutschen Ärzte nicht zulassen. Im Gegenteil: Sie haben ihre Arme für diese Menschen zu öffnen, denn auch sie sind ihre Patienten. Ihrem Leiden ist zwar mit konventionellen medizinischen Mitteln offensichtlich nicht beizukommen, gleichwohl haben sie ein zumindest moralisches Anrecht auf angemessene Hilfe. Dabei haben Ärzte allerdings strenge Maßstäbe anzulegen, weil auch die Suizidassistenz einen Eingriff darstellt. Dieser bedarf wie jede ärztliche Behandlung einer eindeutigen Indikationsstellung und der frei verantwortlichen Entscheidung des Patienten.
Um Missverständnissen schon hier vorzubeugen: Ich selbst bin Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin und ein überzeugter Vertreter palliativmedizinischer Vorgehensweisen. Ich trete für ihre nachhaltige Ausweitung und Stärkung ein und würde in jedem Einzelfall alles dafür tun, einen aussichtslos kranken Patienten von ihrer Reichweite und ihrem Wert zu überzeugen. Aber: Das Bemühen um bestmögliche Palliativmedizin schließt die Möglichkeit der ärztlichen Beihilfe zum Suizid nicht gleich aus; ebenso wenig wie Katheter gestützte kardiologische Interventionen (z. B. Stentimplantationen) die Verfügbarkeit von Herzverpflanzungen ausschließen.
Denn neben all ihren Errungenschaften hat die Medizin im Laufe der letzten 50 Jahre beängstigende und grausame Existenzweisen hervorgebracht, in die Menschen ohne sie nie geraten wären, weil sie zuvor eines natürlichen Todes gestorben wären. Hierzu zählen beispielsweise Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder beatmete Patienten mit hoher Querschnittslähmung. Unter ihnen finden sich zwar viele, die ihr Schicksal, flankiert von Zuwendung und weitreichenden technischen Hilfen, anzunehmen lernen. Doch manche unter ihnen vermögen es eben trotz größtmöglicher menschlicher Zuwendung und optimaler medizinischer Versorgung nicht, Quellen des Lebenssinns in sich zu erschließen oder Energien zu mobilisieren, die sie Schicksalsschlägen standhalten lassen. Auch Menschen, die sich im Terminalstadium einer Erkrankung befinden, können plausible Gründe vorbringen, selbst aus dem Leben scheiden zu wollen. Nachvollziehbar für jeden denkenden und berührbaren Menschen verlangen sie, zu sterben, und sie wünschen, dass Ärzte ihnen hierbei helfen. Ein Fallbeispiel soll die Ausweglosigkeit und Qual solcher Patienten verdeutlichen.
Wenn Ersticken droht
Konrad W. erhält im Alter von 60 Jahren die Diagnose eines inoperablen Rachentumors. Durch Bestrahlung und Chemotherapie lässt sich sein Wachstum mehr als ein Jahr in Schach halten. Der Familienvater und Buchhändler stellt sich vor, so lange leben zu wollen, wie seine Symptome zu kontrollieren sind. Dann will er so rasch und schmerzfrei wie möglich aus dem Leben scheiden, immer den Leidensweg eines Freundes vor Augen, der an einem in die Luftröhre durchgebrochenen Speiseröhrenkrebs letztlich erstickte. Der Tumor wächst jedoch rapide weiter. Konrad W. will unter keinen Umständen erneut in die Klinik. Er wünscht im Kreise seiner Familie zu sterben. Ein niedergelassener Onkologe und ein Pflegeteam versorgen ihn zu Hause; steigende Morphin- und Psychopharmaka-Dosen sind notwendig, um Angst und Schmerzen erträglich zu halten. Der Tumor beginnt unkontrolliert zu bluten: Todesangst und Erstickungspanik lassen sich durch nichts eindämmen. Er fleht geradezu darum, auf schnellstem Wege sterben zu dürfen. Die ärztlich angebotene terminale Sedierung lehnt er ab, weil dies zu lange dauere, das Ersticken nicht verhindern könne und er nicht zu einer Zumutung für seine Familie werden wolle. Sein Arzt stellt ihm schließlich eine tödliche Dosis mehrerer Medikamente bereit, lässt sich unter dem Zeugnis der Familie von seiner Garantenpflicht entbinden und verabschiedet sich – notfalls sei er zu erreichen. Noch am selben Tag verstirbt Konrad W. tief bewusstlos und friedlich im Kreise seiner Familie.
Ist es wirklich denkbar, dass ein Richter oder ärztlicher Standesvertreter den Wunsch dieses aussichtslos Kranken und das Vorgehen seines Arztes kritisiert, gar verurteilt? Ist es nicht vielmehr beschämend, dass der Arzt glaubte, seinen Patienten verlassen zu müssen, um sicher zu sein, sich seiner Garantenpflicht zu entledigen? Ist es vertretbar, dass die Landesärztekammern Ärzten, die ihren Patienten in einem derartig verzweifelten Sterbeprozess die verlangte Hilfe zur Selbsthilfe geben würden, mit Approbationsentzug und Zwangsgeldern drohen?
Alle Voraussetzungen und Bedingungen für einen verantwortbaren ärztlich assistierten Suizid waren erfüllt: Der Patient litt an einer aussichtslosen und unbehandelbaren Erkrankung; seine Lebensqualität war aufs Schwerste eingeschränkt. Er äußerte seinen Sterbewunsch frei verantwortlich und nachhaltig; er war nicht psychisch krank und über alle Behandlungsalternativen hinreichend aufgeklärt. Kurz: Er litt in terminaler Erkrankung unsäglich, trotz maximaler Behandlung und Zuwendung. Ärztliche Hilfe zum Suizid war bei diesem Patienten nicht allein ethisch gerechtfertigt; sie war, nach meiner Auffassung, ethisch geboten.
Gerade an diesem extremen Beispiel wird deutlich: Eine Normierung des Sterbeprozesses kann und darf es nicht geben, wie es ja auch die Bundesärztekammer und ihr Präsident nicht müde werden zu betonen. Niemand, weder die Kirchen noch Hospizverbände haben die «Richtlinienkompetenz», das «gute Sterben» und das, was unter Patientenwohl zu verstehen ist, zu definieren, es sei denn der Schwerstkranke oder Sterbende selbst. Auch die verfasste Ärzteschaft hat sich in dieser Frage zurückzuhalten. Sie hat vielmehr denen, die sie vertritt, den Ärzten nämlich, ihre freie...