Einleitung
Was, ausgerechnet die Schweiz? Besonders soll sie sein? Ja, vielleicht besonders gut darin, Schwarzgeld zu verstecken und Steuerhinterzieher zu decken. Ganz zu schweigen von ihrer besonders ausgeprägten Fähigkeit, die Augen vor den eher unansehnlichen Episoden ihrer Vergangenheit zu verschließen. Na, und wie sie mit Ausländern umgeht … Die dürfen noch nicht mal ins Freibad. Unerhört!
Kritik an der Schweiz war zu allen Zeiten wohlfeil. Was hat man sie nicht alles geschimpft – Trittbrettfahrer, Rosinenpicker, Kriegsgewinnler. Zuweilen fragt man sich, was erschreckender ist: Wie hasserfüllt die Kritik ausfällt, oder auf welch geringem Kenntnisstand sie beruht.
Natürlich ist die Schweiz nicht frei von Fehlern oder Schuld. Schweizer sind nicht perfekt, und unfehlbar ist ja nicht einmal mehr der Papst. Schweizer waren nie die ganz bösen Schurken, die fremde Völker unterjocht, ermordet oder eingekerkert haben. Aber sie waren auch nie die Engel, als die sie als Erfinder von Milchschokolade, Älplerromantik und Rotem Kreuz gern verklärt werden.
Wahr ist aber auch: Obwohl die Schweiz so bekannt ist, dass die meisten Erdenbürger von ihr gehört haben dürften, haben noch nicht einmal ihre nächsten Nachbarn eine Vorstellung davon, wie sie funktioniert und was sie ticken lässt. Entweder süßliches Heidi-Idyll oder steinerner Hort habgieriger Geld-Gnome: Zwischen diesen Extremen pendelt die Wahrnehmung.
Dabei hat die Schweiz viel mehr zu bieten als Uhren und Schokolade, Nummernkonten und Rohstoffhändler sowie eine majestätische Bergwelt, in der man für fürstliche Summen Ski fahren oder wandern kann. Ob Lebensart, Lebensqualität oder Lebensstandard: Die Schweiz und die Schweizer liegen bei allen einschlägigen internationalen Umfragen an der Spitze. Konsens, Kommerz, Konfliktvermeidung: Sie haben alles gut im Griff.
Deshalb lohnt es sich, über Rhein, Rhone und den Tessin hinweg hinter die Grenzen der Alpenrepublik zu lugen, um sich etwas von deren Bewohnern abzugucken – von ihrem Fleiß und ihrem Freiheitsdurst, von ihrer Innovationskraft und ihrem Individualismus, von ihrem Gemeinsinn und ihrer Gesetzestreue, von ihrem Sinn für Konsens und Kompromiss, und nicht zuletzt von ihren Institutionen und ihrem politischen System.
Denn warum sollen nur Schweizer Wählerinnen und Wähler an der Wahlurne Gesetze absegnen oder auf den Weg bringen dürfen? Warum haben nur sie das Recht, selbst zu entscheiden, wie viel Steuern sie zahlen wollen und wofür der Staat ihr Geld ausgeben darf? Sind Deutsche, Franzosen oder Amerikaner unmündig oder unreif? Oder misstraut ihnen die eigene Regierung?
Warum exportiert dieser rohstoffarme Kleinstaat konkurrenzlose Spitzenprodukte von Käse über Turbinen und Textilien bis zu Nanotechnologie und Dienstleistungen, derweil eine Großmacht wie Russland nicht einmal einen formschönen und funktionierenden Toaster hervorbringt? Haben Russen zwei linke Hände? Oder erstickt die eigene Regierung Tatendrang und Unternehmensgeist ihrer Bürger?
Warum schaffen es Schweizer, vier Religionen, vier Volksgruppen mit vier Sprachen und 26 verbissen auf ihre Eigenständigkeit bedachte Kleinstaaten friedlich und zum gegenseitigen Vorteil unter einem Dach zusammenzuhalten, während sich in Belgien oder auf dem Balkan die Völker mal verbal, mal handgreiflich an die Kehle gehen? Schlummert in Flamen, Wallonen, Serben oder Kroaten ein Aggressivitätsgen? Oder schüren verantwortungslose Politiker nationale Vorurteile?
»Zeit«-Herausgeber Josef Joffe gerät geradezu ins Schwärmen, wenn er von der Schweiz spricht: »Der deutsche Mensch, dessen Staat knapp die Hälfte des Bruttoinlandproduktes kassiert, kommt aus dem Erstaunen nicht heraus: Helvetiens Staatsquote liegt bei einem Drittel, die Staatsschuld bei 35 Prozent vom Wirtschaftsauskommen. Und doch funktioniert die Schweiz mindestens so gut wie Deutschland – und bedeutend besser als Frankreich, Italien und Spanien, von den kleinen Krisenländern zwischen Portugal und Griechenland ganz zu schweigen. Eine perfekte Infrastruktur, eine effiziente, aber nicht aufdringliche Bürokratie, ein niedriger Platz auf der Korruptionsskala, bessere Universitäten als in Resteuropa diesseits von Großbritannien, ein Gesundheitssystem, das nur elf Prozent des BIP verschlingt. Von der Drei-Prozent-Arbeitslosigkeit können alle westlichen Länder nur träumen.« Es gibt vieles, was die Schweizer besser können – auch wenn sie es nicht gerne hören. Wann immer ich bei den Recherchen zu diesem Buch den Titel nannte, prallten meine Gesprächspartner zurück. Besserkönner, das erinnerte sie zu sehr an Besserwisser, und die mag niemand, schon gar nicht in der Schweiz, wo man diese nörgelnde, beckmessernde Spezies beim nördlichen Nachbarn verortet.
Die Welt verbessern wollen Schweizer ebenfalls nicht, weshalb ihnen hochfliegende Visionen von Weltverbesserern suspekt sind. Bei denen muss es immer gleich der große Wurf sein, das kosmische Gesamtkunstwerk. Kleinigkeiten wie die menschliche Natur und ihre Schwächen stören. Diese Gattung kennt der Schweizer hauptsächlich von seinem westlichen Nachbarn.
Die Schweiz liegt am Schnittpunkt dieser Denkweisen und Lebensphilosophien. Deshalb überrascht es nicht, dass sie Elemente von beiden verinnerlicht hat. Auch Schweizer können Mitbürgern in nervtötendem Oberlehrerton auseinandersetzen, warum der gelbe Sack nicht in die grüne Tonne gehört und das Fahrrad nicht in den Zwischengang. Auch Schweizer haben weltumspannende Verbesserungskonzepte vorgelegt – säkulare wie Rousseau und Pestalozzi oder religiöse wie Calvin und Zwingli.
Doch grundsätzlich halten Schweizer Besserwisser für arrogante Schnösel und Weltverbesserer für windige Heißluftproduzenten. Die einen schwätzen neunmalklug, bringen aber nichts zuwege. Die anderen schwadronieren so vollmundig, weil sie zu Lebzeiten nie den Beweis für ihre Thesen erbringen müssen.
Das Reden ist des Schweizers Sache nicht, genauso wenig, wie er es schätzt, wenn ihm jemand hineinredet. Er handelt lieber – still und zielstrebig. Er bastelt und er werkelt, er grübelt über Kleinigkeiten, aus denen große Veränderungen erwachsen. Er will ganz einfach Dinge besser machen: Sie sollen besser aussehen, besser schmecken, besser funktionieren. Meist gelingt es ihm, egal ob er eine Uhr zusammenbaut oder eine Verfassung schreibt. Die Dinge haben Hand und Fuß. Und vor allem haben sie Bestand. »Ich rede nicht so gern, ich mache lieber meine Arbeit« – typisch wortkarg formulierte es Albert Kriemler, Chefdesigner des St. Galler Modelabels Akris. Nie würde er damit angeben, dass er Hollywood-Stars und Königinnen einkleidet.
Dass sie anderen Nationen Vorbild sein sollten, einen solch verstiegenen Gedanken würden die bescheidenen Schweizer nie laut äußern. Das heißt nicht, dass sie den Gedanken an die eigene Überlegenheit nicht doch klammheimlich in ihren Köpfen und Herzen bewegen. Eine Art »amerikanisches Sendungsbewusstsein im Bonsai-Format« bescheinigt der Journalist Thomas Widmer seinen Landsleuten. »Sie wollen zeigen, dass sie es besser gemacht haben, alleine, ohne Könige, nur eine Gesellschaft von Bauern, die frei sein wollten.« Insgeheim ist ihnen klar, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn sie ein wenig verschweizern würde.
Jedenfalls wäre dies der Alternative vorzuziehen, nämlich dass die Schweiz europäischer würde, im Sinne einer sich immer selbstherrlicher und zentralistischer gebärdenden Europäischen Union. Diese EU vermittele, so beschreibt es der deutsche Historiker Volker Reinhardt, ein Gefühl von »extra unionem nullus salus«: Es gibt kein Heil außerhalb der Union. »Aber es gibt immer Alternativen, die Schweiz zeigt es – darum ist sie so unbeliebt.«
Ein Europa à la Suisse wäre besser nicht nur für die Schweiz, sondern auch für Europa und seine Bürger. Will die Schweiz in ihrer bisherigen Form überleben, muss sie ihr System exportieren. Sonst würde sie gezwungen, im Interesse eines homogenisierten Europas ihre Besonderheiten dem Mainstream anzupassen. Doch wenn die Demokratie in Europa überleben soll, muss sie Schweizer Besonderheiten übernehmen. Sonst wird sie vom Frust, der Verdrossenheit und dem Überdruss der Bürger an ihren politischen Eliten erstickt.
Mit dem eidgenössischen Politsystem ließe sich das verhindern: direkte Demokratie, Selbstbestimmung von Kommunen, Städten und Regionen, Entprofessionalisierung der politischen Klasse. Schweizer misstrauen Berufspolitikern und jeglicher staatlichen Autorität. Das tun Franzosen, Italiener und andere Nationen zwar auch. Aber ihnen bleibt – außer ohnmächtigem Zorn – nur das Kreuz auf dem Wahlzettel alle vier, fünf Jahre. Schweizer reden immer mit, und sie lassen sich den Mund nicht verbieten.
Die Unterschiede liegen auf der Hand: Die Eidgenossenschaft hat zwar dieselben Probleme wie andere postindustrielle Gesellschaften, aber ihre Lösungsansätze sind oft anders, origineller und deshalb nicht selten beispielhaft – vom Bildungswesen über öffentliche Haushalte und das Steuersystem bis hin zum...